Ilse Grubrich-Simitis Wie wir trotzdem lernen lernten – Studium an der Abteilung Information der Ulmer Hochschule für Gestaltung
Die Informationsabteilung war die kleinste, die abseitigste, die experimentellste, phasenweise wohl die intellektuell am meisten stimulierende unter den Abteilungen der Ulmer Hochschule für Gestaltung – eine Art Paradiesvogel und zugleich zumindest partiell eine eklatante Fehlkonstruktion.
Rückblicke ihrer Absolventen sollen Lesern von heute so sinnlich-konkret wie möglich vor Augen führen, wie es damals – vor mehr als einem halben Jahrhundert – gewesen ist, an dieser Abteilung zu studieren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Systematik geht es also vor allem um punktuelle Erinnerungen. Zwar hat die Gedächtnisforschung inzwischen nachgewiesen, daß Erinnerungen prinzipiell nichts Statisches sind, daß wir, unter Einbeziehung von später Registriertem, sie vielmehr lebenslang unwillkürlich und unablässig umarbeiten. Das bedeutet jedoch nicht, daß ihnen der Wirklichkeitsbezug abzusprechen wäre. Als ich anfing zurückzublicken, stellte ich fest, daß mir recht zahlreiche, teils überaus detailgenaue Erinnerungen kamen. Manche erfuhren Bestätigung, als ich die HfG-Materialien hervorholte, die noch bei meinen Papieren liegen: darunter das Studienbuch mit den Testaten, Vorlesungsnachschriften, Seminarnotizen, Referate, Textübungen aller Art, ferner – Spuren der Grundlehre – große Blätter mit Tuschzeichnungen logarithmischer Spiralen, mit Modifikation eines Signets in Temperafarben, mit einer irregulären Diametralbewegung der Komplementärfarben in Aquarell, eingefügt in geometrische Umrahmungen, usw.; ich stieß auch auf Überbleibsel unserer Ausbildung in Fotographie, darunter Portraits, Landschaften, Reportagen, experimentelle und persönliche Fotos aller Art. Ungeachtet dieses Materials blieben meine Einzelerinnerungen jedoch relativ isoliert; insbesondere konnte ich sie zumeist zeitlich nicht sicher verankern. Dies gelang erst, als sich, unerwartet, die Hauptquelle auftat.
Ich begann mein Studium im Herbst 1955, unmittelbar nach dem Abitur an der Stuttgarter Waldorfschule Uhlandshöhe, gehörte in der Informationsabteilung also zur ›ersten Generation‹. Schon in der Grundlehre traf ich Elke Koch-Weser, die, in Brasilien aufgewachsen, gleichfalls direkt nach der Reifeprüfung nach Ulm gekommen war. Bald entwickelte sich zwischen uns eine lebenslange Freundschaft. Als wir nun gemeinsam Überlegungen zu unseren Rückblicken anstellten, erinnerte sie sich daran, während ihres gesamten Ulmer Studiums regelmäßig Briefe an ihre in Brasilien lebenden Eltern geschrieben zu haben, die diese über alles informiert halten sollten, was sich auf dem Kuhberg an Berichtenswertem zutrug. Ihre Mutter hatte diese Botschaften, die teils Tagebuchcharakter haben, sorgsam aufbewahrt und ihr später zurückgegeben. Schon die Lektüre von Exzerpten aus diesem einzigartigen Konvolut überzeugte mich davon, daß es sich tatsächlich um die denkbar authentischste, reichhaltigste Hauptquelle handelt. Schlagartig wurde jene so entlegene Zeit in Myriaden von Details aufs intensivste vergegenwärtigt. Dank dieses plötzlich verfügbaren roten Fadens konnte ich meine isolierten Einzelerinnerungen nun chronologisch präziser einordnen und mehr Kohärenz herstellen. Mit ihrer hellwachen, scharfsinnigen und zugleich menschenfreundlichen Beobachtungsgabe, ihren so kritischen wie empathischen Skizzen der dramatis personae, Dozenten wie Studenten, ihren farbigen Schilderungen von Szenen und Ereignissen hat Elke Koch-Weser in ihren oft langen Briefen das Universum Informationsabteilung bzw. Hochschule für Gestaltung festgehalten – und zwar buchstäblich simultan, während es sich entfaltete. Auch unsere innere Erlebniswelt spiegelt sich wider: die Lebensfreude zweier junger Frauen, unsere beim Wiederlesen auch heute noch ansteckende Begeisterungsfähigkeit für intellektuelle Herausforderungen aller Art, aber ebenso unsere Nöte und unsere Verzweiflung angesichts der Unschärfe des Abteilungskonzepts sowie oft willkürlich anmutender, abrupter Veränderungen von Lehrplan und Dozentenauswahl. Dank an Elke Koch-Weser für ihre Zustimmung, daß ich in meinem Text immer wieder aus ihren für diese Rekonstruktionsarbeit unentbehrlichen Briefen zitieren darf, aber auch für die vielen klärenden Gespräche, die wir während der Arbeit an unseren Rückblicken miteinander geführt haben.

I. Studium an der Abteilung Information
1 Lehrplan, Abteilungskonzept, Ausbildungsziel – in ständigem Wandel
Bekanntlich reichen die frühesten Wurzeln der HfG bis zur unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von Inge Scholl gegründeten, in der Anstrengung des Wiederaufbaus bald weithin renommierten Ulmer Volkshochschule zurück. Zum Gedenken an ihre von den Nazis 1943 wegen ihrer Widerstandstätigkeit im Rahmen der ›Weißen Rose‹ hingerichteten Geschwister, Hans und Sophie Scholl, sollte eine Geschwister-Scholl-Hochschule entstehen, eine Institution vorwiegend politischer Bildung und Ausbildung. In einem Programm aus dem Jahre 1949 heißt es: »Eine Schule, die sich der heutigen Jugend annimmt, wird notwendigerweise zu einer Art Forschungsinstitut. Statt den Kopf mit Kenntnissen vollzustopfen, wird es darauf ankommen, Auge und Sinn zu schärfen. Eine solche Schule kann keinen festen Lehrplan haben. Er wird sich aus den Ergebnissen der laufenden Arbeit heraus gestalten.«1 In einem aus dem selben Jahr stammenden Typoskript, ›Vorbereitung zum Prospekt 1949‹, findet sich eine ähnliche Aussage: »Der Schule liegt weniger daran, durch theoretische Vorlesungen eine Anhäufung von Wissen zu vermitteln; zuerst wird der Schüler durch eine kritische Pädagogik, die ihn dauernd zur Rechtfertigung seiner Arbeit zwingt, zum selbständigen methodischen Denken und Handeln«2 herangebildet. Andere Stichworte aus diesem Text: statt »zur Nachahmung«, Erziehung der Schüler zur »Experimentierfreudigkeit« und »zur eigenen Initiative«. Und wieder: diese Erziehung gegen »Spezialistentum« sollte »nicht auf dem Wege über einen starren Lehrplan« erreicht werden.
Was weniger bekannt sein dürfte: schon in der ersten Gründungsphase, also ehe Max Bill Anfang 1950 die Bühne betrat, spielten, laut einer neun Phasen umfassenden rückblickenden Darstellung Otl Aichers, ehemalige Bauhäusler 3 eine Rolle: sie hatten, beeindruckt von der innovativen Kraft der Ulmer Volkshochschule, vorgeschlagen, »in verbindung zu dieser volkshochschule das bauhaus wieder auferstehen zu lassen«4. So mag erklärbar werden, warum laut dem zitierten frühen Typoskript zu den Formen des politischen Lebens folgende vier Bereiche praktischer Tätigkeit gehören sollten: »Das gedruckte und gesprochene Wort in Presse und Rundfunk«, »Das Bild in Zeitschriften, Auslagen, Ausstellungen und im Film«, »Die Geräte des Alltags und der Arbeit« und schließlich »Die Gestaltung der Wohnung und die Anlage der Stadt«. Man wird in diesen Bereichen der Geschwister-Scholl-Hochschule unschwer die Keime der späteren vier Abteilungen der Hochschule für Gestaltung erkennen: Information, Visuelle Kommunikation,5 Produktgestaltung, Bauen. Information, wohlgemerkt, an erster Stelle. Otl Aicher hatte betont, daß es im Vergleich zum Bauhaus eine Neuheit gewesen war, »textierung als gleichwertige gestaltungsdisziplin wie grafik-design, produkt-design oder bauen«6 aufzufassen.
Wie diese Novität als Abteilung zu konzipieren sei, wurde permanent reformuliert, neu definiert. Max Bill vertrat, verglichen mit der Gründergruppe, ein eher reduktionistisches Konzept; eine Hauptfunktion der Informationsabteilung könne darin bestehen, über Arbeit und Aufgaben von Gestaltern öffentlichkeitswirksam zu informieren. In der Liste der Abteilungen nahm sie nun den letzten Platz ein.7 Stets blieb das Ausbildungsziel eher vage umschrieben. Laut einem Lehrplan vermutlich aus dem Jahre 1953 8 sollte es sich auf Presse, Rundfunk, Werbung richten. Später kam das neue Feld des Fernsehens hinzu. In einem gedruckten Programm vom Dezember 1957 sind außer diesen Tätigkeitsgebieten noch Verlag und Film erwähnt.9
Am Ende unserer Grundlehre waren Elke Koch-Weser und ich jedenfalls noch in den Frühsommermonaten 1956 von Zweifeln geplagt, ob wir uns für die Abteilung Visuelle Kommunikation oder die Abteilung Information entscheiden sollten; hinsichtlich der Informationsabteilung bezogen sich diese Zweifel auch auf die Tatsache, daß wir, frisch vom Abitur, noch über keinerlei solide Wissensbasis verfügten, auf die wir eine spätere publizistische Tätigkeit hätten gründen können. So suchten wir Rat bei Tomás Maldonado, zu dem wir während der Grundlehre Vertrauen gefaßt hatten. In ihrem Brief vom 29. Mai 1956 an die Eltern hat Elke Koch-Weser dieses Gespräch und viel von der damaligen Aufbruchsstimmung der HfG eingefangen: »[…] er fand, einfach anfangen, in einer der beiden Abteilungen, man kann dann ja noch wechseln. Und mit der Vorbildung, das würden wir übertreiben. Schließlich will die Schule keine Durchschnittsmenschen erziehen – es sollen Menschen mit Überblick sein, die die Dinge ganz erfassen, umgestalten, die Persönlichkeit besitzen, etwas zu leiten, sei es einen Verlag oder eine Fernseh-Sendestelle. Er möchte nicht irgendwelche mittlere Angestellte in die Welt schicken, von denen natürlich all das klein-praktische Wissen verlangt wird. […] Ja, ein Experiment wäre es eben für ihn, wie für uns alle.« Unsere realistischen Bedenken, ob wir nach einem Studium an der Abteilung Information eines Tages würden solide beruflich arbeiten und unseren Lebensunterhalt verdienen können, fanden also nur bedingt Gehör. Immerhin mag Maldonados unkonventioneller, ein wenig grandioser, uns jedenfalls in die Überdurchschnittlichkeit mitreißender Schwung dazu beigetragen haben, daß wir uns schließlich doch für die Informationsabteilung entschieden; heftige Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung begleiteten uns freilich bis zum Schluß.
2 Das reale Studium
Nun – je nach Erinnerungsintensität – selektiv zu bestimmten Dozentengestalten, Lehrinhalten und Lernerfahrungen sowie einigen dauerhaft prägenden Eindrücken.
