Margit Staber-Weinberg Hätte ich doch damals ein Tagebuch geführt! – „Information“ an der hfg

Portrait Koch-Weser
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Portrait Staber
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Der Titel zu diesen mehr als fragmentarischen Erinnerungen findet sich als Stossseufzer in dem Referat, das ich zum 50jährigen Jubiläum der hfg im Kreis des club off ulm 2003 gehalten habe.1 Unwiederbringlich dahin und schon sehr lange her sind die schönen Tage von Ulm, und ohne verklärende Reminiszenz darf man festhalten, dass die Ulmer Studienjahre vom Göttergeschenk grosszügig verfügbarer und nie wiederkehrender Zeit geprägt gewesen sind: keine atemlose Hektik wie im „Durcheinandertal“ 2 von heute wäre der Niederschrift der Tagesabläufe mit den jeweiligen Studienplänen, dem Netzwerk der Lehrenden und Lernenden entgegengestanden. Viel später erst dämmerte die Einsicht, an einem pädagogischen Jahrhundertereignis mit Höhen und Tiefen der besonderen Art beteiligt gewesen zu sein. In Wort und Bild hätte man über die Studienjahre hinweg ein Scrapbook von dokumentarischem Wert anlegen können. Von Hand geschrieben, vermutlich, mit kleinen Skizzen und unscharfen Momentaufnahmen visualisiert. Die Computerwelt kündigte sich als nahende Zukunftsmusik an, ohne dass man gewusst hätte, wie damit umzugehen sei.

 

Man lebte den Tag, jeden Tag intensiv, – jedoch nicht einfach in den Tag hinein. Ein Erlebnis bereits der überdachte Weg mit Ausblicken in die Landschaft vom vierstöckigen Wohnturm (für die Studierenden, Frauen und Männer gemeinsam) zur Mensa, den Unterrichtsräumen und Werkstätten – Architektur hinein komponiert in die karge hügelige Landschaft am Südfuss der Schwäbischen Alb. Die spartanische Qualität der sich rhythmisch entfaltenden, kubisch gegliederten Betonbauten wirkt nach als eine Entsprechung von massstabgerechtem Menschenwerk zur Natur. Nein, ich gerate nicht ins Schwärmen. Aber man muss bedenken, dass für die jungen, begierigen Menschen nach dem Aufbruch aus den Trümmern in der Nachkriegsgesellschaft die Teilnahme an dem gestalterischen Experiment Ulm zunächst einmal in jeder Beziehung das Staunen des Dabeiseins ausgelöst hat. Man sog die kreative Energie des Moments auf; man dachte nicht daran, die Chronik der Ereignisse für die Nachwelt festhalten zu müssen. So jedenfalls lege ich mir im Rückblick die Befindlichkeit im magischen, von der Alltagswelt ringsum abgehobenen Zirkel der hfg während meiner Studienjahre zurecht. Man lese in dem aufschlussreichen Buch „Selbstbehauptungen – Frauen an der hfg ulm“ von Gerda Müller-Krauspe die Kapitel „Lebens- und Arbeitsort“ und „Gebäudekomplex/Architektur“.3 Ja, die mit trockenem Witz kommentierende Autorin kommt zu der Feststellung, die „ersten Studiengänge [hätten] ein ganz besonderes, ein nachgerade inzestuöses Verhältnis zu den Baulichkeiten und Einrichtungen der Schule entwickelt“. Und sie bringt dieses damit in Zusammenhang, dass der Unterricht längst schon vor der Eröffnung der Schule unter manchmal abenteuerlichen, provisorischen Zuständen in der Stadt Ulm begonnen hatte. Deshalb sei die Inbesitznahme der unberührt nagelneuen Anlage, an deren baulicher Entstehung und Einrichtung viele Studierende mitgewirkt hatten, einer Initiation des verheissenen Ortes gleichgekommen. Endlich dort, wo man so brennend gerne sein wollte!

 

„Learning by doing“ führt zu den gestaltungspädagogischen Methoden hin, von denen das Experiment Ulm ausgegangen ist und die nach wenigen Jahren jene erbittert geführten methodologischen Auseinandersetzungen auslösten, die im Nachhinein wie der Streit um des Kaisers Bart erscheinen. Denn letzten Endes wollten alle, die hier so hoffnungsvoll zusammenkamen, dasselbe bewirken, erforschen, entwickeln. – Bevor ich zu diesem Punkt in meinen Erinnerungen die Schublade hfg auftue, sei ein Exkurs eingeschoben über die Motivation, die eine aus konservativ bürgerlichem Milieu stammende junge Frau im Lebensbereich Ulm/Neu-Ulm an der Donau völlig unvorbereitet an diesen im Familienverständnis exotisch anmutenden Ort geführt hat. Kultur bedeutete bei uns zuhause Bücher zu lesen, möglichst die klassische Literatur bis ins 20. Jahrhundert, Thomas Mann etwa war angesagt; gelegentlich ging man ins Stadttheater, das zugleich Opernhaus war, und an welchem Herbert von Karajan seine Laufbahn als Kapellmeister anfangs der 1930er Jahre begonnen hatte. Bildende Kunst war kein Thema, und Konkrete Kunst schon gar nicht. Das Wort Design, das Max Bill so gar nicht mochte und dem er sein Ideal der Umweltgestaltung dagegen stellte, hatte noch niemand gehört. Brav wurde das Abitur absolviert, mit guten Noten, etwas anderes stand nicht zur Diskussion. Und was nun? Da schwelte ein nur nebulös greifbares Verlangen, es müsse nun doch eine neue Zeit anbrechen und auf welche Weise könnte man daran teilhaben und mitwirken?

