Christiane Wachsmann Unterrichtsbeispiele

Zur Auswahl der Unterrichtsbeispiele

Auf den ersten Blick mag das Übergewicht literarischer Texte in der folgenden Auswahl erstaunen. Das hat weniger mit der Quellenlage zu tun, sondern ist vor allem durch das Vorbild des amerikanischen creative writing für den Unterricht an der HfG bedingt: Neben Vorlesungen zur Publizistik und dem Unterricht in theoretisch-wissenschaftlichen Fächern, die zum Teil durch den allgemeinen Unterricht an der HfG abgedeckt wurden (Soziologie, Politikwissenschaften, Methodologie) spielte an der HfG auch in der Informationsabteilung das praktische Tun eine große Rolle: Über die Beschäftigung mit Literatur und das eigene literarische Schreiben erlernten die Studenten Schreibtechniken und entwickelten eigene Möglichkeiten des Ausdrucks, die sie später auf das fachbezogene Schreiben anwenden konnten.1

 

Die teils düsteren, dem Zeitgeist entsprechend existenzialisch anmutenden Texte, die wir hier vorstellen, darf man keinesfalls als fertige Produkte und schon gar nicht als für die Veröffentlichung gedachte „Werke“ von Schriftstellern in spe begreifen. Es sind überwiegend Übungstexte, Text-Materialien, die geschrieben, zur Diskussion gestellt und überarbeitet wurden, um auf diese Weise Schreiberfahrungen zu machen und durch learning by doing schreibhandwerkliche Techniken zu erlernen.

Bense trennte diese Übungsfunktion strikter von dem eigenen kreativen Tun als sein Nachfolger Kalow. Das Material für die Übung „Analyse eines literarischen Textes nach metaphysischen und ästhetischen Methoden“ (S. 180f, Margit Staber im Unterricht von Max Bense und Elisabeth Walther) stammt von zwei ebenso unterschiedlichen wie etablierten Autoren: Franz Kafka und Johann Peter Hebel. Aber es sind dennoch literarische Texte, anhand deren Unterschiedlichkeit hier die Möglichkeit von Überarbeitung, Umformung, von der Formbarkeit sprachlichen Ausdrucks erprobt wird.

Auch in weiteren überlieferten Übungen aus Benses Unterricht zeigt sich die Tendenz, die Studenten schreibend zu eigenem Denken anzuregen und herauszufordern – wenn es etwa um die „Beschreibung der Seinsweise eines Wasserhahns, eines Unglücks und eines Würfels“ geht2: Eine auf den ersten Blick eher philosophische Themenstellung, aber doch mit einem literarischen Unterton, der neben dem Gebrauch des Verstandes auch eine Lockung enthält, die Phantasie anzustrengen und scheinbar absurde Dinge systematisch in Einklang zu bringen.

 

Einen anderen – pragmatischen Weg – ging Eugen Gomringer 1956/57 in dem für alle Studenten obligatorischen Unterricht „Darstellungsmittel Sprache“. Hier besteht der Auftrag darin, sowohl über den Ulmer Hocker als auch über den HfG-Türdrücker einen Text zu verfassen.3 Dabei entstehen reine Gebrauchstexte, die Information wird selbst bei dem „Werbetext“ so nüchtern und emotionslos vermittelt wie bei einer Gebrauchsanleitung.4 Aber selbst in Gomringers Unterricht gibt es eine Verbindung zur Literatur, wenn die Studenten in seinem Unterricht eine Buchkritik schreiben.5

 

Auch Gert Kalow lässt die Studenten eigene Texte schreiben – und stellt ebenfalls die Aufgabe, sie umzuformen, etwa vom allgemeinen zum besonderen, wie Peter Heck es mit seinem Text „auf pad“ (S. 151) getan hat. Kalow animiert zu genauer Beobachtung, indem er die Studenten ihre Kommilitonen beschreiben lässt6 und zu Experimenten anregt wie die „Textimprovisation“ von Walter Müller (S. 191), bei denen der Autor Blickwinkel und Standpunkt ändert und damit zu ganz unterschiedlichen Textaussagen kommt. Das alles sind keine primär journalistischen Vorgehensweisen, sie schärfen aber das Verständnis für den Umgang mit und für die Möglichkeiten der Sprache.