2.1 Kuriose Grundlehre
Gleich zu Beginn der Grundlehre hatte Elke Koch-Weser am 28. Oktober 1955 ihren Eltern zuversichtlich signalisiert: »Viel kann man lernen« und wenige Tage später, am 16. November, hinzugefügt: »Also hierbei lernt man was!«. Was es im ersten Jahr im einzelnen gewesen ist, läßt sich aus unseren Studienbüchern nicht rekonstruieren; sie wurden erst nach unserer Grundlehre eingeführt. Wiederum repräsentieren Elke Koch-Wesers Briefe sowie ihre Vorlesungsnachschriften die reichste Quelle.10 Es gab quasi-enzyklopädische Kompaktkurse zur Vermittlung von Allgemeinwissen. Bei Hans Curjel sollten wir uns in kleinen Arbeitsgruppen eine »Übersicht über die letzten 50 Jahre« aneignen. Ich meine mich zu erinnern, daß ich der Arbeitsgruppe Architektur–Plastik–Malerei die erste stupende Blicköffnung auf die heute »klassische«, damals absolut neue Moderne verdankte: in der Waldorfschule war ich äußerstenfalls bis zu Franz Marcs ›Turm der blauen Pferde‹ vorgedrungen, nun staunte ich erstmals über Malewitschs suprematistische Kompositionen oder Mondrians ›Broadway Boogie-Woogie‹.11 Ähnlich unauslöschliche Spuren hat der andere kulturhistorische Kompaktkurs in mir nicht hinterlassen: Eugen Gomringer, heute als Vater der Konkreten Poesie renommiert, damals Sekretär Max Bills, sollte uns in die Literatur einführen; Elke Koch-Wesers prägnante Vorlesungsnotizen bezeugen, daß es so gut wie nichts gab, was nicht flüchtig, allzu flüchtig vorgekommen wäre. Dagegen vermittelte Helge Pross, junge Wissenschaftlerin am Frankfurter Institut für Sozialforschung, wo nach ihrer Rückkehr aus dem Exil Max Horkheimer und Theodor W. Adorno lehrten, uns einen konzisen Begriff des Verhältnisses Individuum/Gesellschaft sowie der Geschichte der Soziologie als Wissenschaft. Bereits in der Grundlehre fanden wir uns in Vorlesungen über moderne Logik der rhetorischen Wucht Max Benses ausgesetzt: mitten in Elke Koch-Wesers Mitschrift steht, doppelt unterstrichen und noch zusätzlich mit zwei kleinen Pfeilen hervorgehoben, der Satz: »Rationales Denken ist kontrollierbar + nachprüfbar«, also gleichsam Einübung ins HfG-Credo. Otl Aichers früher Typographie-Unterricht, die Darstellung verschiedener Schriftarten und ihrer historischen Entwicklung, die Erläuterung von Schriftgrößen sowie von Druckprozessen kam meinem bereits in der Schulzeit entstandenen begeisterten Interesse für Bücher, Buchgestaltung und Buchherstellung entgegen.
Rückblickend kommt es mir so vor, als hätten wir, zukünftige Studenten der Informationsabteilung, nicht wenig Grundlehre-Zeit vergeudet, jedenfalls prima vista. Am Reißbrett bemühten wir uns darum, mit Reißschiene, Reißzeug bzw. Pinsel Tusche, Tempera- und Aquarell-Farben äußerst präzise aufzutragen. Als ich kürzlich in dem Ausstellungskatalog ulmer modelle – modelle nach ulm/hochschule für gestaltung ulm 1953 – 1968 12 unter einem schönen Blatt mit dem Titel ›Störung eines isometrischen Gebildes‹ – einem quadratischen quasi-konkreten Bild, bestehend aus 484 farblich aufs raffinierteste abgestimmten Klein-Quadraten – meinen Namen las, konnte ich dem nur mit amüsiertem Fremdheitsgefühl Glauben schenken. Es war in einem Kurs Tomás Maldonados entstanden;13 möglich, daß Elke Koch-Weser in ihrem Brief vom 17. Januar 1956 sogar beschrieben hat, worum es damals ging: »Bei Maldonado eine neue Aufgabe: aus Symmetrieelementen (Drehung, Spiegelung und Verschiebung) eine Struktur aufbauen, die als Komposition gut ist, aber nicht als Ornament wirkt. Eigentlich fast alle wurden ornamental, richtig spannend, da nun diese Eigenschaft auszumerzen.« In anderen Briefen ist von den abstrus schwierigen, technisch kniffligen Aufgabenstellungen die Rede, die in den Werkstätten zu bewältigen waren – in Metallwerkstatt, Gipswerkstatt 14 und Fotolabor. Einzig die praktische Foto-Schulung machte uns Freude und schien mit unseren Berufsvorstellungen etwas zu tun zu haben; zudem hatte die Ausstellung The Family of Man; The greatest photographic exhibition of all time – 503 pictures from 68 countries, zusammengestellt von Edward Steichen für das New Yorker Museum of Modern Art, die 1955/56 sogar in der noch weithin abgeschotteten Bundesrepublik gezeigt wurde, uns fasziniert.
Offensichtlich hatte man es versäumt, beim Nachdenken über die in den Bauhaus-Traditionen wurzelnden HfG–Grundlehre jene Neuheit angemessen zu berücksichtigen, daß nun Textierung als vermeintlich »gleichwertige Gestaltungsdisziplin« hinzugekommen war. Erst nach unserer Grundlehre wurde dieses Versäumnis korrigiert. Anwärtern auf die Informationsabteilung blieb, mit Ausnahme des Fotolabors, Werkstattarbeit sowie technisches Zeichnen hinfort erspart; stattdessen sollten sie eine Einführung in die Publizistik erhalten.15
2.2 Denken lernen: Tomás Maldonado, Max Bense, Horst Rittel
Tomás Maldonado war der Leiter unserer Grundlehre gewesen. Auf eine leise Weise begleitete er – tatsächlich als einziger unter allen Dozenten – unser gesamtes Studium an der Informationsabteilung. In einem Brief vom 25. Februar 1957 erwähnt Elke Koch-Weser, diese Abteilung sei sein »Lieblingskind« gewesen, und in dem zitierten Rückblick auf die neun Entwicklungsphasen der HfG hatte Otl Aicher konstatiert, in der dritten Phase, das heißt, ehe Max Bense die Leitung der Informationsabteilung übernahm, habe Maldonado bereits »den lehrplan für informationstheoretische und methodische fächer«16 entwickelt gehabt. Jedenfalls taucht sein Name in meinem Studienbuch ab 1957 häufig auf, und zwar sowohl auf der linken Seite, auf der die »mitwirkung an praktischen arbeiten« testiert ist, als auch auf der rechten, die »theoretische Arbeiten« sowie »teilnahme an den seminaren« festhält. Unter den praktischen Arbeiten sind 1957/58 unter dem Übertitel ›Zeichentheorie‹ zwei erwähnt: ›Degradation eines Ikons‹ sowie ›Präzisierung visueller Zeichen durch verbale und umgekehrt‹; sodann unter dem Übertitel ›Wahrnehmungstheorie‹: ›Untersuchung über Signets‹.17 Auf der Seite der theoretischen Seminare ist seit Oktober 1957 ununterbrochen bis zum Ende des Studiums sein grundlegendes und grundlegend neues Zeichentheorie/Semiotik-Seminar angeführt.
Zwar war Maldonados Forschungsziel die Entwicklung eines innovativen eigenen ›Beitrags zur Terminologie der Semiotik‹, zugleich aber nahm er uns auf eine Epochen und Kontinente durchquerende, nicht selten atemberaubende intellektuelle Expedition mit. Indem er uns an seinem eigenen Lernen teilhaben ließ, lehrte er uns, wie es geht. Durch das Mitvollziehen der Lektüren unseres inspirierenden Lehrers haben wir nicht zuletzt lesen gelernt. Wie meine verblassenden Mitschriften bezeugen, wurden wir hier, stets unter zeichentheoretischem Blickwinkel, mit Stoffen aus Linguistik, Sprachtheorie, Phonologie, Informationstheorie, Rhetorik, Ästhetik usw. konfrontiert sowie mit Autoren wie Nikolai Trubetzkoy und Ferdinand de Saussure, Russell, Wittgenstein und Ryle, C. K. Ogden, I. A. Richards und Charles W. Morris usw. bekannt gemacht, die seinerzeit noch an kaum einer Universität der Bundesrepublik geläufig waren. Dies mag eine Anekdote illustrieren: als ich 1961 Jürgen Habermas in Frankfurt kennenlernte, sprachen wir über mein Ulmer Studium; daraufhin bat er mich um Photokopien bestimmter Passagen meiner Mitschriften bzw. der aus Ulm mitgebrachten Fachliteratur aus dem Semiotik-Bereich.
In meinem Studienbuch steht unter der Rubrik ›Theoretische Arbeiten‹ die Unterschrift von Max Bense erstmals hinter einem Referat, das ich in seinem Kurs im ersten Jahr an der Informationsabteilung über ›»Natürliche Sprachen und Kunstsprachen« von Heinrich Scholz‹ hielt. Anscheinend ging es um eine Arbeit des damals gerade verstorbenen mathematischen Logikers Heinrich Scholz, Mitbegründers der modernen Informatik, und Bense hatte handschriftlich »Gutes« vor das Wort Referat gesetzt; eine Freundlichkeit, denn normalerweise enthielten Studienbücher keine Benotungen. Zwischen Oktober 1956 und April 1958 sind Benses Seminare unter den lakonischen Titeln ›Kommunikationstheorie‹, ›Informationstheorie‹, ›Ästhetik‹, ›Morphologie‹ eingetragen und testiert. Welche Gestalt die Informationsabteilung unter seiner dynamischen Leitung annehmen sollte, hatte er im Herbst 1956 in der von Alfred Andersch herausgegebenen literarischen Zeitschrift Texte und Zeichen sozusagen im voraus veröffentlichen lassen, nicht als von ihm signierten Text, sondern in Form einer redaktionellen Mitteilung dieser Zeitschrift in der Rubrik ›Materialien‹, unter dem Titel: ›Ein experimenteller Lehrplan für Information an der Hochschule für Gestaltung, Ulm/Klasse Prof. Max Bense‹.18 Im vorliegenden Band 19 können die Leser den vollen Wortlaut dieses chiffreartigen Curriculums nachlesen. Sie mögen staunen, in wie konträre Himmelsrichtungen das studentische Interesse gelenkt werden sollte: von »Allgemeine nachrichtentechnische Themen« über »Versuche über Rastertechniken, Raffertechniken und Montagetechniken […]« sowie »Versuche über Dingstil und Funktionstil, Fabelstil und Reflexionsstil« bis zu »Allgemeine cybernetische Probleme der Information und konstruktive Sprachgestaltung« usw. Kaum verwunderlich, daß allenfalls ein Bruchteil der angekündigten Stoffe im realen Unterricht Max Benses behandelt wurde, ehe er die HfG im April 1958 verließ.