 

Die Nazi-Zeit war in Rauch und Asche untergegangen, ein eisernes Gitter der Verdrängung in der Vätergeneration sank herab, um erst eine gute Generation später wieder mit der mühseligen Etablierung eines Holocaust-Bewusstseins aufzutauchen. Ich hatte, als Gymnasiastin, die 1945 von Inge Aicher-Scholl ins Leben gerufene Ulmer Volkshochschule besucht, insbesondere die so genannten „Donnerstags-Vorträge“ 4 mit weltanschaulichem Gewicht fielen auf interessierte Ohren. Wie in anderen deutschen Städten war im Zeichen der Re-Education-Programme der amerikanischen Besatzungsmacht ein „Amerika-Haus“ eingerichtet worden, dessen Bibliothek ein faszinierend unbekanntes Tor zur Welt auftat. Von daher stammt wohl meine bis heute anhaltende Liebe zur anglo-amerikanischen Literatur. Eigentlich wollte ich Sprachen studieren, ziemlich naiv schwebte mir vor, mittels Sprache irgend etwas bewerkstelligen zu können. Ich sah mich an der Universität München um. Es sollte nicht sein, ein solides, traditionelles Studium.

 

Man hörte und las von dem gärenden Hochschul-Projekt, das am Rand von Ulm verwirklicht werden sollte. Ganz anders sollte es werden als tradierte, universitäre Pfade einzuschlagen. Der Name von Max Bill kam ins Spiel. Die Geschwister-Scholl-Stiftung wurde 1950 gegründet. Nach mancherlei Hin und Her über die inhaltliche Beschaffenheit der neuen Lehrstätte, zunächst mit politisch, staatsbürgerlich demokratischer Tendenz, schälte sich ein Unterrichtsmodell heraus mit dem Vorhaben „junge Menschen für die Lösung von Gestaltungsaufgaben in der modernen Zivilisation“ 5 auszubilden (Zitat aus Prospekt). Das war es; da wollte ich hin, auch wenn es ziemlich unklar war, wie meine nicht besonders praktischen Talente an einer Gestaltungsschule funktionieren würden. Ich wollte weg aus einer zunehmend eng empfundenen Provinz, und – siehe da! – die Provinz verflog wie von Zauberhand gleich vor Ort am Oberen Kuhberg in der Luft mir so aufregend neu erscheinender Ausbildungshorizonte. Es werde im Rahmen der Studienprogramme der Hochschule für Gestaltung Ulm auch ein Fach „Information“ geben. Seelenbalsam für die vorläufig unscharf einen Lebensplan suchende junge Frau. Ich fasste Mut, ging hin und bewarb mich, füllte den in den ersten Hochschuljahren ausgehändigten, anspruchsvollen Fragebogen aus, zu dem ich Antworten über mein kulturelles, politisches, allgemein demokratisches Selbstverständnis mehr erahnte als deutlich zu definieren vermochte. Leider besitze ich kein Duplikat dieses im heutigen Fokus des Datenschutzes eher merkwürdig anmutenden Dokumentes.

 

Im Einzelnen kann ich mich nicht mehr erinnern. Auch nicht daran, was zitternd vor Aufregung in einem persönlichen Vorstellungsgespräch mit der übermächtig erscheinenden Kultfigur von Max Bill erörtert wurde. Das für die Aufnahme in die Abteilung Information erforderliche Abitur brachte ich mit. Als praktische Voraussetzung konnte ich ein bescheidenes Volontariat bei der Schwäbische Donau-Zeitung vorweisen mit dem Bonus, dass dessen durch seine jüdische Herkunft legitimierte Verleger Kurt Fried ein Befürworter der hfg in skeptischen Ulmer Kulturkreisen war, zudem Sammler von Nachkriegskunst mit Schwerpunkt konkret geometrisch. Das kam gut an. Dass ich dem Anforderungsprofil entsprach, wundert mich immer noch. Vermutlich hat es mir geholfen, dass ich eine Frau war. Gleichberechtigung gehörte zur Idee „Ulm“ bevor das Rad der Gendergerechtigkeit zu drehen begann. Und ich darf hinzufügen, dass mir eine solche von da an in meiner späteren beruflichen Arbeit ohne feministischen Uebereifer selbstverständlich geblieben ist. Fairerweise muss man hinzufügen, dass es Frauen in den kulturvermittelnden Sparten immer schon leichter hatten als in anderen Wissensbereichen.

 

Die Gründungsgeschichte kann und muss ich nicht nacherzählen, auch nicht die Fortsetzung der Geschichte bis zum bitteren Ende 1968. Dazu gibt es Literatur mit unterschiedlicher Perspektive der Protagonisten und die sich wandelnden und heftig gegeneinander ausgespielten Lehrmeinungen. Ich habe von 1954 bis 1958 an der hfg studiert und nach der einjährigen Grundlehre das Studienfach „Information“ mit dem Diplom abgeschlossen. Das heisst, es war die erste, frühe Phase in der geistigen Prägung durch Max Bill. Er ist mit seiner Vision einer Aktualisierung der Bauhaus-Idee, die er als ideal medienkräftige Identifikation einsetzte, zunächst einmal gescheitert, und er kehrte dem Institut nach wenigen Jahren 1957 den Rücken. Mein Studienfach überlebte nicht lange und wurde mit der Abteilung „Visuelle Kommunikation“ verschmolzen, eine sich von Anfang an abzeichnende, eigentlich naheliegende Entscheidung. Auch die Grundlehre, inspiriert vom „Vorkurs“ am Bauhaus, fiel dann der zunehmenden Verwissenschaftlichung des Gestaltungsprozesses zum Opfer. An die Grundlehre habe ich viele positive Erinnerungen und halte die damit vermittelten gestalterischen Basiserfahrungen nach wie vor für ein nützliches Instrument zum Einstieg in Kreativberufe. Ich denke an die Faszination, die ein aus dem Nichts in der fotografischen Dunkelkammer auftauchendes Bild auslöste. Und ich besitze noch einige hier verfertige Abzüge von Aufnahmen des in den Schulwerkstätten nach Billscher Aufgabenstellung unter Mühsal geborenen, unselig spitz aufgerichteten Gipswürfels. Es war ein Problem, um sich mit Volumen im Raum auseinanderzusetzen. Ich bettete mein klägliches Resultat auf die abgeernteten Felder hinter den Schulgebäuden mit dem verfliessenden Ulmer Münsterturm in der Ferne und nahm es ins Visier der Kamera. Keine heute aus dem Handy rasch geschossene blitzgenaue Fotografie könnte ein ähnlich prozesshaftes Erlebnis von Etwas bewirken, das man Schritt um Schritt eigenhändig geschaffen hat. Der Verfremdungseffekt meiner bildhauerischen Unfähigkeit brachte mir zudem das Lob einer aus der Not eine Tugend machenden Lösung ein, die zudem eine geografisch lokale Perspektive einbezog.