Der Text „Party“ von Walter Müller bildet im Rahmen dieser Zusammenstellung insofern eine Ausnahme, als es sich hierbei um einen fertigen literarischen Text handelt, der in der Studentenzeitschrift „output“ veröffentlicht wurde.7

 

Eine weitere Ausnahme in dieser Auswahl bildet das fertig ausgeformte Rundfunkprogramm, das die Studenten mit Bernd Rübenach erarbeiteten. Es wurde 1958 auf der HfG-Ausstellung präsentiert und war in seiner Konzeption als etwas durchaus Fertiges, in der Praxis Anwendbares gedacht. Von allen hier dargestellten Aufgabenbeispielen ist dieses dasjenige, das in seiner Systematik wie in seinem Sendungsbewusstsein am ehesten der an der HfG vorherrschenden Ideologie entspricht.8

 

Aus der Informationsabteilung sind wenige Arbeiten überliefert. In der Zeitschrift ulm finden sich – im Unterschied zu den anderen Abteilungen – keine Ergebnisse aus dem Unterricht der Abteilung Information. So bleiben die Ausstellungstafeln von 1958 fast die einzigen offiziellen Dokumentationen über das Geschehen in dieser Abteilung.9

Die hier vorgestellten Arbeiten sind ein Ausschnitt aus dem Material, das überliefert ist — vor allem Dank der Sammlungs- und Erschließungstätigkeit des HfG-Archivs und der Bereitschaft ehemaliger Studenten, ihre Arbeiten für die Forschung zur Verfügung zu stellen. So konnten wir etwa auf die Deposita von Walter Müller, Klaus Krippendorf, Immo Krumrey und Margit Staber zurückgreifen – und sind vor allem Walter Müller dankbar, der sorgsam die dritten und vierten Durchschläge seiner Kommilitonen sammelte und ebenfalls dem Archiv übergab.

 

Margit Staber, „Epischer Text“. HfG-Archiv, Schenkung Staber
Margit Staber, „Reduktion“. Übungen aus der Reihe „Analyse eines literarischen Textes nach metaphysischen und ästhetischen Methoden“ aus dem Unterricht von Max Bense und Elisabeth Walther. Dieser Übung lagen die beiden Texte „Der plötzliche Spaziergang“ von Franz Kafka und „Der geduldige Mann“ von Johann Peter Hebel zugrunde. Die Aufgabe bestand darin, diese Texte zu variieren – durch Erweiterungen, Veränderungen, Reduzierung auf wenige Worte, Umkehrung der Handlung, oder sie in Beziehung zu anderen Texten zu setzen. HfG-Archiv, Schenkung Staber
 

Edgar Decurtins, Beschreibung Ulmer Hocker.

Aus dem Unterricht in der Grundlehre „Darstellungsmittel Sprache“ von Eugen Gomringer, 1956/57. An dieser Übung nahmen die Studierenden aller Abteilungen teil. Sie hatten die Aufgabe, verschiedene Textsorten zu verfassen: Einen Werbetext, eine „gekürzte informative Darstellung“ und eine „ausführliche informative Darstellung“. Edgar Decurtins studierte nach der Grundlehre in der Abteilung Bauen.

 

 

Edgar Decurtins, Beschreibung Ulmer Hocker. HfG-Archiv, Schenkung Decurtins                             

werbetext

 

der abgebildete hocker wurde an der hfg ulm von den herren dozenten bill und gugelot entworfen und entwickelt.

mit diesem hocker wurde eine mehrzwecksitzgelegenheit einfacher konstruktion geschaffen. dieser hocker ist in seiner art einmalig, denn er besitzt gleichzeitig folgende vorteile:

 

2 sitzhöhen (40 + 45cm)

klare form

robust

einfache ausführung

niedriger anschaffungspreis

 

zur herstellung wird fichtenholz verwendet, für die stark beanspruchten teile buchenholz. die oberflächen werden mit nitrozellulose behandelt, d.h. in naturfarbe belassen.

auf wunsch kann der hocker auch mit farbigen aussenflächen geliefert werden, was z.b. einem kinderzimmer einen psychologisch vorteilhaften aspekt verleihen kann.

die anwendungsgebiete sind sehr vielseitig. der hocker wurde als allgemeine sitzgelegenheit an der hfg geschaffen: er wird dort beim zeichnen, lesen, essen, bei vorträgen und seminaren verwendet. er lässt sich aber auch als tischchen, als bank (aneinandergereiht) und als spielobjekt für kinder gut gebrauchen.

technische daten: grösse 400 x 300 x 450 mm, gewicht 3,5 kg

preis: ……

 

 

gekürzte informative darstellung

 

der zu beschreibende hocker ist eine mehrzwecksitzgelegenheit.

die konstruktion ist einfach: drei glatte flächen tragen den körper in zwei variablen höhen.

bei der planung wurde folgendes beachtet:

 

a. klare form

b. robust

c. einfache herstellung

d. geringe erstellungskosten

zur herstellung wurde fichtenholz verwendet. kufenleisten und stege sind aus buchenholz.