Der zentrale Satz dieses experimentellen Curriculums, gleich zu Anfang, lautet: »Der Plan optiert radikal für eine Betrachtung von Texten – vom ›einfachen‹ Gebrauchstext bis zur Dichtung – auf das Maß von Information hin, das sie enthalten.« Das Maß war ein mathematisches; denn Bense, von Hause aus Physiker und Mathematiker, hatte die Informationstheorie zur absoluten Grundwissenschaft unserer Abteilung auserkoren, eine ursprünglich aus Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik entwickelte mathematische Theorie, die nun auf die verschiedensten Zeichensysteme, auch auf Kunst, angewandt werden sollte. Bald regte sich in uns Widerspruch: wir meinten, daß zentrale Textdimensionen sich mittels informationstheoretischer Verfahren nicht erfassen, geschweige denn messen ließen, insbesondere natürlich die semantische Dimension, die der Bedeutung. In ihren Briefen an die Eltern hat Elke Koch-Weser immer wieder unsere Bedenken gegen diese einseitige, an naturwissenschaftlichen Kriterien orientierte, tendenziell anti-hermeneutische Zugangsweise zum Ausdruck gebracht. Besonders beklagte sie damals, daß Bense »einfach nicht verstehen will, […] und nicht eingeht auf Argumente, wenn sie ihm nicht passen«.20 Trotzdem konnte man bei diesem temperamentvollen, ungebremst autoritären Hochschullehrer, einem fesselnden Redner, methodisch denken lernen. Die Entwicklung einer informationstheoretischen Ästhetik war damals wohl sein primäres Forschungsinteresse.21 In seinen zahlreichen Veröffentlichungen insbesondere über avantgardistische literarische Werke und ihre Autoren, darunter Gertrude Stein, Henri Michaux oder Francis Ponge, sowie in seinen Aphorismen 22 entdeckten wir sensible, künstlerische Seiten unseres Lehrers, die uns für ihn einnahmen. Und nicht zuletzt war Bense, »existentieller Rationalist«, damals – in der muffigen Frühphase der Bundesrepublik, als es zumal von klerikaler Seite Versuche zur Einschränkung der Meinungsfreiheit gab – ein mutiger Freidenker und Aufklärer gewesen. Am 29. März 1957 berichtete Elke Koch-Weser nach Brasilien, an der Schule herrsche Aufregung, weil Bense an jenem Tag in der Donau-Zeitung wegen »seines Nihilismus angegriffen wurde, und man drohte, sich bei dem Curatorium der HfG für baldiges Entlassen eines solchen nicht ›qualifizierten‹, ›demoralisierenden‹ Dozenten einzusetzen«.23 Was wir damals nicht wußten: Bense war Gegner des NS-Regimes gewesen und hatte noch 1944 ein Widerstandsmanifest als Manuskript kursieren lassen, in dem er sich zur ›Weißen Rose‹ bekannte.24
Ab April 1958 war der junge Horst Rittel, von Hause aus gleichfalls Mathematiker und Physiker, für die bis dahin von Bense unterrichteten Fächer zuständig. In meinem Studienbuch sind seine Seminare unter den Titeln ›Informationstheorie‹, ›Wissenschaftstheorie‹ und ›Mathematische Operationsanalyse‹ festgehalten. Im Unterschied zum rund zwanzig Jahre älteren Bense, der als Professor der dortigen Technischen Hochschule in Stuttgart residierte, lebte und wohnte Rittel auf dem Kuhberg und widmete sich freudig und hingebungsvoll ausschließlich seinen pädagogischen Aufgaben, wobei er nicht ein mitgebrachtes Steckenpferd ritt, sondern offen und unvoreingenommen die hochspezifischen Themen dieser experimentellen Design-Hochschule ins Zentrum stellte. Das Blättern in meinen ungewöhnlich umfangreichen, mit unzähligen mathematischen Formeln, mit Schemata, Tabellen, Flußdiagrammen usw. ausgestatteten Mitschriften bekräftigte meinen Erinnerungseindruck, daß dies, über einen längeren Zeitraum, womöglich der systematischste Unterricht gewesen ist, den wir während unseres Studiums genossen haben und daß man im Austausch mit diesem sprühenden, humorvollen Lehrer gleichfalls methodisches Denken üben konnte. Freilich passten seine Methoden und Begriffe sowie seine vorrangige Beschäftigung mit Planungs- und Entscheidungsprozessen besonders gut zu den Problemen, mit denen sich die Studenten der Abteilungen Produktgestaltung und Bauen konfrontiert sahen.25 Wir, die wir mit der Umgangssprache arbeiten wollten, konnten kaum etwas von Sprachanalysen profitieren, die sich auf die statistische Untersuchung spezifischer Verteilungen von Sprachelementen wie Wörtern, Silben, Lauten bezogen. Auch bei Rittel stand so gut wie ausschließlich die syntaktische Text-Dimension im Zentrum.26
2.3 Schreiben lernen: Hans Magnus Enzensberger, Albrecht Fabri, Gert Kalow, Rundfunkpraktika
Das Schreiben umgangssprachlicher Texte ganz verschiedener Art sollte ja von Beginn an von den Absolventen der Informationsabteilung geübt werden. Auf der für das Testat solcher praktischen Übungen vorgesehenen linken Seite meines Studienbuchs steht anfangs: ›textierung hans magnus enzensberger‹. Er tauchte also gleich zu Beginn, schon im Oktober 1956 auf, verschwand aber bereits vor Weihnachten wieder. Wir begegneten gewissermaßen dem Grundmuster des großen Hans Magnus Enzensberger. Daß er Lyriker sei, glich damals eher einem Gerücht; denn sein erster, sogleich großes Aufsehen erregender Gedichtband die verteidigung der wölfe erschien ja erst 1957. Damals knapp siebenundzwanzig Jahre alt, glich der aufgeschossene, schmale, vibrierende junge Mann, dessen Blitzgescheitheit einem buchstäblich entgegenschoß, selbst fast noch einem Abiturienten. Seltsamerweise finden sich in meinen Papieren keinerlei Spuren der Schreibübungen, die er mit uns gemacht hat. In meinen Erinnerungen gibt es einen einzigen scharf umrissenen Bezirk: zu meiner damaligen Verblüffung, vielleicht auch Enttäuschung, bestand die – möglicherweise überhaupt erste – gänzlich unpoetische Textierungsübung darin, aufgrund der am betreffenden Tag eingetroffenen Informationen einen Bericht über die augenblickliche Lage der internationalen Krise um den Suez-Kanal zu schreiben. Schnörkellos, keinerlei Kommentierung, nichts als knappe, genaue, möglichst objektive Faktenmitteilung. Enzensberger, erfahrener Rundfunkredakteur, wollte uns das Formulieren eines Nachrichtentexts beibringen.
Auf derselben Seite meines Studienbuchs ist unter ›übersetzung textierung‹ vermerkt, daß Albrecht Fabri schon im Januar 1957 an Enzensbergers Stelle trat. Er blieb bis zum Juni jenes Jahres, also gleichfalls nur einige Monate. Die wenigen Seiten, die ich in meinen Papieren als Überbleibsel seines Wirkens gefunden habe, verraten noch den Sprachperfektionisten, der er gewesen ist. Sie haben fast aphoristischen Charakter. Tatsächlich war der Aphorismus das Textgebilde, das ihn am meisten faszinierte. In meinen Mitschriften steht: »der aphorismus ist ein satz, der allein stehen kann. […] im allgemeinen verlangen satzgefüge ihre fortsetzung. […] jede prosa ist prinzipiell fortsetzbar. ein aphorismus vollendet sich immer in sich selbst.« Als besondere Form des Textierens sollte Fabri offenbar das Übersetzen aus dem Französischen mit uns üben. Anstatt mit einfachen Prosatexten zu beginnen, überforderte er uns mit dem Schwierigsten, beispielsweise der Übertragung von Sentenzen aus den Cahiers von Georges Braques oder von Paul Valéry. Die Aporien des Übersetzungsvorgangs wurden auch theoretisch begründet, etwa durch Lektüre und Diskussion von Walter Benjamins Vorwort ›Die Aufgabe des Übersetzers‹ zu seiner Baudelaire-Übersetzung. Unmittelbar erinnern kann ich mich an Inhalte des Fabri-Unterrichts nicht, eher an die ernste, gedrückte Atmosphäre. Aber vielleicht habe ich dort erstmals begriffen, daß die Mühsal klaren, dichten Schreibens nicht nur unvermeidlich, sondern am Ende auch lohnend ist – und sei es, um sich befreit davon abwenden zu können: ja, genau so muß dieser Satz lauten, so kann er stehen bleiben.
Als Anfang Oktober 1957 Gert Kalow den Unterricht im praktischen Textieren übernahm, bot er das Kontrastprogramm. Elke Koch-Weser hat diesen uns überraschenden Dozentenwechsel in einem Brief an die Eltern schon am 8. Oktober treffend kommentiert: »Fabri wurde durch Gert Kalow, Schriftsteller und Journalist, ersetzt. […] Fabri war mir ja von Anfang an so abgelebt […] vorgekommen, unzufrieden mit sich und seiner Situation, quälte sich um jedes Wort und brachte keinen von uns dazu, frei und spontan mal etwas zu schreiben. Gut, wir lernten bei ihm, kritisch Texte zu betrachten. Kalow hat einen viel realeren approach – er gewöhnt uns die Schreibhemmungen eilig ab. Stellt Aufgaben, gibt nur 1/2 Stunde Zeit, jagt einen, analysiert dann jeden Satz jedes Stückes und gibt das nächste Thema. Etwas nervenaufreibend, aber als Journalist muss man ja schnell schreiben können, zumindest. Er ist eine angenehme Persönlichkeit und gut in der Kritik.27 […] Die Kritik dauert immer länger als die Schreibzeit.«
Wie ich in meinen Papieren sehen konnte, waren es oft kurze, kaum mehr als eine halbe Seite umfassende Texte, die auf diese Weise entstanden, Umsetzungen visueller Sinneseindrücke, beispielsweise die Beschreibung einer von ihm mitgebrachten afrikanischen Holzmaske oder des Fotos eines Ausschnitts von Rodins ›Die Bürger von Calais‹. Wir diskutierten Textformen aller Art, die Charakteristika eines Essays, die Regeln von Buchkritik, Theaterkritik, Filmkritik. Wir sollten aus einer kleinen Zahl vorgegebener Substantive ein Gedicht – und sei es ein Unsinnsgedicht – konstruieren sowie die surrealistische Sentenz »Elefanten sind ansteckend« glossieren oder auch selbst automatische Texte schreiben. Kalow versuchte uns zu zeigen, was Stil, Rhythmisierung, Gliederung bedeuten und wie man einen Spannungsbogen erzeugen kann. Den sorgsamen Umgang mit Texten anderer, also das Redigieren, wollte er uns gleichfalls beibringen. Gemeinsam schrieben wir ein Hörspiel sowie Werbetexte für die Firma Braun. Auf eine fröhlich-lockere Weise gab er unserer kleinen Gruppe sogar Einführungen in die Sprachphilosophie von Platon über Leibniz, Hamann, Herder bis Hegel sowie ins Presserecht. Fürsorglich informierte er uns über Möglichkeiten publizistischer Berufstätigkeit.
Als für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunkanstalten tätiger Kritiker war er im literarischen Leben gut vernetzt. So verfügte er, noch ehe der alsbald berühmte Erstlingsroman 1959 in den Buchhandel gelangte, wohl über ein Vorausexemplar der Blechtrommel, und wir konnten abends in seiner Dozentenwohnung aus dem Buch einander vorlesen: das Interesse daran war nicht zuletzt deshalb groß, weil der noch gänzlich unbekannte Günter Grass nicht lange davor in der Mensa einen unvergeßlichen Auftritt gehabt hatte: im Oktober 1958 hatte die Gruppe 47 in Isny im Allgäu getagt und Grass’ Lesung aus dem Blechtrommel-Text prämiert. Die Teilnehmer feierten den Abschluß der Tagung mit einem Fest in der HfG, und Grass tanzte den ganzen Abend offensichtlich in Hochstimmung wild mit einem kleinwüchsigen Mädchen, das in der Küche der HfG-Mensa arbeitete.28
Schon in einem Lehrplan mutmaßlich aus dem Jahre 1953 29 hatte es im Hinblick auf die Absolventen der Informationsabteilung geheißen: »Während des jeweils 4. Quartals arbeiten die Studierenden als Volontäre in Redaktionen und Werbebüros.« Ein erstes Praktikum dieser Art, von Bense und Enzensberger eingefädelt,30 absolvierten Elke Koch-Weser und ich bereits im April 1957 am Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart, und zwar, je zwei Wochen, sowohl am damals gerade eingeführten Fernsehen als auch in der von Alfred Andersch 1956 etablierten innovativen Rundfunkabteilung ›Radio-Essay‹. Dort lernten wir das Schreiben von An- und Absagen sowie von Zwischentexten bei Serien, Pressenotizen, lasen und beurteilten Essays und Features, machten uns mit technischen Aufnahmeprozessen vertraut 31 und konnten die aufgeheizten, teils hämischen Kommentare der intellektuell anspruchsvollen Rundfunkredakteure gegen die für oberflächlich erachteten Fernsehleute beobachten. Die Unruhe eines Umbruchs im Bereich der modernen Massenmedien lag in der Luft. Besonders lebhaft sind meine Erinnerungen an den Kontakt mit Helmut Heißenbüttel, damals ›Radio-Essay‹-Redakteur, der tagtäglich an seinem Schreibtisch arbeitete und sich um uns kümmerte, wohingegen Alfred Andersch nur gelegentlich hereinschaute, mich aber einmal mit dem spontanen Geschenk der Hefte seiner literarischen Avantgarde-Zeitschrift Texte und Zeichen beglückte, durch die ich nicht zuletzt Heißenbüttels frühe ›Abstrakte Prosa‹32 kennenlernen konnte. Nicht lange danach absolvierte ich noch ein weiteres Volontariat, diesmal am Hessischen Rundfunk in Frankfurt, in der gleichfalls exzellenten Abteilung ›Abendstudio‹33 unter der Leitung Adolf Frisés, als Musil-Herausgeber renommiert. Erich Franzen, Dozent an der HfG, pflegte dort Essays zu veröffentlichen und auch selbst zu sprechen; bei der Aufnahme eines Texts über William Faulkner habe ich im Studio zugehört. Es dürfte Franzen gewesen sein, der die Verbindung zu diesem abwechslungs- und lehrreichen Praktikum für mich gebahnt hatte.