 

Es wurde nicht frei in der Fantasie geschwafelt, jedoch der erfinderischen Inspiration der Freiraum belassen. Von Anfang an galt methodisches Vorgehen, und die Begründung sukzessiver Denk- und Realisationsschritte artete geradezu zum Kult aus. Die Farbenlehre bei Josef Albers einerseits, bei Johannes Itten andererseits, erleben und erforschen zu dürfen, hat eine unschätzbare visuelle Sensibilisierung ausgelöst. Es war uns kaum bewusst, welche damals bereits international hoch angesehenen Künstler sich mit uns Stümpern befassten und ästhetische Massstäbe setzen. Bestes Beispiel: der von Max Bill nach Ulm geholte Friedrich Vordemberge-Gildewart, der, in der „Visuellen Kommunikation“ tätig, ja nicht mein Lehrer war. Doch seine Aura strahlte aus als Meister einer gleichgewichtigen Harmonie sowohl in seiner Malerei wie in seiner Typografie, ohne die Reinkultur einer jeden Sphäre zu tangieren. Viel später habe ich als Jurorin bei dem von seiner Witwe Leda ins Leben gerufenen Stipendium für junge Künstler unterschiedlichster Stiltendenz mitgewirkt. Und Josef Albers habe ich mehrmals in seinem schönen Haus und Atelier in der Nähe von New Haven (Massachusetts) besucht und über seine Malerei mit dem Thema der „Interaction of Color“ geschrieben. Johannes Itten konnte ich, als ich nach Zürich übersiedelt war, gelegentlich in seiner Arbeitsklause ausserhalb der Stadt mit Blick ins Limmattal besuchen, wo er sich mit unverminderter Intensität über die Spiritualität der Farben ins Feuer redete. Als Kuratorin im Museum Haus konstruktiv in Zürich habe ich seine Farbenlehre gezeigt. Die von ihm dem Unterricht an der hfg vorausgestellten Atemübungen zur Freilegung innerer Kräfte bleiben unvergessen. Man hat Ittens scheinbare Esoterik spöttisch belächelt, und doch gelang es, inneren Spannungen den Laufpass zu geben und die Schülergruppe einzustimmen auf die Eigendynamik koloristischer Beziehungen.

 

Die Synergie der Werkstattarbeit mit den in der „kulturellen Integration“ zusammengefassten Geistesfächern bot während des Grundlehre-Jahres die Grundlagen für die weitere Ausbildung in den einzelnen Studienfächern. Die Publikation in der Schriftenreihe des club off ulm zur Grundlehre von 1953 bis 1960 6 vermittelt in individuellen Erfahrungsberichten viel aufschlussreiches Material, charakterisiert zum einen die hierfür gewonnenen Lehrpersönlichkeiten und zeigt zum anderen, wie individuell die Erlebnisse und Erfahrungen in den jeweiligen Ulmer Phasen gewesen sind. In der Einführung der Schrift unter dem Titel „vorab“ finden sich zudem einige interessante statistische Angaben. Etwa: dass 94 der eingeschriebenen Studenten ausschliesslich die Grundlehre absolvierten, davon 24 Frauen, also ungefähr ein Drittel. Bemerkenswert war auch die ungewöhnlich internationale Mischung in diesen frühen Jahren der hfg. In der Zeit zwischen 1953 bis 1960 betrug der Anteil ausländischer Studenten 38 Prozent. Mir fällt ein Kommilitone aus Trinidad ein mit seiner ansteckenden Fröhlichkeit im liebenswürdigen, dunklen Gesicht, oder einer rotgelockt aus Irland mit einem Rosenkranz in der Hosentasche; stark war der südamerikanische Kontinent vertreten, was mit der engen Beziehung von Max Bill insbesondere zu Brasilien zu tun hatte. Schliesslich stammte Tomás Maldonado aus Argentinien. Als Visitenkarte für Ulm entwickelte er ein Grundlehrekonzept und publizierte eine erste Monografie über Max Bill.7 Diese Internationalität tat gut in der sich öffnenden, aus klaustrophobischer Abgeschlossenheit aufbrechenden deutschen Nachkriegszeit.