 

die herstellung beschränkt sich auf folgende vorgänge:

brett, 400/300/19mm, beidseitig (schmalseiten) mit fingerzinken. zwei bretter, 435/300/19mm, je eine schmalseite mit fingerzinken, werden rechtwinklig mit dem erstgenannten verzäpft. in die beiden freien enden werden zur verstärkung 15mm starke kufenleisten (buchenholz) eingenutet. somit wird die brettlänge auf 450 mm vergrössert. ein buchener steg, Ø 20 mm, ist auf der freien seite in der längsachse, 80 mm von den kufenleisten, beidseitig in die bretter eingelassen und verkeilt.

die herstellung des modells erforderte je 50 % hand- und maschinenarbeit; die serienherstellung dagegen 20 % hand- und 80 % maschinenarbeit.

der hocker hat ein gesamtgewicht von 3,5 kg und benötigt einen raum von 7400 cm3, aussenmasse: 400 x 300 x 450 mm

der hocker ist ein vielseitig anwendbarer gebrauchs-gegenstand:

individuelle anwendung seiner zwei sitzhöhen. abstellfläch in verschiedenen lagen. sitzbank durch aneinanderreihen. vier hocker als tischblattträger. stapelbar.

genaue arbeitszeiten und preiskalkulationen sind einzuholen. (abhängig von land, ort, zeit, wirtschaftlichen verhältnissen etc.)

 

 

ausführliche informative darstellung

 

der hocker an der hochschule für gestaltung

 

1. wozu

a. einrichtung zur aufnahme des körpergewichts in hockestellung

b. einfaches prinzip: drei glatte flächen tragen den körper in zwei verschiedenen sitzhöhen.

c. planung: der ausgewachsene, normale menschliche körper gilt als masstab. die möglichkeiten in bezug auf material, konstruktion und form müssen gündlich ermittelt werden. es muss auf geringe erstellungskosten geachtet werden.

d. entwurf: klare form, wenige und einfache arbeitsgänge, robust, zwei verschiedene sitzhöhen; drei rechteckförmige bretter rechtwinklig zusammengefügt, zwei davon durch einen steg verbunden zur versteifung; hartholzkufenleisten zum schutze der meistgebrauchten standflächen; masstäbliche zeichnerische darstellung; anfertigung von modellen und deren gebrauch im alltag; behebung der eventuell auftretenden mängel in konstruktion und anwendbarkeit.

 

2. woraus

a. holzart und güte:

fichtenholz, kl. I (DIN); teile aus 150 mm breiten brettern, verleimt; lose und faule äste ausgebohrt und ausgedübelt. struktur: radialschnitt, enge jahrringe, äste als ellipsen sichtbar; tangentialschnitt, äste als kreise sichtbar; härte ca. 1,2 kg/mm2.

buchenholz, kl. II (DIN); kernholz ohne mark. struktur: 36mm lange poren; härte ca. 2,9 kg/mm2

b. konstruktionsteile:

brett in fichtenholz, 400/300/19 mm, schmalseiten über hirn mit 18 fingerzinken versehen; 19 mm tief, zapfenbreite 8,5 mm; nutbreite 8,5 mm, 18 nuten, je eine schmalseite über hirn mit nut, 10 mm tief, 6 mm breit; in beiden brettern eine bohrung, Ø 20 mm; 80 mm im abstand von der genuteten seite und mitte der brettbreite: mittelpunkt der bohrung.

steg, buchenholz, 400 mm lang, Ø 26 mm, beide enden je 19 mm auf 0,20 mm abgesetzt; über hirn je ein kegelförmiger einschitt, 19 mm tief und 2 mm breit; 2 buchenkeile 18/20/3 mm.

zwei kufenleisten, buchenholz, je eine breitseite in faserrichtung mit feder, 8/6 mm, versehen; je eine breitseite von den schmalen kanten im abstand 48 mm 3 mm tief ausgefräst; bleibende flächen 48/19 mm abgefast, fase 2 mm.

kaltleim als bindemittel, nitrozellulose (hartgrund) als oberflächenbehandlung

ca. 3,5 kg gesamtgewicht

7400 cm3 raumbedarf

 