2.4 Zwei Solitäre: Käte Hamburger, Erich Franzen
Beide waren Remigranten und gehörten zu den wenigen älteren unter den Dozenten. Käte Hamburger war gerade sechzig und erst kürzlich aus dem schwedischen Exil zurückgekehrt, als sie im Oktober 1956 uns in Literaturgeschichte und Literaturtheorie zu unterrichten begann, Erich Franzen, zeitgleich für Soziologie zuständig, knapp vierundsechzig. Ich kann mich noch daran erinnern, wie sehr mich sogleich beider Gesicht beeindruckte (in Elke Koch-Weser Ammassaris Rückblick finden sich Fotographien): Intensität und Substanz ihrer Persönlichkeit, entstanden in Jahrzehnten gelebten Lebens, spiegelten sich darin ebenso wider wie die Leuchtkraft ihres Intellekts. Als beide – für uns überraschend – verschwanden, Käte Hamburger bereits im März 1957, Franzen zum Jahresende 1957, schrieb Elke Koch-Weser am 27. April 1957 an ihre Eltern: »Leider hat man unserer Abteilung Franzen und Hamburger entzogen, weil sie es nicht ganz so machten, wie Bense es sich vorstellte. Ersetzt werden sie nicht, denn wir müssen ja mehr Zeit zum Schreiben haben, was richtig ist, nur ist uns all das sympathische Bensegegengewicht genommen.«
Obwohl eine Kleingruppe, unterrichtete uns Käte Hamburger in kompakter, klassischer Vorlesungsform. Als ich jetzt die erhalten gebliebenen Mitschriften 34 durchsah, erinnerte ich mich an ein Interview, das sie viel später gegeben hatte; sie sagte dort: »Philosophie war mein Hauptfach im Studium, und ich glaube, meine Arbeiten sind davon geprägt, daß ich von philosophischen Gesichtspunkten her an die Literatur herangegangen bin.«35 Davon war, wie die Mitschriften bezeugen, auch die Einführung in die Welt des antiken Dramas geprägt, die sie uns in ihrem Zyklus ›Literaturgeschichte‹ gab; gleichzeitig mit der attischen Tragödie war ja die sokratisch-platonische Philosophie entstanden. In den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellte Käte Hamburger den Motivkreis der Orestie und demonstrierte in strengen formalen Analysen ihre These, daß philosophisch-ethische Probleme im Zeitablauf viel reichere Variationsmöglichkeiten böten als psychologische – und zwar nicht nur an den verschiedenen antiken Dramatisierungen des Atriden-Stoffs durch Aischylos, Sophokles und Euripides, sondern auch an der Wiederkehr dieses mythologischen Materials in der neueren Dramenliteratur bei Goethe, Hauptmann, Hofmannsthal, Giraudoux, O’Neill usw. Zumal in ihren Vorlesungen über Sartres Die Fliegen, das während der deutschen Besatzung entstandene verschlüsselte Résistance-Stück, unterrichtete sie uns gleichzeitig über Genese und Kontext der Existenzphilosophie bzw. des Existentialismus.
In dem erwähnten Interview hatte Käte Hamburger betont, daß das philosophische Denken ihre Grundlage sei, bezeuge insbesondere ihr Hauptwerk Die Logik der Dichtung.36 Dieses berühmte, für die Germanistik wegweisende Buch war, als die Autorin an unserer Abteilung lehrte, noch gar nicht publiziert gewesen. Im Vorlesungszyklus über ›Literaturtheorie‹ genossen wir also das Privileg, früher als die Öffentlichkeit Käte Hamburgers innovatives Denken kennenzulernen. Mit ihrem Begriff des ›epischen Präteritums‹, unmittelbar aus den logischen und grammatischen Strukturen von Dichtungen abgeleitet, hatte sie ein Kriterium für die Fiktionalität von Texten erarbeitet: durch eine »zunächst paradox anmutende Bedeutungsveränderung« verliert in dramatischer und epischer Literatur »das Präteritum seine grammatische Funktion, das Vergangene zu bezeichnen«.37 Es sei vielmehr ein Indiz für Fiktionalität. Auch in ihren Ulmer Vorlesungen hatte sie dies u. a. an dem Satz erläutert: »Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen war Weihnachten«.38 Eines der verblüffenden Ergebnisse dieser methodologischen Neuorientierung auch der Poetik war eine Änderung der Gattungseinteilung: im Unterschied zu Epik und Dramatik handelt es sich bei der Lyrik, laut Käte Hamburger, um eine tatsächliche Wirklichkeitsaussage. Erzählende und dramatische Dichtung vermitteln »uns das Erlebnis der Fiktion oder der Nicht-Wirklichkeit […], während dies bei der lyrischen Dichtung nicht der Fall ist«.39 Die drei Gattungen seien also nicht gleichgeordnet. Rückblickend stelle ich mir vor, daß etwas anderes uns damals am meisten beeindruckt haben dürfte: Käte Hamburger befaßte sich in ihren kristallklaren logischen Analysen über weite Strecken mit syntaktischen Strukturen von Texten. Zugleich aber blieben Unerschöpflichkeit und Tiefe der semantischen Sprachdimension nicht nur im literaturgeschichtlichen, sondern eben auch im literaturtheoretischen Vorlesungszyklus ständig einbezogen.
Auf den ersten Blick wirken die Mitschriften, die ich von Erich Franzens Veranstaltungen unter meinen Papieren fand,40 thematisch extrem weit gefächert. Eine Erklärung dafür dürfte nicht zuletzt in seinem Verfolgungsschicksal 41 zu finden sein, von dem wir damals allerdings nichts wußten. Er, von Hause aus Jurist, Literaturwissenschaftler, Soziologe und Sozialpsychologe, hatte sich schon Ende der Zwanziger Jahre als Literaturkritiker einen Namen gemacht. Als er ins amerikanische Exil gehen mußte, brach diese Karriere ab; um dort an der Universität Fuß fassen zu können, mußte er sich u.a. der empirischen Sozialforschung sowie der Testpsychologie zuwenden. In seinen Lehrveranstaltungen, u. a. Kursen über ›Literatur und Gesellschaft‹, ›Soziologie der Kommunikation und Information‹ und ›Theorie der Propaganda‹,42 konnten wir von seinem Wissensreichtum und seinem Scharfsinn profitieren. Er machte uns mit der empirischen Methode der in den USA entwickelten Inhaltsanalyse (content analysis) bekannt. Gemäß ihren Kategorien und Codierungsregeln unternahmen Gui Bonsiepe und ich eine Analyse von Wahlplakaten aus dem Bundestagswahlkampf 1957, dem dritten seit Gründung der BRD. Darin ging es insbesondere um eine Untersuchung der verwendeten Symbole in Text und Bild sowie der Korrelationen der Symbole untereinander und schließlich der Adressatengruppe, auf die Einfluß genommen werden sollte, also des »Propagandaobjekts«.
Entsprechend der Leidenschaft des Literaturkritikers, der Franzen vor seiner Emigration gewesen war, standen literarische Themen häufig im Zentrum seines Unterrichts. Die komplexe Relation Literatur/Gesellschaft erläuterte er beispielsweise an theoretischen Schriften von André Malraux und Georg Lukács. Andererseits regte er uns an, die historisch-soziologische Kontextualisierung bestimmter literarischer Einzeltexte selbst auszuprobieren. So hielt ich ein Referat über Kleists ›Michael Kohlhaas‹. Franzen legte Wert darauf, daß wir dabei stets so nah wie möglich am Wortlaut des jeweiligen Autors arbeiteten, also in prägnanter Auswahl auch Zitate verwendeten. Unter meinen Papieren findet sich noch ein anderes Dokument dieser besonderen Schulung. Sein Titel lautet ›Seismogramm in zwanzig Zitaten‹. In Gestalt charakteristischer Sätze aus Giorgio Vasaris Renaissance-Künstlerviten von Filippo Brunelleschi und von Lorenzo Ghiberti sollte, verbunden durch eigene erläuternde Zwischentexte, der Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft veranschaulicht werden.
Unter unseren Lehrern verkörperte Erich Franzen vielleicht am markantesten den Typus des umfassend gebildeten kritischen Intellektuellen. Hierfür noch zwei Beispiele: Nach dem durch das NS-Regime bewirkten Bruch in seiner Wirkungsgeschichte war das Werk Sigmund Freuds noch Mitte der fünfziger Jahre in der jungen BRD so gut wie unbekannt.43 Franzen aber bot einen Kurs über Grundbegriffe der Psychoanalyse an und ließ über die beiden soziologisch gewichtigen kulturtheoretischen Texte Das Unbehagen in der Kultur sowie Totem und Tabu referieren. Das zweite Beispiel: Mitten in einer auf den 3. Juni 1957 datierten, gewiß etwas simplifizierenden Mitschrift einer seiner Vorlesungen steht: »wir besitzen die Realität nicht, wir haben sie nur durch das symbol. das symbol ist weitgehend gesellschaftlich vermittelt.« Gegen diesen Hintergrund gesehen, erscheint es plausibel, daß der damals neu erschienene Band Language, Thought and Reality mit Essays von Benjamin Lee Whorf 44 zur Hypothese eines sprachlichen Relativitätsprinzips Franzen fasziniert hatte. Kurz ehe er aus der HfG ausschied, stellte er mir die Aufgabe, über den in dieser Sammlung enthaltenen Essay ›Languages and Logic‹ zu berichten.
Immer wieder hatte Franzen auf die Begrenztheit des informationstheoretischen Zugangs bei der wissenschaftlichen Untersuchung von Zeichen und Sprache, aber auch bei der Vorbereitung auf einen publizistischen Beruf unverblümt kritisch hingewiesen. Ähnlich wie bei Käte Hamburger war in seinem Unterricht die semantische Dimension stets gegenwärtig; sie war vorrangig. Beide verkörperten also in unserem Studium tatsächlich das von Elke Koch-Weser seinerzeit treffend diagnostizierte notwendige »Bensegegengewicht«.

2.5 Sehen lernen: Typographie, Fotographie
In meinem Studienbuch finden sich nur wenige Spuren des Unterrichts in Typographie.45 Für Oktober bis Dezember 1957 ist der erfahrene Typograph Anthony Frøshaug eingetragen, der aus London nach Ulm berufen worden war. Friedrich Vordemberge-Gildewart, ehemaliges Mitglied der De Stijl-Gruppe, lehrte nicht nur Typographie, sondern erörterte in seinem ›Fachgeschichte‹-Seminar im ersten Quartal des zweiten Studienjahrs auch historische Beispiele, etwa die typographischen Experimente von Kurt Schwitters und El Lissitzky mit dem Layout des Merz-Magazins. Eine notwendige Zwischenbemerkung: als ich später in den großen Museen immer wieder vor Vordemberge-Gildewarts wunderbar klaren Bildern stand, verspürte ich stets eine Art Schuldgefühl; im Klima der ideologischen Kunst-Verpönung 46 an der HfG hatte ich damals den Rang dieses leisen, höflichen Lehrers als Künstler, auch er ein Remigrant, nicht erkannt.