 

Es war der Name von Max Bill, der als Magnet wirkte, wie auch die über dem Institut schwebende Aureole eines wieder erstandenen Bauhauses. – Auch Max Bense trat mit Seminaren im philosophischen und semiotischen Umfeld bereits während der Grundlehre in Aktion und spitzte seine geistig hoch zielenden Denkgebäude auf die für ihn zum erkenntnistheoretischen Programm werdende Informationsaesthetik zu. In meiner Bibliothek stehen immer noch alle seine Bücher und insbesondere auch frühe Texte. In einem 1948 publizierten kleinen Band von aphoristischem Zuschnitt lese ich beim Blättern diesen Satz: „Die Philosophie ist immanente Lust, zu denken.“8 Genau das hat er in Ulm, von zündendem innerem Feuer getrieben, seinen Studenten ans wissbegierige Herz gelegt und in die angestrengten, kleinen grauen Zellen eingepflanzt. Er sollte zum Spiritus Rektor der „Information“ werden und baute das Lehrprogramm auf, lehrte an der hfg zwischen 1954 und 1958, dann nochmals 1966. Die erste Publikation in seiner „Aesthetica“-Reihe war 1954 erschienen.9 Nicht vergessen sei Elisabeth Walter, die seit 1956 an der Seite ihres Stuttgarter Kollegen (und späteren Ehemanns) in Ulm unterrichtete. Ganz wesentlich war sie am Transfer des informationsästhetischen Gedankengutes beteiligt. Ihr Habilitationsvortrag 1962 an der Universität Stuttgart hatte sich denn auch mit der Begründung der Zeichentheorie bei Charles Sanders Peirce befasst. Sie schrieb über ihre Tätigkeit an der hfg in dem Katalogbuch „ulmer modelle – modelle nach ulm“.10 Diskret untermauerte sie des Professors mit temperamentvollem Körpereinsatz vorgetragenen Thesen. Prägend blieb der theoretische Ansatz, Kunst und Gestaltung im allgemeinen als Zeichensprachen zu verstehen, die ihre eigene Realität und Bedeutungsebenen besitzen. Diese Ebenen kann man erforschen und werten.

 

Gipswürfel auf Wiese
Margit Staber, Quader aus Gips, Grundlehre 1954/55. Foto: Margit Staber
Kugel aus Gips
Margit Staber, Kugel aus Gips, Grundlehre 1954/55. Foto: Margit Staber

Bereits in der Grundlehre ging es nicht darum, dass einer oben sass und dozierte, die anderen unten und erhabenen, professoralen Worten zuhörten. Es gibt Fotografien, auf denen man Kolloquien von Dozenten und Studenten gemeinsam auf der grossen Terrasse an schönen Sommertagen sitzen sieht. Der in den Schulwerkstätten nach dem Entwurf von Max Bill entwickelte, legendäre Ulmer Hocker folgte auch hier hin als universale Sitzgelegenheit. Diskursiv sollte es sein und alle hfg-Aspiranten programmatisch einstimmen, die von verschiedenen Bildungssystemen und Bildungsniveaus herkamen. Die „Moral der Gegenstände“ – um den schön gewählten Buchtitel aufzugreifen – setzte eine verbindliche konzeptuelle „Moral“ voraus. Eine Unité de doctrine, wenn man es so nennen will, bei aller persönlichen Entscheidungsfreiheit. Er wolle Probleme lösen, war ein Lieblingswort von Max Bill, das heisst, die Funktionen einer Aufgabe an den Wurzeln fassen, analysieren und integrieren und schliesslich in eine ausgleichende Form und Gestalt übersetzen. Aber wie diese Gestaltungsform beschaffen sein sollte, das spann sich aus zum sogenannten „Ulmer Stil“. Wir sind dem höheren Ziel funktionaler Klarheit gefolgt, sind ausgebrochen, haben verneint, verfälscht, wieder gefunden, ironisiert und paraphrasiert, vielleicht auch vergessen – geblieben ist die Methodik des Vorgehens. Und vielleicht ist es das, was die Absolventen von Ulm vereint. Sowohl die früh Anwesenden wie die später Hinzugekommenen.

 

Ich reichte meine Diplomarbeit ein, als ich Ulm bereits verlassen hatte. Es war ein Zugeständnis an jene Studierende, die in der Umbruchsphase 1957 ihrem Studienabschluss zustrebten und Max Bill zu einem ihrer Diplomväter zählten. Die Dispute über den pädagogischen Aufbau und das Lehrprogramm strebten einem kontroversen Höhepunkt zu und es war für Unsereins keines Bleibens mehr. Ich war nach Mailand gezogen. Während der Ferien in Ulm hatte ich mehrmals beim Rat für Formgebung in Darmstadt gearbeitet, wo man jeweils die deutsche Abteilung der Triennale Mailand betreute. Man nahm mich gerne ins Team für Mailand auf. Ich konnte zugleich Vorlesungen in Kunstgeschichte belegen und recherchierte eines meiner Diplomthemen. Es ging dabei um einen sogenannten praktischen und einen theoretischen Teil, was im Fall „Information“ keine eindeutige Abgrenzung ergab. Das heisst, als Praxis wählte ich den „Versuch einer Analyse der XI. Triennale Mailand 1957“.

Da befand ich mich nun zum gutem Glück an der Quelle und konnte die Aktualität der Triennale in die Geschichte dieser international aufgegleisten Design-Ausstellung einbinden. Das Thema der theoretischen Arbeit mag befremden, nämlich „Die Verwendung der Begriffe abstrakt und konkret in der Malerei seit 1960“, war die hfg doch dezidiert keine Kunstschule. Wenn ich hinzufüge, dass Max Bill hierfür mein Hauptreferent gewesen ist, zeigt sich der widersprüchliche Charakter des Unternehmens hfg zumindest in den frühen Jahren. In der Abteilung „Information“ kam diese Ambivalenz eklatant zum Ausdruck. Max Bill und Max Bense hatten einer im anderen ihren intellektuellen Kontrahenten gefunden.