3. womit

a. modell: 50 % hand- und 50 % maschinenarbeit; hobelmaschine, kreissäge, leimzwingen, stemmeisen, holzhammer, bohrer, reisswerkzeug, pinsel und leimtopf, feile, raspel, fuchsschwanz, putzhobel, schleifpapier.

b. serienherstellung: 20 % hand und 80 % maschinenarbeit; kreissäge, hobelmaschine, leimmaschine, fräse, drehbank, bandschleifmaschine, schleifmaschine, spritzapparat

 

4. wie

a. fingerzinken: holzteile so ausgefräst, dass zinkenförmige teile von 19/19/8,5 mm bestehen bleiben, daraus entstehen auch die zwischenräume; die zinken greifen rechtwinklig ineinander und werden mit leim verbunden.

b. steg: an beiden enden dünner gedrechselt, tiefe wie brettstärke; an den enden sägeschnitt in faserrichtugen bis zum absatz

c. bohrung: bohrung der bretter normal im durchmesser der stegenden

d. keile: quer zur faserrichtung eingeschlagen; sie pressen die stegenden an den äusseren teil der bohrung.

e. kufenleisten: mit federn, hirnholzstreifen unten an den seitenbrettern mit einschnitt in der mitte; durch ausfräsen der kufenleisten an der einen schmalseite entsteht eine nut in der ganzen länge.

 

5. wieviel

genaue arbeitszeiten und preiskalkulationen sind einzuholen. (abhängig von land, ort, zeit, wirtschaftlichen verhältnissen etc.)

 

6. anwendung

der hocker dient in der ganzen hochschule als allgemeines sitzmöbel (arbeit, essen, seminar, zeichnen, lesen, musizieren). die zwei sitzhöhen werden individuell angewandt. durch aneinanderreihen mehrerer hocker entsteht eine sitzbank. drei oder vier hocker können als tischblattunterlage dienen. der hocker lässt sich stapeln und als abstelltischchen verwenden.

 

HfG-Archiv, Depositum Krumrey

Immo Krumrey, Versuch der strukturellen Untersuchung eines Textes von Eugen Gomringer

Unterricht im Bereich „Kulturelle Integration“ bei Max Bense. Immo Krumrey studierte nach der Grundlehre in der Abteilung Produktgestaltung.

 

 

1 allgemeine beschreibung

 

die visuelle struktur dieses textes demonstriert sich in einem satzspiegel zu fünf zeilen und je drei folgen des wortes „schweigen“;

in der dritten, mittleren zeile wird der dreier-rythmus durch eine auslassung in der mitte unterbrochen. diese auslassung wirkt als optische horizontalachse; sie erzeugt im zusammenfliessen der vertikal verlaufenden wortabstände zwei weitere, senkrechte visuelle betonungsräume; das zentrisch wirkende gewicht der wortauslassung der mittelzeile wird dadurch ausbalanciert. wir sehen ein visuell-statisches gerüst in quasi-H-form, das als grobstruktur bezeichnet werden könnte. die restflächen innerhalb der einzelbuchstaben, die abstandsräume zwischen den typen werden in die zeilenabstände und diese wiederum in die wortblockabstände und damit in die senkrechten betonungen hineingezogen; der zentrische freiraum der auslassung von zeile drei bildet das optische pendant (symmetrie) zur konformität des ganzen druckbildes, den konstruktiven schwerpunkt. die vergleichsanordnung beweist dies offensichtlich; ohne diese konstellation ginge eine wesentliche strukturelle eigenart nicht zu gesicht. die visuell wertende „grobstruktur“ der H-form darf als der primäre visuelle funktor gewertet werden.

 

2 visuelle analyse

als konfigurative, strukturbildende elemente, funktoren, sind anzusehen:

 

a formkarakter und dimension der einzelbuchstaben (anzahl (126) – menge)

 

b die „negativen“ flächenformen, die als gegenformen zum form-orgens der einzeltypen entstehen, einschliesslich der wort- und zeilenabstände; hieraus ergeben sich die typengebundenen merkmale des satzspiegels, der struktureigenschaften (klasse).

 

man braucht sich nur eine transformation dieses textes in eine antiqua, fraktur oder beton vorzustellen!