Die wenigen Blätter aus dem Typographie-Unterricht, die sich noch unter meinen Papieren finden, bezeugen immerhin eine recht intensive Beschäftigung mit dem Objekt Buch. Beim Korrekturlesen eines zweispaltigen Drucktexts hatte ich schon damals die einschlägigen Korrekturzeichen geübt. Ferner ist die Bleistiftzeichnung eines aufgeschlagenen Buchs mit Textzeilen erhalten geblieben; alle wichtigen Termini sind sorgfältig am Rande notiert – von Satzhöhe, Satzbreite und Satzspiegel über Signatur, Bund, Einzug, Marginalien und Pagina bis lebende Kolumnentitel und Schmutztitel. Es gibt auch eine Liste zur ›Gliederung eines Buches‹, dreigeteilt in den römisch paginierten Titelbogen, den arabisch paginierten Buchtext sowie den Anhang. Die genaue Zusammensetzung der drei Teile wird anschließend noch weiter spezifiziert. So finden sich beim Titelbogen Angaben über Form und Inhalt der Impressumsseite. Anhand dieses Schemas und seiner Kategorien führten wir ›typographische Analysen‹ konkreter literarischer und wissenschaftlicher Bücher durch: einerseits von William Faulkners Old Man und Alfred Döblins Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende, andererseits von Theodor W. Adornos Prismen; Kulturkritik und Gesellschaft, 1955 bei Suhrkamp erschienen, und J. M. Bochenskis Formale Logik, 1956 vom Verlag Karl Alber veröffentlicht.
Der Unterricht in Schwarzweiß-Fotographie begann bereits in der Grundlehre und begleitete das gesamte Studium an der Abteilung Information. Dank einer Einführung in die Labortechnik entwickelten wir unsere Filme und stellten Vergrößerungen unserer Aufnahmen selber her. Wolfgang Siol, ab Mitte 1956 Leiter der Foto-Werkstatt, zeigte uns, wie Objekte bei Veränderung der Beleuchtung fotographisch ganz verschieden dargestellt werden können. Nach dem Vorbild der Bauhaus-Methode László Moholy-Nagys sollte das Experimentieren mit Fotogrammen uns helfen, ein Gespür für die Gestaltung von Flächen zu entwickeln. Entdecken und Fotographieren von Strukturen in der Außenwelt dienten der Übung unserer Wahrnehmungsfähigkeit für Details in flächiger Wiederholung. Dankbar erinnere ich mich an eine ermutigende Bemerkung Wolfgang Siols, die mich seither begleitet hat – auch auf vielen Reisen, auf denen ich später mit Freude privatim mit der Kamera malte. Er sagte beim Betrachten meiner Fotos einmal, ich hätte etwas, was man nicht lernen könne, »den Blick«.
Unsere Dozenten für Fotographie waren nacheinander im ersten Studienjahr Ernst Scheidegger, im zweiten Tom Rago aus Chicago und im dritten Christian Staub. Als Magnum-Mitarbeiter sowie als Reportage-Fotograph von Künstlern, insbesondere Alberto Giacomettis, war Scheidegger damals bereits renommiert; unter seiner Anleitung entstand u.a. eine Serie von Schneelandschaft-Fotos 47 und eine Reportage über den Zirkus Sarrasani, der damals in Ulm gastierte. Nicht nur auf den filigranen Schneefotos ist, durch Raureif akzentuiert, ein formalistisch-ästhetisches Moment unverkennbar. Auch in der Zirkusreportage gibt es Fotos der Trapezkünstler im Gegenlicht, die sie wie körperlose, konstruktivistische Figurationen aussehen lassen. Allerdings weiß ich nicht mehr, ob dies ein Lernergebnis war oder eher einer persönlichen Vorliebe entsprach. Andere Fotos der Zirkusserie bezeugen ganz unmittelbar die gespannte Faszination der Zuschauer, zumal in Kindergesichtern, oder den Alltag der Zirkusleute, die wir auch vormittags aufsuchten, fotographierten und interviewten. Die dokumentarische, erzählerische Zielsetzung gewann im Unterricht Christian Staubs programmatisch Vorrang. Die Bilder einer Badeanstalt-Reportage illustrieren dies. Beispielsweise ist eines der Fotos quasi ein Nachkriegsstilleben: auf der Betonstufe einer Tribüne entlang des Schwimmbeckens steht ein linker Herrenschuh; daneben liegt eine Beinprothese mit entsprechendem rechtem Schuh, Kniestrumpf und ledernem Oberschenkel-Schaft samt Schnallen. Jedoch finden sich auch in dieser Reportage vielerlei formale Merkmale, beispielsweise die bewußte Auswahl von Gegensätzlichem für ein und dasselbe Foto: statische Ruhe/Bewegung, Alter/Jugend, geometrische Muster/figürliche Muster.
In den Typographie-Lektionen wie in den Fotokursen wurde unser Augenmerk immer wieder ausdrücklich auf die Wechselbeziehung von Bild und Text, Foto und Schrift gelenkt.

2.6 Studieren in vorfeministischer Zeit
Die ›erste Generation‹ an der Abteilung Information bestand aus einem Studenten und vier Studentinnen. Das war für die HfG-Absolventenpopulation eine untypische Geschlechterverteilung. Von den insgesamt 642 dort Studierenden waren nämlich nur 98 Frauen gewesen, also nicht mehr als rund 15%.48 Obwohl in der HfG offiziell Gleichstellung als selbstverständlich galt, gab es gelegentlich Andeutungen von Frauendiskriminierung, allerdings nur in witzelnder oder ironischer Form. Drei Beispiele:
Kürzlich stieß ich im Band mit den Rückblicken der Abteilung Visuelle Kommunikation zufällig auf eine Skizze, die Samuel (Hermann) Roth, Student an dieser Abteilung, 1957 gezeichnet hatte.49 Sie gehört zu einer Reihe köstlicher Dozentenkarikaturen. Primär ging es dem Zeichner also um Tomás Maldonado, der sein skeptisch-fürsorgliches Auge unverkennbar auf uns drei Informationsstudenten richtet: auf Gui Bonsiepe und, wie wir damals genannt wurden, die beiden »information sisters«, Elke Koch-Weser und mich. Die drei werden freilich nicht als gleich groß, sprich gleichrangig dargestellt. Zwar werden die Mädchen in graziler Haltung gezeigt, ausgestattet mit hübschen weiblichen Körpermerkmalen. Aber die Größendifferenz Lehrer/Schüler, die zwischen Maldonado und der Dreiergruppe besteht, scheint sich zwischen Gui Bonsiepe und uns fast zu wiederholen. Er, körperlich realiter nicht viel größer als wir, führt uns wie Kinder an der Hand. Sein buchstäblich überragender, der Kopfgröße Maldonados entsprechender egg head signalisiert mächtige intellektuelle Überlegenheit.
Die beiden anderen Beispiele gehören zu den besonders detailgenauen unter meinen HfG-Erinnerungen. Wie eingangs erwähnt, war ich am Ende der Grundlehre noch unsicher, für welche der beiden Abteilungen, Visuelle Kommunikation oder Information, ich mich entscheiden sollte. Max Bense seinerseits suchte händeringend nach Bewerbern für »seine« Informationsabteilung. Einmal, als ich nach dem Mittagessen in der dafür bestimmten Sitzecke der Mensa Zeitung las, unternahm er einen energischen frontalen Überredungsversuch, wortreich beschreibend wie viel interessanter, intellektuell anspruchsvoller das Curriculum der Informationsabteilung zu werden verspreche im Vergleich zum Lehrplan der Visuellen Kommunikation und wie viel besser ich dorthin passte. Von mir nicht bemerkt, hatte Max Bill in der Nähe gestanden und zugehört. Plötzlich trat er hinzu und sagte dem Sinne nach spöttisch zu Bense, vielleicht bloß um ihn zu provozieren: er verstehe gar nicht, warum er sich so anstrenge; es lohne sich doch gar nicht, Frauen eine derart aufwendige Ausbildung angedeihen zu lassen; wenn sie nicht gerade häßlich seien, würden sie ja doch heiraten und Kinder kriegen; zu Berufstätigkeit komme es gar nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob und was Bense geantwortet hat. Dagegen ist mir mein eigener Ärger über Bills Bemerkung, die ich natürlich ernst genommen hatte, im Gedächtnis geblieben. Vielleicht hat er etwas davon mitbekommen. Denn wenig später – inzwischen hatte ich mich für das Studium an der Informationsabteilung entschieden – schenkte er mir das kleine soeben erschienene Büchlein Max Bill 50 mit einer Widmung.