Aus den Tiefen meines Schreibtisches habe ich das bescheidene Dokument meines Diploms hervorgezogen: ein gefalteter Karton im Format DIN A5, beide Innenseiten bedruckt. Ich weiss nicht mehr, weshalb ich noch einen dritten Diplom-Teil verfassen musste, wiederum kunstlastig, naheliegend aus dem Kunstdisput Bill/Bense genährt: „Das Quadrat in der Malerei unserer Zeit“. Zu meinen Referenten gehörten ausser Bill und Bense der Schriftsteller Albrecht Fabri, der Architekt Ernesto N. Rogers und die Direktorin des Rates für Formgebung in Darmstadt, Mia Seeger. Alle haben handschriftlich ihre Signatur gegeben. Auch das an der hfg nunmehr zuständige Rektoratskollegium zeichnete handschriftlich: Otl Aicher, Hanno Kesting, Tomás Maldonado. – Es blieb ihnen wohl nichts anderes übrig: Zum Wohle der ihr Pflichtenheft erfüllenden Studenten vereint. Ein versöhnlicher ultimativer Konsens? – Ich habe dieses Dokument für mein Leben nach Ulm nie gebraucht. Der Diplomvermerk hfg in meiner Biografie genügte für weitere Karriereschritte. Vielleicht sollte ich dieses Dokument dem Archiv der hfg einverleiben, oder bei E-Bay versteigern?

 

Ja, hätte ich doch damals ein Tagebuch geführt! Die Abteilung Information war die kleinste Abteilung der neuen Schule. Insgesamt haben nur gerade 14 (oder 15?) BewerberInnnen ein Interesse gezeigt; sechs Frauen dabei, und vier davon verliessen die hfg mit dem Diplom. Ausgangspunkt für die Einrichtung dieser Abteilung war die Ueberlegung, dass Umweltgestaltung ohne entsprechende Vermittlungsstrategien auf verlorenem Posten stünde. Das war zweifellos eine Bill’sche Idee, der als geborener Stratege in der medialen Aufbereitung seiner eigenen, kreativen Produktion gelten darf. – Nun also sollten für Gestaltungsprobleme sensibilisierte Publizisten für Presse, Film, Radio und das im Aufwind befindliche Fernsehen nach demselben Modell ausgebildet werden wie die anderen Fachbereiche Produktform, Bauen und Visuelle Kommunikation: das hiess ganz simpel unmittelbare Verbindung praxisnaher Aufgaben mit entsprechendem, theoretischem Rüstzeug.

 

Margit Staber auf der Baustelle der HfG, 1955. Foto: Immo Krumrey

Unser aller Lehrstück in den frühen Jahren der Schule: das Universum hfg. So arbeiteten anfänglich Studenten mit an der Fertigstellung der Schulgebäude und an deren Einrichtung. Visuelle Kommunikation und Information zogen an einem Strick: heute würde man es Vermarktung, Imagebildung, Herausarbeitung eines Brand mit Identifikationswert nennen. Mit anderen Worten: Unser Tun bestand drin, die Anliegen des Unternehmens, in dem wir tätig waren, also studierten, mediengerecht aufzubereiten, wenn man so will, propagandistisch aktiv zu werden. Denn die Gesamtheit der Schule mit ihrem äusseren Erscheinungsbild, mit ihrem Programm, dem Stil ihrer Produkte, dem Habitus von Lehrern und Schülern sollte sich als Botschaft präsentieren: als Botschaft darüber, wie man sich eine für demokratisches Zusammenleben geeignete, und entsprechend geformte Umwelt vorzustellen habe. So habe ich mancherlei Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Werbebroschüren und andere Texte verfasst. Unter anderem habe ich dabei gelernt, wie man Textmengen bis auf den Buchstaben genau entsprechend den strengen Vorgaben funktionaler Grafik, die das visuelle Schema festlegt, programmiert. Wohlverstanden, eine Ordnungssuche im Kopfe und nicht etwa PC-gesteuert. Nach meinem Studienabschluss, als ich in Zürich um den Aufbau einer beruflichen Basis bemüht war, konnte ich vielerorts mit dem Ideengut der hfg operieren. In Europa, in den USA, in Japan war meine Herkunft von der hfg ein Sesam-Oeffne-Dich für Seminare, Vorträge und Vorlesungen. Ich reiste durch die Welt bis nach Japan, und trug buchstäblich in einem Köfferchen die schöne Mär vom Zauberberg Ulm über eine neu geordnete materielle Kultur mit mir. Verpackt in einem von mir ausgeklügelten und je nach Situation kombinierbaren, aus Text und Bild zusammengesetzten Baukastensystem. Vielleicht waren die aus den Uebungen im hfg-Vorkurs gewonnenen Erfahrungen systematischer Anordnung einer Elementmenge hierbei nützlich? Oder doch eher die logische Kombinatorik der Vorlesungen von Max Bense? – Es kam eines Tages der Moment, an dem ich von alle dem nichts mehr wissen wollte; viele Jahre lang beschäftigten mich andere berufliche Interessen im Umfeld der visuellen Kultur – aber die eigene Geschichte holt einen jeden von uns ein. Immerhin relativiert durch den zeitlichen Abstand in einer perspektivisch sich immer schneller verändernden Gesellschaft und die so hinzugekommene Lebenserfahrung, auch zunehmende Fortschrittsskepsis. Im Jahr 1984 schrieb ich über die frühen Jahre der hfg einen Beitrag für die Schweizer Kulturzeitschrift „Du“, die sich in diesem Heft generell mit der Nachkriegszeit befasste. Mein Titel lautete nun: „Schöne Ziele, schnöde Wirklichkeit?“. Untertitel: „Die hfg Ulm: der Traum einer freien Gestalterschule“.11 Ich wollte sowohl Nostalgie wie Idealisierung vermeiden und doch dem Institut als Ort weltweiter, gestaltungspädagogischer Folgewirkungen und ästhetischer Masstäbe gerecht werden.