 

damit verknüpft ist

 

c das durchaus visuell gemeinte strukturgerüst (H-form) mit seinen bereits unter 1 beschriebenen visuellen symmetrieeigenschaften (relatio)

 

unberücksichtigt bleibt bei dieser betrachtung die nähere und weitere umgebung des textes. zur visuellen gesamtbeurteilung gehörte auch der umgebende raum, die plazierung des textes auf einer gegebenen aufgabenstellung, die zur aufgabenstellung vorgelegte präsentation erscheint jedoch allzu zufällig um in dieser hinsicht der überprüfbaren strukturmerkmale vereinbar zu sein. es bedürfte einer eigenen untersuchung um herauszufinden wie sich aufgrund der vorliegenden „grobstruktur“ im binnenraum des satzspiegels und umgebungsfläche bzw. plazierung, die strukturbildung beeinflussenden komponenten verhalten (gruppe).

 

3 versuch der psychologischen (optischen) strukturbeschreibung

inhalte strukturieren ihre kristallisationen.

pragmatisch betrachtet hat das wort „schweigen“ im deutschen nicht zufällig die vibration innerer, bewusster aktivität. ohne syntaktische hilfsmittel, durch reine, allerdings beabsichtigte addition wird die intention des „grossen schweigens“ besonders in der breiten fermate der mittelzeile sinnfällig; überwältigt sein im schweigen und bewusstes schweigen als tun: mit leidenschaft schweigen.

sieht man das virtuelle, fonetische mit den semantischen und semiotischen eigenschaften dieser konstellation zusammen, so kann sie als durchaus adäquates ikonisches zeichen für einen grossen „gegenstand“, das schweigen, gelesen werden. wir haben eine echte information vor uns, weil sie das modell der unendlichen, kontinuierlich allseitig sich ausbreitenden konstitution „schweigen“ demonstriert. die gezielte chiffre für eine nie fassbare vibration, in der „insein“ und transzendenz die eine, grosse schwingung sind.

 

13-6-56

 

Gui Bonsiepe, Ilse Grubrich, Cornelia Koch, Elke Koch-Weser: Experimentelles Rundfunkprogramm. HfG-Archiv, Ausstellungstafeln 1958

 

Experimentelles Rundfunkprogramm

Das Programm wurde 1957/58 im Unterricht von Bernd Rübenach entwickelt und in der HfG-Ausstellung vom Juni 1958 auf einer der Ausstellungstafeln gezeigt. Dargestellt sind jeweils zwei Programme an drei verschiedenen Wochentagen (Dienstag bis Samstag). Das erste Programm bedient dabei eher konservative Hörgewohnheiten mit musikalischen Kategorien wie „operette“, „volksmusik“, „landfunk“ oder „morgenfeier“ (evangelisch bzw. katholisch), im zweiten gibt es „jazz“ oder das „studio für experimentelle musik“. Klassische und „unterhaltungsmusik“ finden sich in beiden Programmen, ebenso politische Sendungen und Berichte. Die einzelnen Sendungstypen sind im Original farblich kodiert: Wortbeiträge sind als orangefarbene Balken angelegt, Musiksendungen hellblau. Kombinierte Sendungen wie „frauenfunk“, „morgenandacht“, „morgengymnastik“ oder „quiz“ erscheinen in Magenta.

 

 

erklärung einiger sendetitel

 

beim wort genommen: sprachkritische glosse

 

das XX. jahrhundert: darstellung der geschichte des XX. jahrhunderts in vortragszyklen (politik, technik, wissenschaft, kommunikationsmittel usw)

 

demokratische feuerwehr: aufklärung über neo-nationalistische tendenzen

 

dokumente der zeit: aktuelle texte im wortlaut (staatsverträge, diplomatische notenwechsel, parlamentsdebatten, gesetzestexte, tagungsvorträge)

 

fortsetzung folgt: lesung von unterhaltungsliteratur in fortsetzung (möglichst in sich abgeschlossene sendungen)

 

frühmusik: (I) unterhaltungsmusik

(II) barocke und vorklassische musik

 

funkapotheke: medizinische ratschläge

 

funkuniversität: wissenschaftliche vorträge mit ausführlicher bibliographie (möglicherweise aufnahmen aus dem hörsaal)

 

hörspielrepertoire: wiederaufnahme früherer sendungen und übernahme von anderen sendern

 

kochfunk und einkaufstips: täglich verschiedene kochrezepte, zusätzlich hinweise auf die marktlage für lebensmittel

 

mode und kosmetik: feuilletons und musik

 

neue literatur: originalbeiträge lebender autoren (im auftrag des rundfunks geschrieben)

 

pause: einschnitt, um einen möglichen passiven sendungskonsum zu unterbrechen

 

play-back: aktuelle personalia

 

progammvorschau: die tägliche programmvorschau wurde nach möglichkeit vor die nachrichtendienste gesetzt, um die hörergewohnheit (einschalten des radios zu vollen stunden) für eine möglichst genaue information über das programm auszunutzen.