Die dritte Begebenheit: Die von Andrea Schmitz vorzüglich geführte Bibliothek der HfG war ein ruhiger Arbeitsort. Gerne hielt ich mich dort zum Lesen auf. Einmal kam der als gescheit und scharfzüngig geltende Claude Schnaidt vorbei, damals Student an der Abteilung Bauen, und rief mir zu, was ich denn da läse. Ich sagte es ihm – es war ein philosophischer Text, den Autor habe ich vergessen. Nicht aber Schnaidts schmunzelnd-süffisante Reaktion: »Man muß ein Mann sein, um das zu verstehen.«
Warum diese beiden Beispiele sich meinem Gedächtnis derart eingeprägt haben und warum ich, als ich jüngst Roths Zeichnung sah, amüsiert sogleich etwas für jene vorfeministische Zeit Typisches eingefangen fand, hängt gewiß mit meiner eigenen damals zwiespältigen inneren Einstellung zusammen. Einerseits wollte ich unbedingt viel lernen, studieren, arbeiten, berufstätig werden, andererseits war ich zutiefst unsicher, ob diese Männer nicht doch recht hätten, ob ich als Frau dazu überhaupt in der Lage sein würde. Aus Elke Koch-Wesers Briefen an die Eltern geht hervor, daß wir diese für unsere Generation gewiß typischen Zweifel und Selbstzweifel teilten. So heißt es in einem frühen Brief vom 7. Juni 1956: »Schlimm, dass man immer zweifelt, ob man sich all dies zutrauen darf, aber versuchen muss man ja irgendetwas!« Von Gui Bonsiepes intellektueller Überlegenheit scheinen wir bis zum Schluß, bis zur mündlichen Diplomprüfung überzeugt gewesen zu sein. Im Brief vom 22. Juni 1959 steht: »Gui, von uns nach seiner Aufregung befragt, trat sehr sicher in seinem eleganten grauen Anzug, seiner Goldbrille und seiner schweinchenfarben-rosa Seidenkrawatte auf. Wir befürchteten, dass er am frühen Morgen [er wurde als erster geprüft] das Niveau derart heraufschrauben würde, dass wir viel Mühe hätten.« Dem weiteren Brieftext über den Prüfungsverlauf ist zu entnehmen, wie unbegründet diese Befürchtung gewesen war; am Ende hatten wir uns besser geschlagen als er. Mehrfach werden in den Briefen Überlegungen angestellt, wie es zu vermeiden sei, »Blaustrumpf und ›verachtete‹ Intellektuelle zu werden«.51 Wie zur Bekräftigung von Max Bills Intervention heißt es in einem Brief vom 26. Januar 1957: »Vielleicht sind Frauen sympathischer, wenn sie nicht so viel Intellekt zeigen. […] Doch dann ist Ilses und mein Witz manchmal: Information studieren und jeden Abend beten: lass uns doch bitte heiraten.«

Aus den Briefen geht nicht zuletzt hervor, daß wir damals allen Ernstes für möglich hielten, dieses besondere Studium könne unseren Sinn für Schönheit im Alltag, etwa beim Arrangieren von Blumen, ja unsere Weiblichkeit insgesamt beschädigen. Über beides verfügten wir; beides genossen wir. Um etwas Geld zu verdienen, arbeiteten wir gelegentlich als Mannequins für das Modehaus Walz, das »teuerste und mondänste Geschäft« am Ort.52 Vor allem aber hatten wir den größten Spaß beim Entwerfen und Herstellen unserer analogen, stets sehr femininen, sehr eleganten Faschingskostüme. Vielleicht hatte ja diese Gewohnheit uns den Namen »information sisters« eingetragen. Wir entdeckten den Mini-Rock wieder, Jahre, ehe dies 1962 allgemein geschah, und wir trugen Sackkleider. Alljährlich während der legendären HfG-Karnevalsveranstaltungen bedienten wir hinter der geschwungenen Mensa-Bar die Gäste, in unseren vielbeachteten Phantasie-Kostümen. Die beiden letzten – hier abgebildet – kreierten wir für die Feste vom 6. und 9. Februar 1959, zu denen mehr als tausend Besucher kamen. Elke Koch-Weser berichtete ihren Eltern am 19. Februar darüber: »Ilses und mein Kostüm waren beide Male wieder gleich […]. Beim ersten Mal Ilses rosa und meines hellblau: empire-unterrockartiges Kleid mit dickem Volant, schwarzen Strümpfen und weißem Tüll-Topfhut mit Papierrosenkranz in verschiedenen Rosa- bzw. Blautönen […]. Beim zweiten Mal wurde das schwarze Sackkleid vom letzten Fasching etwas modifiziert und hinzukam ein sehr strenger, schwarzer, flacher zylindrischer Hut mit weißen Kunstblumengeweihen drauf, was uns die Metapher eines jungen deutschen Genies ›Hirsche im Schnee‹ eintrug.«

2.7 Konfrontation mit der Shoa: Alain Resnais’ Film ›Nacht und Nebel‹, der Ulmer Einsatzgruppen-Prozeß
Auch wenn die Institution, an der wir studierten, nicht Geschwister-Scholl-Hochschule hieß, so wußten wir doch, daß am Anfang aller Planungen für die Hochschule für Gestaltung das Gedenken an die hingerichteten Geschwister Inge Scholls gestanden hatte sowie die Entschlossenheit einiger engagierter Ulmer Bürger, gruppiert um Inge Scholl 53 und Otl Aicher, das Vermächtnis der beiden Ermordeten zu verwirklichen – in Gestalt der Förderung einer freien demokratischen politischen Kultur in der jungen Bundesrepublik Deutschland und ganz konkret vor allem auch in der Stadt Ulm selbst.54 Was mich heute mehr wundert als damals: davon war im Unterricht und im Studienalltag tatsächlich so gut wie nie die Rede. In Gesprächen mit Elke Koch-Weser konnte ich mich jetzt vergewissern, daß dies keine Erinnerungstäuschung meinerseits ist, sondern daß, als wir dort studierten, ein eher apolitisches, gewissermaßen geschichtsloses Klima herrschte. Der Blick war auf die Zukunft fixiert. Daß es eher selten zu Begegnungen mit Inge Aicher-Scholl kam, der primären Zeitzeugin, die aber nicht zum Lehrkörper gehörte, reicht als Erklärung nicht aus. Der Hauptgrund dürfte in der radikalen Veränderung des Gründungskonzepts zu suchen sein, in jener Umwidmung der ursprünglich geplanten politischen Bildungsanstalt für das neue westdeutsche Staatswesen, der Geschwister Scholl-Hochschule, in ein Lehrinstitut für Design, eben die Hochschule für Gestaltung mit ihrer Orientierung am Bauhaus und ihrer kosmopolitischen Internationalität.55
Diese Geschichtsvergessenheit passte seltsamerweise zu der in der restaurativen Bundesrepublik der fünfziger Jahre gleichsam stehengebliebenen bleiernen Zeit.56 Es ist heute nicht mehr vorstellbar, in welchem Ausmaß die Nazi-Verbrechen, erst viel später in ihrer wahren Dimension durch die Namen Holocaust und Shoa dauerhaft der Alltagssprache eingeprägt, damals noch komplett verleugnet werden konnten – eine so gut wie totale Ausblendung aus dem kollektiven Gedächtnis, die infolge der Bindung des öffentlich-politischen Interesses, international wie national, an die Herausforderungen des Kalten Krieges lange Zeit unauffällig blieb.
Dann geschah etwas, was in der HfG, jedenfalls für einige der dort Arbeitenden, plötzlich eine Umkehrung der Blickrichtung erzwang. Meiner Erinnerung nach ohne längerfristige Vorankündigung, erfuhren wir, daß am Abend ein Dokumentarfilm über Konzentrationslager gezeigt würde. Wie wir jüngst zu rekonstruieren versuchten, war Elke Koch-Weser damals offensichtlich verreist gewesen; denn sie hat den Film nicht gesehen; er wird auch in ihren Briefen an die Eltern nicht erwähnt. Hingegen gehört seine Vorführung anscheinend auch für Gui Bonsiepe zu den unauslöschlichen Erinnerungen aus der Ulmer Studienzeit. Im HfG-Archiv finden sich keine Spuren davon57; es ließ sich also auch nicht feststellen, wer die Vorführung in der Hochschule veranlaßt hatte. Gui Bonsiepe und ich vermuten, daß sie bereits 1956 erfolgte, also bald nach Fertigstellung des Films Ende 1955 – Uraufführung am 8. Mai 1956 in Cannes, allerdings nicht im Wettbewerb, weil die bundesrepublikanische Regierung Einspruch dagegen erhoben hatte –, jedenfalls ehe er hierzulande ab Ende 1956, nach heftigen öffentlichen Debatten, in Kinos dem allgemeinen Publikum zugänglich gemacht wurde. Ob jemand uns damals etwas zur Einführung sagte und ob man nach dem Ende des nur gut eine halbe Stunde dauernden Films noch zusammenblieb, weiß ich nicht mehr. Meine Erinnerung an die erste Konfrontation mit der Shoa durch den Film ›Nacht und Nebel‹ ist von einer Aura des Unvorbereiteten, des Überwältigenden, der Unterbrechung der Zeiterfahrung und ihrer dauerhaften Aufspaltung in ein Davor und ein Danach verbunden, Merkmalen eines tendenziell traumatischen Erlebnisses.
Alain Resnais, der große Regisseur des Themenkreises Trauma/Vergessen/Erinnerung, hat seinen Film kontrapunktisch aufgebaut:58 in langen Kamerafahrten zeigt er in Farbe Überreste des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, wie er sie 1955 vorgefunden hatte – die grünen Sträucher und Gräser, die mittlerweile zwischen den Bahngleisen gewachsen waren, auf denen einst die verriegelten Waggons heranrollten, die nicht mehr elektrisch geladenen, teils eingerissenen Stacheldrahtzäune, die leeren Innenräume der Baracken mit den dreistöckigen Bettgestellen. Im Wechsel sind dann in Schwarz-Weiß, nicht selten an den identischen Orten und in bewegten Bildern, Auszüge der katastrophischen dokumentarischen Fotos und Filme eingefügt, die bei der Befreiung 1945 aufgenommen wurden, 1955/56 in der breiten Öffentlichkeit noch so gut wie unbekannt. Mittels dieses kontrapunktischen Verfahrens, das die fast idyllisch anmutenden Überreste des Konzentrationslagers den unumstößlichen optischen Beweisen des dort faktisch begangenen Verbrechens, in realistischer Chronologie, gegenüberstellt, hat Resnais die Shoa erstmals sichtbar gemacht. Indem er das Geschehene der am markantesten Wirklichkeit vermittelnden Sinnesmodalität, dem Sehen, erschloß, zeigte er auf eine Weise, die dem Zuschauer eigenes Nachdenken gleichwohl nicht gänzlich unmöglich macht, daß diese Vergangenheit in der Gegenwart fortwirkt. Wie der behutsame Kommentartext Jean Cayrols, in Paul Celans deutschsprachiger Fassung, gegen Schluß zu verstehen gibt: es ist menschenmöglich, daß der psychotische Kosmos des Rassenwahns derart in Wirklichkeit umgesetzt wird.
Später kam es noch zu einer zweiten Konfrontation mit der Shoa. Mehrfach nahmen wir Studenten an den Verhandlungen des sogenannten Ulmer Einsatzgruppen-Prozesses teil. Er fand zwischen April und August 1958 im Schwurgericht Ulm statt. Angeklagt waren Angehörige eines Einsatzkommandos, die 1941 an Massenerschießungen jüdischer Kinder, Frauen und Männer an der litauisch-deutschen Grenze beteiligt gewesen waren. Es war der allererste große Prozeß dieser Art vor einem bundesrepublikanischen Strafgericht.59 In ein und demselben Raum hatten wir erstmals tatsächliche Täter direkt vor Augen, die bis dahin ein bürgerliches Leben führten, und konnten Überlebenden und Augenzeugen bei ihren Aussagen zuhören.
Am Ende meines Studiums an der Abteilung Information war ich nicht davon überzeugt, mit dieser Ausbildung für das Berufsleben ausreichend vorbereitet zu sein. Wären die Mittel vorhanden gewesen, hätte ich vielleicht sogleich noch ein weniger experimentelles Studium anschließen wollen. Im folgenden werde ich nur solche Ausschnitte meiner späteren Arbeit schildern, die einen direkten oder zumindest indirekten Zusammenhang mit dem zu haben scheinen, was ich einst an der HfG lernte.
II. Aus der Arbeit danach
1 Als Lektorin in der wissenschaftlichen Abteilung des S. Fischer Verlags
1.1 Wie ich zu S. Fischer kam
Die Verlegerin Brigitte Bermann Fischer, Tutti genannt, war eine Freundin Inge Aicher-Scholls. Das Buch Die Weiße Rose erschien seit 1955 in der Fischer Bücherei,60 dem Taschenbuchzweig von S. Fischer. Nach langjährigem Exil in verschiedenen Ländern hatten Brigitte und Gottfried Bermann Fischer ihren Verlag 1950 in Frankfurt am Main neu etabliert. Bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gehörte der französische Germanist Pierre Bertaux, damals jung wie sie selbst, zu Tuttis Freunden, als der Verlag in Berlin, noch unter Leitung ihres Vaters Samuel Fischer, im Zentrum der Hochblüte kulturellen Lebens stand. Pierre Bertaux, später renommierter, radikaler Hölderlin-Forscher, hatte während der deutschen Besetzung eine führende Rolle in der Résistance gespielt und einige Jahre eine politische Karriere verfolgt. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre war er mit seinem offenen, beweglichen Intellekt fasziniert gewesen von den Folgewirkungen einer sich rasch entwickelnden technisch-industriellen Weltzivilisation sowie von auf diese Herausforderungen antwortenden neuen wissenschaftlichen Fachgebieten und Methoden, insbesondere Kybernetik und Informationstheorie. Mit seinen Suchbewegungen passte er gut zur HfG-Mentalität. Jedenfalls kamen er und die Verlegerin eines Tages nach Ulm, um mit Horst Rittel, dem dafür zuständigen Dozenten, ein Gespräch zu führen. Es dürfte 1958 gewesen sein;61 ich war bei diesem Treffen in Rittels Atelierwohnung dabei und lernte so Brigitte Bermann Fischer und Pierre Bertaux kennen; denkbar, daß Tutti Inge Aicher-Scholl zuvor gefragt hatte, ob es in der Informationsabteilung Studenten gäbe, die sich für Verlagsarbeit interessierten. Jedenfalls schlug Tutti bald nach Abschluß meines Studiums vor, zu Beginn des Jahres 1961 nach Frankfurt zu kommen und als Lektorin in ihrem Verlag zu arbeiten. Diese Stadt war, wie sich bald zeigen sollte, für Verlagstätigkeit in der Bundesrepublik damals der denkbar beste Ort. Hier wirkten noch andere große Verleger, Rudolf Hirsch oder Siegfried Unseld, sowie bedeutende Lektoren, Walter Boehlich, Günther Busch oder Klaus Reichert.