 

Die intellektuelle Kernkompetenz meiner Studienjahre an der hfg kreiste zweifellos um die durch Max Bense vermittelten Vorlesungsinhalte mit den daran geknüpften Uebungen. Man könnte seine Methode, wenn man will, auch als Stilübungen definieren und als Vorgriff auf die praktische Anwendung der Sprache für die spätere, berufliche Laufbahn. Denn wir operierten keineswegs in abstrakter Unverbindlichkeit, vielmehr galt es, sich auf ein imaginäres Zielpublikum auszurichten. Das heisst, Information durch vermittelnde Kommunikation weiterzugeben. Erst selbst begreifen, dann sich anderen verständlich zu machen. Binsenwahrheiten eigentlich; jedoch bleibt, zumindest in meinem Fachbereich der visuellen Kultur, das Downgrading auf eine allgemeine Verständnisebene eher die Ausnahme von der Regel. Damals öffnete die Oeffentlichkeitsarbeit für die Anliegen der hfg ein Tor über die geschützte Werkstatt der Schule hinaus. Für mich persönlich ergaben sich beispielsweise Kontakte zur Fachpresse in Architektur und Design. In Beiträgen unter anderen für die Zeitschrift „Form“, die „Zeitgemässe Form“ in der Süddeutschen Zeitung, „Werk“ und „Neue Zürcher Zeitung“ in der Schweiz, für „Domus“ und „Zodiac“ italienischer Provenienz, konnte ich später daran anknüpfen. In meinem 2008 publizierten Buch „Kunst-Stoffe – Texte seit 1960“ 12 ist einiges davon abgedruckt.

 

Margit Staber, 1955. Foto: Immo Krumrey

Mir hat Textbearbeitung im Sinn einer Dienstleistung immer Spass gemacht, bis heute, und mancherlei begrifflich daneben Geratenes hat der in Ulm erworbene Umgang mit Sprache ausgebügelt. Ich verstehe es auch als ein funktionales Denken, das zwischen der zur Diskussion stehenden Sache und dem anvisierten Leserkreis die bestmögliche Beziehung herstellt. Unvergessen jenes Diktum des um drastische Direktheit nie verlegenen Gelehrten Bense: man solle sich, wenn man mit abstrakten Inhalten zu tun habe, immer vorstellen, es handle sich um Aepfel und Birnen. – Gemeinsam mit Abraham Moles gilt der an der Universität Stuttgart (zuvor Technische Hochschule Stuttgart) lehrende Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie als Vater der Informationsästhetik. Von Anfang an umstritten, ist diese etwas in Vergessenheit geraten. Richtiger wäre es wohl, sie als denkerischen Ansatz zu einer Erfassung des rational Aufschlüsselbaren an ästhetischen Prozessen zu verstehen. Mehr als ein halbes Jahrhundert später wäre dieser analytische Ansatz neu zu überdenken nach heutigem Stand der Kunst- und Gestaltungsphilosophie. Im übrigen hat Max Bense stets betont, dass man kreative Inhalte nur bis zu einem gewissen Punkt durch eine „mathematische Denkweise“ erklären könne. Dieser zu einem weithin missverstandenen Schlagwort der Konkreten Kunst gewordene Begriff stammt bekanntlich von Max Bill: und in dieser Auffassung von der schöpferisch innovativen Grenzüberschreitung, welche das Kalkül hinter sich lässt, waren sich die beiden Ulmer Masters of the Universe ganz und gar einig. Dem Ausschweifen erfinderischer Fantasie auf dem Boden logischer Strukturen stand nichts im Wege.

 

Ausgangspunkt für Max Bense – und die um ihn herum an seinem Stuttgarter Lehrstuhl entstandene so genannte Stuttgarter Gruppe – war das in jenen Jahren avantgardistische Forum für experimentelle Literatur. Bense gilt auch als Theoretiker der aus Wortkombinationen gebauten Konkreten Poesie. Das traf sich gut mit Eugen Gomringer, dem Pionier dieser neu aufkommenden Literaturgattung, der in den frühen Ulmer Jahren als Sekretär von Max Bill fungierte. Die Nähe zur Literatur prägte denn auch Benses Vorlesungen; er selbst hat sehr schöne konkrete Gedichte geschrieben, auch publiziert, beispielsweise in dem 1964 erschienenen Bändchen „Die präzisen Vergnügen“. Manches sind aphorismenartig dahin fliessende Sätze. So wie dieser: „Wissen daß das was ausgesprochen wird alles ist was zu sagen ist“.13 Der Geist des österreichisch-englischen Philosophen analytischer Stringenz, Ludwig Wittgenstein, wehte durch die Köpfe. Wir haben dessen ach, so karg formulierten Sätze des „Tractatus Logico-Philosophicus“ durchexerziert.14 Benses Philosophenhimmel reichte von Decartes über Hegel bis zur Kybernetik von Norbert Wiener. Und eines Tages im Sommer 1955 stand der Mann aus Amerika in intellektueller Uebergrösse leibhaftig als Guestlecturer vor der wissensdurstigen Allgemeinheit der Schule und dozierte über „Künstliche Grammatiken für universell anwendbare Sprachen“. Das 1948 publizierte Buch „Cybernetics“ 15 war Wasser gewesen auf Benses informationsästhetische Mühle. Mühsam zu kauendes intellektuelles Brot wurde uns vorgesetzt. Es war oft anstrengend, manches haben wir nicht verstanden und trotzdem Denken als offenes, interaktives Spielfeld des lernfähigen menschlichen Geistes begriffen. Eine Lebensschule.