die wöchentliche programmvorschau ist eine geschlossene sendung mit ausschnitten aus verschiedenartigen sendungen des folgenden wochenprogramms

 

so leben wir: sozialberichte und reportagen

 

so sehen uns die anderen: berichte und pressestimmen aus dem ausland über das gegenwärtige deutschland

 

so werden wir leben: bericht über die entwicklung von architektur, städtebau, produktform, automation, medizin usw

 

sprachuntericht: 5’ nachrichten in englisch oder französisch, 10’ sprachlehre, 15’ diskussion oder lesung in englisch oder französisch

 

text der woche: ein text (philosophisches oder literarisches zitat), täglich zu verschiedenen zeiten einmal in jedem programm, von verschiedenen sprechern vorgetragen

 

text des tages: ein text zum tagesbeginn (originalbeitrag)

 

wir stellen uns vor: funkleute (von der cutterin bis zum intendanten) und freie mitarbeiter berichten über ihre arbeit

 

zentren der macht: features über organisationen und institutionen der heutigen gesellschaft

 

zur disposition: offene sendezeiten im gegensatz zum starren, festgelegten programmschema. sie werden je nach angebot den einzelnen abteilungen zugeteilt.

 

Fred Weidmann

Texte aus dem Unterricht von Gert Kalow, 1959.

 

ein traum

(2., korrigierte Fassung) 10.3.59.

fred weidmann

 

da bin ich hinter eisenstäben. ihr drängt euch vor mir, wollt alle abschied nehmen; oder seid ihr schon die schützen? ich kann noch fliehen. gleich fährt das schiff. ich habe freunde. – du bist am gitter. ich reisse dein kleid vom körper, von oben nach unten, geräuschlos. was wollen die vielen leute im raum? du schmiegst dich an, heisser als sonst. und dein mund ist voller speichel.

 

gleich werden sie schiessen. ihre zielenden augen bannen sich an die gewehrläufe. fünf, sieben mann: meine…, nein, sie sind es nicht. die da tragen hüte.

 

– hemdfetzen, rippen-, lungenteile spritzen von mir weg, von meiner brust bleibt fast nichts. die knie schnappen ein, ich klappe zusammen. die riesen drängen sich um mich, die einen tragen gewehre. nicht meine tochter, sie ist klein. „so zerfliegt die brust“, ich zeig‘ es mit den händen. alle hören zu, lachen jetzt mit meinem humor, obwohl ich mich selbst nicht hören kann. – hier mein fluss, ich bin jung, will ihn durchwaten. du hättest untertauchen sollen. es sind amerikaner, alle mit crew cut, gross, dick und freundlich. sie führen mich heute wieder zur hinrichtung.

 

der, der mir die handschellen zwischen die knochen zieht, sagt, dass morgen ein urteil mich freisprechen würde. traumhaft.

 

 

der besuch

17.3.59.

fred weidmann

 

guten abend, meine liebe. was machst du denn hier? wie wagst du nur jetzt, bei diesem sauwetter, zu kommen? es wird noch lange winter sein. nur nicht so aufgeregt, schön, setz dich unter die lampe. putz dich etwas, du hast zwar keinen grund zur eitelkeit.

warm bei mir, nicht wahr? ich heiz‘ dir den raum, obwohl du mir eklig bist. du wirst mir nicht auf die nase scheissen, oder ich hau dich kaputt. dein ganzes wesen ist mir zuwider, und erst deine verwandtschaft: ein dreckpack allesamt. frechheit, wie du dich bewegst. ich habe ein sauberes zimmer, du brauchst deine pfoten nicht am tischtuch zu putzen.

 

aber wie kommt es, dass du mir ausgerechnet bei diesem nassen wetter die ehre antust? spürst du schon den frühling, fertig wintergeschlafen? eigentlich bist du mir ganz willkommen. aber nur, weil es noch winter ist.

 

ich sprach mit der ersten fliege.

 

Fred Weidmann, Ein Traum, 1959. HfG-Archiv, Depositum Walter Müller

Jürgen Freuer

Der Biertrinker, Text aus dem Unterricht von Gert Kalow.