Es gab, gibt ein für Außenstehende kaum erkennbares Verbindungsgeflecht zwischen dem S. Fischer Verlag und der Hochschule für Gestaltung, diesen beiden Institutionen und den sie prägenden Persönlichkeiten. Fischer ist der Verlag, in dem im Laufe der Jahre zahlreiche weitere Publikationen über die Geschwister Scholl herauskamen.62 Hier veröffentlichte Otl Aicher einige seiner eigenen, von ihm selbst gestalteten und ausgestatteten Bücher.63 Außerdem entwarf er Umschläge und Layout für die bei S. Fischer publizierte Werkausgabe Ilse Aichingers; sie hatte einst eine Zeitlang im Lektorat des S. Fischer Verlags wie auch an der Ulmer Volkshochschule gearbeitet. Nicht lange nach Beginn meiner Tätigkeit im S. Fischer Lektorat bemerkte ich, daß von meinen Kollegen schöne zweisprachige, jeweils zweibändige Editionen der Werke von Henri Michaux 64 und Francis Ponge,65 Lieblingsautoren Max Benses, vorbereitet wurden. Die Wiedererkennungsfreude wiederholte sich Jahre später, als Günther Busch die große deutschsprachige Ausgabe von Paul Valérys Cahiers 66 auf den Weg brachte, eines Lieblingsautors von Albrecht Fabri. Als ich 1989 im vom S. Fischer Verlag veröffentlichten Band Jüdische Portraits mit Photographien und Interviews von Herlinde Koelbl blätterte, kam es, wie bereits erwähnt, quasi zu einer Wiederbegegnung mit Käte Hamburger. Sie berichtete in dem mit ihr geführten Interview, sich an ihre schwedische Exilzeit erinnernd: »Ich hatte 1945 mein Buch über Thomas Manns Josephs-Roman veröffentlicht, im Berman[n]-Fischer-Verlag, der ja damals in Stockholm residierte.«67 Sie war also schon Fischer-Autorin gewesen, ehe die Thomas-Mann-Verleger Gottfried und Brigitte Bermann Fischer aus der Emigration zurückkehrten.
Zwei der Publikationsprojekte, die ich in meinen ersten Frankfurter Verlagsjahren im wissenschaftlichen Lektorat betreute, standen in direkter oder indirekter Verbindung zum HfG-Studium. Beim ersten handelt es sich um die übersetzte deutsche Ausgabe von Susanne K. Langers Philosophy in a New Key,68 eines bis dahin vorwiegend im englischen Sprachraum vieldiskutierten, wegweisenden Werks, das Tomás Maldonado Anfang 1959 in seinem Semiotik-Seminar mit uns durchgenommen hatte.69 Vom komplexeren zweiten Projekt gibt es eine lockere Verknüpfung mit dem frühen Soziologie-Seminar von Helge Pross: es geht um meine Zusammenarbeit mit Max Horkheimer. Sie begann mit der ersten deutschsprachigen Ausgabe von Eclipse of Reason, im Original 1947 noch in der Emigration bei Oxford University Press in New York erschienen. Die deutsche Übersetzung von Alfred Schmidt kam unter dem Titel Zur Kritik der instrumentellen Vernunft 1967 bei S. Fischer heraus. Im Zentrum aber standen meine Bemühungen um die erste Nachkriegsausgabe von Horkheimers klassischen, die kritische Theorie der Frankfurter Schule begründenden Essays. Sie waren in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts fast alle in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen, seit Jahrzehnten auf dem deutschsprachigen Buchmarkt unzugänglich. Unter dem Titel Kritische Theorie; Eine Dokumentation konnte die zweibändige Edition 1968 veröffentlicht werden, in der Zeit der Studentenbewegung. Vorausgegangen waren komplizierte Verhandlungen mit dem Autor in Frankfurt und Montagnola, an denen der Herausgeber Alfred Schmidt, aber auch Theodor W. Adorno und Friedrich Pollock teilgenommen hatten. Gemeinsam gelang es uns schließlich, den lange zögernden Autor davon zu überzeugen, diese Texte unverändert, in ihrer vom historischen Materialismus geprägten Terminologie, erscheinen zu lassen. Wenig später entstand unter meiner Lektoratsverantwortung noch die Neuausgabe der Dialektik der Aufklärung; Philosophische Fragmente von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, bei
S. Fischer 1969 veröffentlicht, mehr als zwanzig Jahre nach der Erstausgabe, die 1947, wiederum vor Rückkehr beider Autoren aus dem Exil, von Querido in Amsterdam publiziert worden war.

1.2 Die Buchreihe Welt im Werden
Sogleich nach meinem Arbeitsbeginn in Frankfurt wurde das in Ulm begonnene Gespräch mit Pierre Bertaux wiederaufgenommen. Gemeinsam wollten wir unter dem Titel Welt im Werden eine auf zehn Bände begrenzte Buchreihe herausgeben. Bereits 1962 begann sie mit den Reith-Vorlesungen des Medizin-Nobelpreisträgers P. B. Medawar, Die Zukunft des Menschen, zu erscheinen, die von den in der Humanbiologie angewandten Methoden der Voraussage sowie einigen ihrer zentralen Fragen handeln. Nach Publikation des letzten Bandes, Individuum und Organisation des amerikanischen Politik- und Verhaltenswissenschaftlers Robert Presthus, veröffentlichte ich 1966 ›Notizen zum Ende einer Buchreihe‹,70 die Zielsetzung und Inhalt der damals innovativen Serie zusammenfassen. Hier sei lediglich der kurze Text wiedergegeben, den wir jeweils auf den Umschlag der Bände drucken ließen: »Die Reihe Welt im Werden behandelt neue Denkmodelle und neuartige Methoden, wie sie sich in den letzten Jahren auf den verschiedensten Wissensgebieten als Antwort auf eine immer schneller sich entwickelnde technisch-industrielle Weltzivilisation herausgebildet haben. Die folgenden Themenkreise werden von hervorragenden Wissenschaftlern dargestellt: Genetik, Strategie, Kybernetik, Kommunikationsforschung, Automation, Funktion und Anwendung nachrichtenverarbeitender Maschinen, Evolution, Entwicklungssoziologie, Spieltheorie, Sozialpsychologie der Organisation.«
Die meisten der Autoren, darunter führende Repräsentanten ihres Fachs, etwa der Biologe und Evolutionsgenetiker Theodosius Dobzhanky oder der Mitbegründer der Spieltheorie Oskar Morgenstern, kamen unweigerlich aus dem angloamerikanischen Sprachbereich,71 da die betreffenden Gebiete hierzulande noch kaum entwickelt waren. Lediglich für den Band über Kybernetische Maschinen konnten wir den jungen Informatiker Helmar Frank als Herausgeber gewinnen,72 damals wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer Kybernetik-Forschungsgruppe der Technischen Hochschule Karlsruhe. Durch die interdisziplinären Bände der Reihe Welt im Werden, die teils hohe Auflagen erreichten und in der Presse viel Beachtung fanden, scheint es damals gelungen zu sein, für das größere Leserpublikum eine Lücke zu schließen; in der gleichfalls neuen preiswerten Paperback-Ausstattung des Verlags standen nun auf dem deutschsprachigen Buchmarkt die ersten einführenden Bücher über diese neuen Wissensgebiete zur Verfügung. Selbst ein flüchtiger Blick in die Inhaltsverzeichnisse der meisten jener Bände offenbart die vielfältigen Verbindungen zu den an der Informationsabteilung gelehrten Stoffen. So lag mir daran, den Gestalter der Umschläge dazu zu bewegen, die Nähe zur HfG auch optisch erkennen zu lassen, z.B. durch Grotesk-Schrift und das charakteristische sachliche helle Grau als Basis-›Farbe‹, beides für die damalige S. Fischer-Umschlaggestaltung ungewöhnlich.

1.3 Die Buchreihe Conditio humana
Auch die Umschläge der einundvierzig Einzelbände der zweiten Buchreihe, erschienen zwischen 1969 und 1975, zeigen noch das helle Grau. Bald nach dem Ende der Reihe Welt im Werden hatte ich Thure von Uexküll, den vielfältig, besonders auch an Semiotik interessierten Begründer der Psychosomatischen Medizin dafür gewinnen können, gemeinsam mit mir eine neue Buchreihe zu konzipieren und herauszugeben. Nach Erscheinen der ersten Bände erläuterte ich in einer Broschüre im einzelnen, welche Konsequenzen wir aus der verlegerischen Erfahrung mit der Reihe Welt im Werden gezogen und welche grundsätzlichen Überlegungen uns beim Entwerfen der neuen Serie geleitet hatten.73 In jedem einzelnen Band der Reihe steht zudem am Anfang ein kurzer Text ›Zu diesem Buch‹, in dem ich versuchte, so knapp wie möglich nicht nur den Inhalt des betreffenden Bandes zu skizzieren, sondern zugleich zu markieren, wo und wie er sich in das Konzept der Reihe einfügt. Die minimalistische Schreibschulung in der Informationsabteilung hat mir beim Verfassen dieser dichten Texte gewiß geholfen. Es gab ja in der gesamten HfG, unausgesprochen, tatsächlich so etwas wie ein Ideal von Einfachheit und Eleganz, gerade beim Umgang mit hochgradiger Komplexität.
Zwar bildete die äußere Realität der fortgeschrittenen technisch-industriellen Weltzivilisation auch in der zweiten Buchreihe den Hintergrund, ins Zentrum rückte nun aber der Mensch, die Conditio humana als Objekt der Forschung gleichermaßen in den Naturwissenschaften wie in den Kulturwissenschaften. Bisher waren Merkmale der Conditio humana vorwiegend in spezialwissenschaftlicher Isolation untersucht worden, einem mehr oder weniger unverbundenen Nebeneinander der beiden Diskurse. Allmählich aber begann sich eine Tendenz zum fachübergreifenden Zusammenspiel der verschiedenen Wissenschaften vom Menschen abzuzeichnen. Tatsächlich erzwingt die Erforschung vieler der typischen Züge der Conditio humana Interdisziplinarität. Die Reihe Conditio humana sollte, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Systematik, ausgewählte Ergebnisse der Wissenschaften vom Menschen einem größeren Leserkreis vorstellen. Dazu gehörten Publikationen aus Evolutionstheorie, Humangenetik, Biologischer Anthropologie, Ökologie, aber auch aus Soziologie, Kulturanthropologie, Sozialpsychologie ebenso wie aus Psychologie, Psychosomatischer Medizin, Psychoanalyse, ferner aus Linguistik, Sprachphilosophie, Philosophischer Anthropologie.
Drei Beispiele von Büchern, die diese innovative Verklammerung der Diskurse auf den ersten Blick erkennen lassen. Zuerst ein in unserer Reihe neu präsentierter historischer Text, zu dem Thure von Uexküll unter dem Titel ›Die Umweltforschung als subjekt- und objektumgreifende Naturforschung‹ eine aktuelle Einleitung schrieb: Jakob von Uexküll/Georg Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen/Bedeutungslehre.74 Das zweite Beispiel ist die deutsche Übersetzung des klassischen Werks von Jean Piaget Biologie und Erkenntnis; Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen.75 Als drittes Beispiel sei die von Ilse Schwidetzky für unsere Reihe herausgegebene Sammlung Über die Evolution der Sprache; Anatomie – Verhaltensforschung – Sprachwissenschaft – Anthropologie 76 genannt. Thure von Uexküll und ich arbeiteten als Herausgeber der Reihe Conditio humana in all den Jahren aufs engste mit unseren gleichfalls interdisziplinär orientierten Beratern zusammen: dem Psychoanalytiker Johannes Cremerius, dem Soziologen Thomas Luckmann – dessen bahnbrechendes Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit 77 ebenfalls in der Reihe erschien – sowie dem Virologen Hans J. Eggers.