 

Es ging Professor Bense nicht um Philosophiegeschichte, sondern um Philosophie als Denkvehikel für Wissenschaftstheorie. Das heisst, wir rangen um Verständnis, wie Denkvorgänge ablaufen, wie sie sich strukturieren und interpretieren. Man könnte es eine Komparatistik von Ideen nennen. Selbstverständlich zählte die Argumentation der formalen Logik zum handwerklichen Know How unseres Lernprogramms. Man kam der Sache näher, wenn man im Sinne unseres hochkarätigen Gelehrten ästhetische Prozesse als Zeichenprozesse definierte. Semiotik, das Studium der Bedeutung von Zeichen, wurde in den 1960er und 70er Jahren eine Modewissenschaft, die sich auch der Codes und Bedeutungen von Architektur und Design annahm. Der Begriff Semiotik folgte auf den der Semantik. Diese, die Semantik, gilt als Verschwisterung zur Sprachwissenschaft. Sie nimmt sich der Beziehungen zwischen Sprachsymbolen an. Ein weites Feld tat sich auf, das in Europa insbesondere Umberto Eco für eine intellektuell wache Design-Gemeinde popularisiert hat. Sein von dunklen Geheimnissen durchwobener, spannender Kriminalroman „Der Name der Rose“ (1982) führt semiotisch-semantische Spurensuche in den klösterlichen Alltag des Mittelalters ein.16 Das Buch wurde ein Welterfolg und hätte Max Bense als Probe aufs Exempel für seine pädagogischen Exerzitien dienen können.

 

Wir wurden also für spekulatives Denken über die Welt des ästhetisch „Gemachten“ aufbereitet, das heisst, was Menschen für Menschen erfinderisch gestalten und was uns in der späteren Berufspraxis auf unterschiedlichste Weise beschäftigen würde. Was lässt sich an diesen Vorgängen messen, und was nicht? Wir? Wir waren die fünf Aufrechten aus den Anfängen der Abteilung Information, die heute unvorstellbare Privilegien einer Art Privatissimum genossen, mit der Kehrseite, dass sich niemand ins Unverbindliche blosser Anwesenheit flüchten konnte. Man war gefordert.

Die Minimalzahlen der Abteilung Information haben mich im Rückblick auf die Ulmer Zeit dennoch sehr erstaunt. Mit mir zusammen zu meiner Zeit: Ilse Grubrich Simitis, Cornelia Vargas-Koch und Elke Koch-Weser Ammassari sowie der Mann im Korb Gui (Georg) Bonsiepe, der später eine zunehmend designwissenschaftliche Karriere einschlug. Nicht unüblich, wirkte er nach Studienabschluss weiter als Dozent an der hfg. Welche Neuorientierung den Fachbereich Information nach 1958 bestimmte, und welche Persönlichkeiten daran mitwirkten, müssen die beurteilen, die in dieser zweiten Phase des nach wie vor prekär experimentellen Studienzweiges mit von der Partie waren. Mit Tomás Maldonado setze ein zukunftsgerichteter Optimismus zur Verwissenschaftlichung der Lehrmethoden ein. Diese bezogen sich im wesentlichen auf das weit und unscharf zu definierende Feld Design. Eindeutig berechenbare Lösungen auf der Basis algorithmengesteuerter Computerprogramme, wie schön! Bliebe man auf dem Weg dorthin nur nicht in Strukturen und Systemen hängen. Ich denke, dass die in Ulm ausprobierte Operationalisierung schöpferischer Prozesse nicht als unmitttelbare Fortsetzung der rational geprägten, analytischen und relativierenden Denkweise von Max Bense zu verstehen sind.

 

Prägend blieb der theoretische Ansatz, Kunst im besonderen und Gestaltung im allgemeinen als Zeichensprachen zu begreifen, die ihre eigene Realität und Bedeutungsebenen besitzen. Deshalb: Eigenrealität des Kunstwerkes. Und damit galt es, sich auseinanderzusetzen. Da wäre zudem der feinsinnig mit kritischem Urteil über unsere mehr oder weniger gekonnten Sprachübungen nicht zurückhaltende Schriftsteller und Uebersetzer Albrecht Fabri zu nennen. Und Hans Magnus Enzensberger. Nur wenig älter als wir selbst, brachte er uns etwas bei, das man nach amerikanischem Muster als Creative Writing bezeichnen könnte. Sie alle, die ich erwähnt habe, schärften unser Sprachempfinden und impften uns eine zu begründende Skepsis gegenüber hohlen Phrasen ein. – Alle diese Exerzitien halfen beim Verfassen eines simplen Werbetextes.

 

Erinnerungen sind selektiv, schliessen ein und schliessen aus. Jeder, der dabei war, legt sich im Nachhinein sein eigenes Network hfg ulm zurecht. Andere Persönlichkeiten, andere Gewichtungen werden auftauchen, je nachdem wen man befragt. Hier noch ein kleines Unterrichtsbeispiel – Bense par excellence. Man nehme einen Text von Kafka und schreibe diesen um auf verschiedene Modalitätsebenen. Wir permutierten, variierten und kombinierten das kleine Prosastück „Der plötzliche Spaziergang“ und übertrugen es in andere Sprachwelten, etwa auf einen Poesie- oder Werbestil. Die manipulativen Möglichkeiten von Sprache teilen sich in derartigen Sprachspielen unschlagbar mit. Ausserdem entschlüsselt Sprache sich als vielschichtig im höchsten Grad manipulatives Zeichensystem. Benses Exerzitien hatten Folgewirkungen. Ein Seminar, das ich für ein Freifach an der Kunstgewerbeschule Zürich (heute: Hochschule für Gestaltung) vorbereitete, sollte sich mit dem Lesen einer Tageszeitung in diesem Sinne befassen. Es fand schliesslich nicht statt. Ein Seminar an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien sollte irgend etwas „Museologisches“ bieten. Ich dachte mir, ob Architekten oder Schmuckgestalter, ein jeder kommt einmal in die Lage, einen Katalog zu machen. So schleppte ich einen Koffer vollgestopft mit Kunst- und Design-Katalogen von Zürich nach Wien. Wir analysierten diese, setzten uns mit dem strukturellen Aufbau, dem visuellen Erscheinungsbild, Handlichkeit, Lesbarkeit, Inhalt, Nachhaltigkeit der vermittelten Botschaften auseinander. Und wir entwarfen schliesslich einen fiktiven, eigenen Katalog nach den gewonnenen Kriterien. Das waren für mich die Früchte aus Benses scheinbar so theoretisch abstrakter, geistiger Küche. Scheinbar wirklichkeitsferne geistige Glasperlenspiele lösten unschätzbare Einsichten für uns zukünftige „Wortarbeiter“ aus, – eine Definition von Gert Kalow.17 Ich wiederhole mich: logisches Denken war das eine, der methodische Umgang mit dem unaufhörlichen Fluss der Information, wie diese sich in Gedanken, Bildern, Aussagen niederschlägt, das andere. Das Erkennen der Fallstricke auf dem Weg von der Information zur Kommunikation, das war ein drittes.