Jürgen Freuer, Der Biertrinker, um 1959. HfG-Archiv, Depositum Walter Müller

Der Biertrinker 3.Fassung

Qualm, Musik, Gläserspülen, übervolle Gardrobenständer, am Schanktisch ein Mann von etwa 50 Jahren. Er hat einen Ast, Rückgratverkrümmung. Ein geknickter Baum. Mit unbeholfener Hebelbewegung greift er zum Glas, das in Kinnhöhe vor ihm steht. Sein breiter Schlapphut macht ihn noch kleiner, sein Mantel erinnert an eine Geschützplane. Er zelebriert jeden Schluck, denn er ist mit sich und seinem Glas allein. Seine Beziehung zur Umwelt ist auf das Glas beschränkt, seine Augen sprechen von der Demut des Trinkers dem Stoff gegenüber und wie alle Trinker ist er dem Stoff unterlegen. Aber das gibt ihm eine Sicherheit, die er kaufen kann, in Gläsern. Die Zustimmung für ein neues Glas erfolgt wortlos, durch Kinn auf die Brust und Unterlippe hoch geschoben.

Bei jedem neuen Glas sieht er sich denselben Problemen gegenüber, mit der Neige verringern sie sich und den Versuch sie zu lösen, unternimmt er mit jedem Glas neu.

 

Walter Müller, Textimprovisationen

Textimprovisationen: „essay ironique“ und „essay tragique“, Texte aus dem Unterricht von Gert Kalow. Im HfG-Archiv existiert eine weitere Variante dieser Übung. Müller variiert darin seinen Text einzig dadurch, dass er ihn in verschie- dene Zeitformen transferiert (u.a. Präsens, Perfekt, Plusquam- perfekt, Futur und Konditional). Walter Müller nahm während seines Grundlehrejahres zeitweise am Unterricht in der Abteilung Information teil. Im Anschluss studierte er in der Abteilung Visuelle Kommunikation.

Walter Müller, Textimprovisation, um 1959. HfG-Archiv, Depositum Walter Müller

café um ein mädchen. (essay ironique)

Qualm, Musik, Gläserspülen, übervolle Gardrobenständer, am Schanktisch ein Mann von etwa 50 Jahren. Er hat einen Ast, Rückgratverkrümmung. Ein geknickter Baum. Mit unbeholfener Hebelbewegung greift er zum Glas, das in Kinnhöhe vor ihm steht. Sein breiter Schlapphut macht ihn noch kleiner, sein Mantel erinnert an eine Geschützplane. Er zelebriert jeden Schluck, denn er ist mit sich und seinem Glas allein. Seine Beziehung zur Umwelt ist auf das Glas beschränkt, seine Augen sprechen von der Demut des Trinkers dem Stoff gegenüber und wie alle Trinker ist er dem Stoff unterlegen. Aber das gibt ihm eine Sicherheit, die er kaufen kann, in Gläsern. Die Zustimmung für ein neues Glas erfolgt wortlos, durch Kinn auf die Brust und Unterlippe hoch geschoben.

Bei jedem neuen Glas sieht er sich denselben Problemen gegenüber, mit der Neige verringern sie sich und den Versuch sie zu lösen, unternimmt er mit jedem Glas neu.

 

ein mädchen im cafe. (essay tragique)

nachdem sie sich im stuhl zurückgelehnt und ihren tiefdekolletierten rücken zwischen lila sackkleid und stuhllehne zum cafe gedreht hatte, zigaretten rauchend und immer wieder ein getränk zum mund führend, wobei ab und zu die umrisse ihrer hochliegenden backenknochen neben dem schwarzen, zu einem knoten aufgesteckten haar sichtbar geworden waren und ein überzüchtetes, gelangweiltes kurtisanengesicht mit schönheitsfleck hatten vermuten lassen - drehte sie in einer unerwartet verzweifelten geste ihr todblasses gesicht herum und sah mit unruhigen, vor angst geweiteten augen über die schulter zum nebentisch, während über ihren zusammengepreßten mund ein zucken flackerte, ihre nervösen hände nach einer illustrierten tasteten und ihr letzter rest an faßung angesichts der eingetretenen stille und der vielen erhobenen köpfe zusammen-zustürzen [sic] drohte.

 

 

Walter Müller, Party

Text aus dem Unterricht von Gert Kalow. Der Text wurde 1962 unter dem Titel „Party – Bericht mit literarischen Ambitionen“ im Heft Nr. 8 der Studentenzeitung „output“ veröffentlicht.

Walter Müller "Party", um 1959. HfG-Archiv, Depositum Walter Müller

Party.