 

Eines liegt mir noch am Herzen. Die hfg und die Kunst. Ich habe bereits darauf hingewiesen. Es gab keine künstlerischen Fächer im Lehrplan. Mit Max Bill, Friedrich Vordemberge-Gildewart, Josef Albers hatte die hfg hervorragende Vertreter der konstruktiv-konkreten Kunst in ihren Reihen. Ihre künstlerische Arbeit bot zudem Musterbeispiele für Benses informationsästhetisch interpretativen Ansatz. Selbstverständlich machten auch Studierende Kunst; man nehme Almir Maviginier. Es war nicht anders als früher am Bauhaus, wo unter anderen Paul Klee und Laszlo Moholy-Nagy den Lehrkörper mit malerischem Elan in privater Regie vitalisierten. Und hatte nicht Tomás Maldonado in seiner Heimat Argentinien sich zunächst einen Namen als konkreter Maler gemacht? Im Museum Haus konstruktiv in Zürich habe ich 1991 eine Ausstellung über die argentinische Avantgarde realisiert (Maldonado figurierte darin sowohl als Theoretiker der Bewegung wie als Schöpfer poetisch überhauchter, jedoch streng geometrisch komponierter Bilder.18 Ich darf an einen Text von Maldonado „Ulm im Rückblick“ erinnern und zitiere den folgenden Satz daraus: „Aber in unserem unbegrenzten Methodologismus, dessen negative Implikation – die ‚Methodolatrie‘ – wir schon damals erahnten, gab es auch eine ‚starke‘ Intuitionen, welche die Entwicklung der technischen Informatik, vor allem seit 1963, weitgehend bestätigt hat.“ 19 Elegant wie immer, weiss gekleidet, habe ich Maldonado viele Jahre später an einer Biennale in Venedig nahe der Piazza San Marco angetroffen. Er, Professor an der Universität in Bologna, ich, als Kunstkritikerin, eilenden Fusses unterwegs. Die Milde der älteren Jahre und nostalgische Erinnerungen an die schönen Tage von Ulm trafen sich in der beschwingten Luft der Lagunenstadt.

 

An die von Herbert Lindinger heraufbeschworenen grauen Drillichstoffe mag ich mich nicht erinnern, nur an den üblichen, studentischen Pullover-Club. Wir waren keine griesgrämigen Heilsapostel. Der Bürstenschnitt zeichnete Max Bill aus, auch die zur jeweiligen Hemdfarbe fein abgestimmte Fliege. Josef Albers und Vordemberge-Gildewart zeigten sich als konservativ gekleidete ältere Herren. Auf Fotos aus dem Schulbetrieb sieht man erstaunlich viele Krawattenträger. Es gab fröhliche Feste, es gab Liebespaare in dem Global Village auf dem Oberen Kuhberg, Freundschaften entstanden und bittere Kontroversen unter den um einzelne Lehrkräfte sich bildenden Gruppierungen wurden ausgetragen. Auf jeden Fall war man sich einig, dem beginnenden Wohlbehagen an der Konsumgesellschaft das Beispiel einer als sinnvoller verstandenen Gegenwelt vorzuschlagen. Die hfg ist gescheitert, Folgewirkungen sind geblieben. Bei meiner Lektüre für diesen Erinnerungstext ist mir aufgefallen, dass, je länger je mehr, die hfg ausschliesslich als Design-Schule verstanden worden ist und man sie mit dem sogenannten Ulmer Stil identifizierte. Eine solche fachspezifische Einordnung wird dem Experiment Ulm jedoch nicht gerecht. Es gab unterschiedliche Annäherungen an dasselbe Ziel: nämlich die Voraussetzungen schaffen für eine methodisch untermauerte Kreativität, mit welchen Mitteln auch immer. Man kann dieses Argument auch umdrehen und behaupten: wir waren auf der Suche nach der bestmöglichen kreativen Methodologie. Ich könnte noch viele Namen nennen, angefangen bei Walter Gropius an der Eröffnungsfeier 1955. Ich habe zu Papier gebracht, was mir spontan in den Sinn gekommen ist, gestützt auch auf Texte, die ich schon früher verfasst habe, insbesondere mein Referat im Oktober 2003 anlässlich der Tagung des club off ulm zum 50. Gründungsjahr der Hochschule für Gestaltung Ulm, im Stadthaus Ulm.

 

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Zitation
Margit Staber-Weinberg "Hätte ich doch damals ein Tagebuch geführt! „Information“ an der hfg" in: David Oswald, Christiane Wachsmann, Petra Kellner (eds) Rückblicke. Die Abteilung Information an der hfg ulm. Ulm, 2015, pp. 32-43, online unter http://www.hfg-ulm.info/de/rueckblick_margit-staber.html

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