Walter Müller 

Der Film ist aus. Die Bar schlägt Wellen und sie stürmen die Hocker, als gälte es einen Thron zu erobern. Bier und Juice, Whisky und Cognac, Steinhäger und Gin, Martini und Wodka Und Sekt. Das Tonband plärrt Cool und sie tanzen ineinanderverklammert, sich gegenseitig stützend. Langstieliges Blond, so blondes Blond, daß man es durch ein rußgeschwärztes Glas betrachten muß, hängt über einem kleinen mit Bart von Ohr zu Ohr und läßt sich anquaken. Sein Gesicht ein klaffendes Maul. Ein Beinahe-Exote mit einer Haut wie veredelter Lehm, produziert geselliges Geräusch mit einem spaghetti-dünnen Mädchen. Es ist aus Elfenbein und Ebenholz geschnitzt und verfügt über Hände, die einen ohnmächtig werden lassen, wenn man sie küßt. Die Flachbusige neben mir, eine Hand auf meinem Knie, klagt über Kontaktschwierigkeiten. Ich klage mit. Sie dampft Cognac, Schweiß und Chanel und wir schleichen einen Dauer-Blues.

 

Der Barjungmann defloriert eine Flasche Sekt. Mit seinem Revers

bringt er ein Glas in Gefahr. Den Versuch eines sanften Schizoiden, mich in eine Debatte über die Dialektik des Sinnlichen zu verwickeln, lehne ich mit der Begründung ab, ich sei betrunken. Und das bin ich auch. Das hält ihn nicht ab, mir von der dynamischen Plastizität einer dämonischen Bewußtseinslage zu sprechen, in der das Transzendent-Erotische zu einem Surrogat dialektischer Sinnlichkeit sublimiert ist... blabb, blabb, blabb.

 

Ich trinke ohne jede Kontrolle: und mit mir trinkt der ganze sabbelnde, zwitschernde, näselnde, balzende Haufen. An der Wand lehnen Eleven mit ihrem Magister und diskutieren über den Sinn und das Wesen von Gott-weiß-ich-was. Gegenüber eine Audrey Hepburn in grün und weiß, Ich assoziiere Spargeln. Ihre verzehrend schönen Augen schwimmen über dem Whisky, den s i e einzügig hinunterkippt, geschlossenen Auges, im Orgasmus versinkend. Das Hick-Hack eines Be-Bop läßt die Fensterscheiben erzittern. Hände der Wissenschafts-Society beschmieren sie mit Zahlen und Formeln, Probleme der Logistik auf eine Weise erörternd, bei der auch das Wasser des Lebens zu Wüstensand

vertrocknen muß. Wer nicht tiefschürft, klatscht.

 

Er und Sie aus einem Cocteau-Film baumeln auf ihren Sitzen. Mit der Stimme eines geisteskranken Babys plaudert sie über - nein, nicht Heidegger, nicht den, den anderen - ja, den meine ich. Ich setze mich neben ein langhaariges Kunstweib. Ihr eingerissener Fingernagel und eine Theorie über Mondrian beschäftigen sie.

 

Es scheint spät zu sein. Alles zuckt nach dem Gebell eines ChaChaCha, alles trinkt Sekt. Nur einer bleibt bei seinem Steinhäger - ein Bernard Buffet Modell mit zerstörtem Gesicht. Die Augen, graues, kugeliges Glas, glotzen in die unendlichen Weiten des Delirium tremens. Ein Rudel Einfallsreicher trommelt in organisiertem Stumpfsinn mit den Fäusten auf die Bar. Drei von der schicksaldarstellenden Kunst tauchen auf; etwas angetrunken, wie mir scheint. Der Hochdramatischen gehorchen ihre Sprechwerkzeuge nicht mehr so ganz und der schwere Heldenvater hat einen Schuh verloren. Der Dritte schäkert durch die Hüpfenden - ein aufgeschwemmter Bonvivant , der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, den ewigen Epheben zu spielen. Mit seinem kunstseidigen Teint sieht er aus, wie ein in Porzellan gegossener Hermaphrodit. Er steckt voller Literatur und zitiert pausenlos. Ich verabschiede mich mit einem Zitat aus der Baghavat Gita. Dort schaut er bestimmt nicht nach.

 

Ich dusche. Das heiße Wasser schwemmt alles weg: Suff und Schweiß und eine lange Nacht, ganz voll Null-Acht-Fuffzehn-Dolce-Vita.

 

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Zitation
Christiane Wachsmann "Anhang / Zur Auswahl der Unterrichtsbeispiele" in: David Oswald, Christiane Wachsmann, Petra Kellner (eds) Rückblicke. Die Abteilung Information an der hfg ulm. Ulm, 2015, pp. 176-193, online unter http://www.hfg-ulm.info/de/unterrichtsbeispiele.html
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