Die Verflechtungen mit den an der HfG unterrichteten und diskutierten Stoffen sind bei der Reihe Conditio humana weniger offensichtlich als bei der Reihe Welt im Werden, abgesehen von der Offenheit für Interdisziplinarität, die beide Reihen ebenso charakterisierte wie das Denken an der HfG. Der Bereich der biologischen Grundlagen, also des Körpers, von dem zahlreiche Conditio humana-Bände handeln,78 kam in der HfG, jedenfalls in der Informationsabteilung, freilich so gut wie gar nicht vor. Aber es gibt durchaus Themen und Bücher, auf die ich dort als Studentin aufmerksam gemacht worden war und auf die ich nun bei der Planungsarbeit zurückkommen konnte. Ein Blick auf die Titelliste der Reihe zeigt, daß nicht wenige Bände vom Themenbereich Sprache, Sprechen, Symbolisierungsfähigkeit, Denken handeln, der für die Conditio humana unstreitig Definitionscharakter hat. Erwähnt seien lediglich Lew Semjonowitsch Wygotskis berühmtes Buch Denken und Sprechen 79 sowie die deutsche Übersetzung des Standardwerks Semantik; Eine Einführung in die Bedeutungslehre,80 verfaßt von dem Romanisten Stephen Ullmann. Die englischsprachige Originalausgabe dieses Buchs hatte Tomás Maldonado Anfang 1959 in sein Semiotik-Seminar einbezogen; auch in meiner Diplomarbeit hatte ich vielfach darauf Bezug genommen. Und mein einstiges Referat über Benjamin Lee Whorfs Essay ›Languages and Logic‹ in Erich Franzens Seminar im Spätherbst 1957 fand gleichsam ein Echo in dem Conditio humana-Band des Sprachwissenschaftlers Helmut Gipper mit dem Titel Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip? Untersuchungen zur Sapir-Whorf-Hypothese.81
Im Unterschied zur Welt im Werden präsentiert die Reihe Conditio humana einige Bände aus dem Bereich der Psychoanalyse, darunter jeweils zweibändige Editionen der klassischen Schriften Karl Abrahams und Sándor Ferenczis82, der bedeutendsten Schüler Sigmund Freuds, aber auch seinerzeit aktuelle Texte wie Psychoanalyse des ersten Lebensjahres von Franco Fornari oder Familie und psychosoziale Entwicklung von Theodore Lidz oder Das Es und die Regulationsprinzipien des psychischen Geschehens von Max Schur.83 Mein Interesse für die Psychoanalyse war gleichfalls schon in den Lehrveranstaltungen der Informationsabteilung geweckt worden. Nicht nur im Seminar von Erich Franzen war davon die Rede gewesen; Hinweise hatten auch Käte Hamburger und Tomás Maldonado gegeben84. Tatsächlich verdankte die Reihe Conditio humana ihren Erfolg sowohl in den Medien als auch hinsichtlich des Absatzes zu einem nicht unbeträchtlichen Teil der ihr angegliederten Sigmund Freud Studienausgabe, der ersten und bis heute einzigen kritischen Edition des Hauptteils seines Werks in der Originalsprache. Sie erschien in der gleichen Typographie und Ausstattung wie die Einzelbände der Reihe, aber nicht mit hellem Grau als Umschlagfarbe, sondern in leuchtendem Rot. Inklusive der elfbändigen Freud-Studienausgabe umfaßte die Reihe Conditio humana am Schluß insgesamt zweiundfünfzig Bände.

1.4 Beginn der editorischen Arbeit am Werk Sigmund Freuds
Als Gottfried und Brigitte Bermann Fischer 1950 ihren Verlag in Frankfurt neu etablierten, war das von den Nazis unterdrückte Werk Sigmund Freuds, wie bereits angedeutet, hierzulande so gut wie unbekannt geworden. Wer seine Texte im Originalwortlaut lesen wollte, war auf Importe der Drucke von Imago Publishing Company, Freuds Londoner Exil-Verlag, angewiesen. Auf Initiative des Ehepaars Fischer legte die Fischer Bücherei 1953 in der Bundesrepublik eine erste Freud-Lizenzausgabe vor, ein Taschenbuch mit den Schriften Abriß der Psychoanalyse und Das Unbehagen in der Kultur. Für die ein Jahr später präsentierte Taschenbuchausgabe von Zur Psychopathologie des Alltagslebens schrieb Alexander Mitscherlich, der seinerzeit bekannteste Repräsentant eines schwierigen Neubeginns psychoanalytischer Forschung und Ausbildung in der BRD, ein Vorwort.
1960 erwarb Gottfried Bermann Fischer von Imago Publishing Company die Freud-Gesamtrechte, kaum ein Jahr bevor ich in den Verlag eintrat. Seither gehört dieses Oeuvre zu meinem Verantwortungsbereich.85 Als wir an die Planung der Studienausgabe gingen, verstanden sich zwei Schritte von selbst: Verbindung aufzunehmen einerseits zu James Strachey, dem Herausgeber der Standard Edition of The Complete Psychological Works of Sigmund Freud, der großen englischsprachigen kritischen Freud-Ausgabe, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war, andererseits zu Alexander Mitscherlich, den ich bereits Ende 1956 an der HfG kennengelernt hatte. Im ersten Quartal des Studienjahrs 1956/57 hatte er dort einen Vortrag über ›Meditationen zu einer Lebenslehre der modernen Massen‹ gehalten.86 Über die vorbereitenden Verhandlungen sowie die Arbeitsteilung hinsichtlich der Studienausgabe habe ich andernorts berichtet.87
2 Arbeit als Psychoanalytikerin
2.1 Warum ich Psychoanalytikerin wurde
Inzwischen leitete ich die wissenschaftliche Abteilung des S. Fischer Verlags; ich hatte also gewissermaßen Tomás Maldonados ambitionierte Phantasie, was aus uns Absolventen der Informationsabteilung dereinst werden sollte, zumindest ein Stück weit realisiert. Dennoch entschloß ich mich Anfang der siebziger Jahre, aus dem Verlag auszuscheiden und ein neues Studium zu beginnen, die Ausbildung zur Psychoanalytikerin. Das Ehepaar Bermann Fischer hatte sich inzwischen für die Zeit des Alters in die Toskana zurückgezogen und den Verlag verkauft. Unter wechselnden angestellten Direktoren schien es mehr und mehr unwahrscheinlich, daß es für die Buchprojekte, die ich verwirklichen wollte, dort eine Zukunft geben würde. Zugleich hatte die Faszination, welche die Psychoanalyse auf mich ausübte, sich in der Zwischenzeit intensiviert, und zwar nicht nur infolge meiner editorischen Beschäftigung mit Freuds Werken und Briefen und der inspirierenden Zusammenarbeit mit großen Figuren unter den psychoanalytischen Emigranten wie K. R. Eissler in New York oder Michael Balint in London. Tatsächlich hatte in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit – im einzigartig freiheitlichen Klima der Amtszeit von Willy Brandt und Gustav Heinemann – mittlerweile so etwas wie die Entdeckung der Psychoanalyse stattgefunden. Kürzlich noch hat Jürgen Habermas, sich erinnernd, beschrieben, »dass damals die Psychoanalyse wissenschaftlich in Hochblüte stand und international als eine Schlüsseldisziplin für die Erklärung anthropologischer und sozialpsychologischer, auch im weitesten Sinne politischer Fragen anerkannt war. […] fortan drangen analytische Argumente in die öffentlichen Diskurse ein und bildeten ein wichtiges Ferment in dem zähen Erinnerungsprozess einer deutschen Gesellschaft, die erst lernte, sich mit ihrer damals noch ›jüngsten‹ Vergangenheit zu konfrontieren.«88
Ich wünschte mir also, auf diesem Gebiet selbstständig zu arbeiten und die dafür nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten von Grund aus zu erlernen. Meine psychoanalytische Ausbildung begann 1972 an dem damals von Alexander Mitscherlich geleiteten Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, mit Gastsemestern am San Francisco Psychoanalytic Instititute, und dauerte bis 1978. Danach Arbeit in der Privatpraxis, seit 1986 auch als Lehranalytikerin der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung und der International Psychoanalytical Association, am Sigmund-Freud-Institut bzw. am später für die Ausbildung zuständigen Frankfurter Psychoanalytischen Institut. Es war eine glückliche Fügung, daß, bald nachdem ich die Entscheidung zum Umsatteln getroffen hatte, die neue Eigentümerin des S. Fischer Verlags, Monika Schoeller, die Leitung selbst übernahm. In bestem Einvernehmen mit ihr hinsichtlich verlegerischer Qualitätsmaßstäbe konnte, kann ich, nunmehr als freie Mitarbeiterin des Hauses, meine editorische und publizistische Beschäftigung mit dem Freudschen Werk bis heute fortsetzen.
2.2 Klinische und theoretische Arbeit
Mein Berufswechsel war gewiß eine recht radikale Abwendung von den Ausbildungszielen der Informationsabteilung. Jedoch gibt es selbst in der klinischen Arbeit mit Patienten und mit Lehranalysanden, für mich von nun an jahrzehntelang der Kernbezirk meiner Tätigkeit, notwendige Fähigkeiten und Haltungen, deren zumindest indirekte Schulung ich bis in die frühen Jahre des Ulmer Studiums zurückverfolgen kann: zugewandte Geduld, Rationalität, nun auch hinsichtlich des Umgangs mit Subjektivität und unbewußten seelischen Bereichen, Genauigkeit, das Vermögen, angesichts hochgradiger Komplexität über längere Zeitspannen Ungewißheit aushalten zu können, bis sich allmählich belastbare Lösungen abzuzeichnen beginnen. Psychoanalyse ist wesentlich eine Worttherapie. Sensibilität für feinste Sprachnuancen hatten wir tatsächlich schon an der Informationsabteilung üben können. Es sind Leistungen, die in der psychoanalytischen Arbeit beim Zuhören ebenso konstitutiv sind wie beim Formulieren von Deutungen und Interventionen.
Schon während meiner psychoanalytischen Ausbildung sowie danach verdankte ich meine Hellhörigkeit für bestimmte Inhalte aber auch ganz direkt einigen prägenden Eindrücken aus der HfG-Studienzeit, zumal der oben beschriebenen Konfrontation mit der Shoa. Noch Mitte der siebziger Jahre wurde selbst von den Psychoanalytikern der BRD, eine kleine Frankfurter Gruppe ausgenommen, die Shoa weitgehend verleugnet; wie in der allgemeinen Bevölkerung hat erst die Vorführung der deutsche Fassung des amerikanischen Fernsehfilms Holocaust Ende 1978 dem Prozeß der Selbstkonfrontation den entscheidenden Schub gegeben. So konnte es geschehen, daß mir noch 1975 vom dafür zuständigen Gremium, mit einer sozusagen blinden Standarddiagnose, als Ausbildungsfall ein Patient überwiesen wurde, dessen Eltern Auschwitz überlebt hatten. Schon in den Vorgesprächen konnte ich ihm zuhören mit den in mir aufbewahrten ›Nacht und Nebel‹-Bildern sowie den atmosphärisch erinnerlichen Verhandlungsdialogen mit Opfern und Tätern während des Ulmer Einsatzgruppen-Prozesses – als Resonanzboden.
Bald arbeitete ich mit Psychoanalytikern zusammen, die in New York in der Group for the Psychoanalytic Study of the Effect of the Holocaust on the Second Generation auf diesem Gebiet forschten. Vor allem im Zuge der nun in vielen Ländern beginnenden psychoanalytischen Arbeit an den Shoa-Folgen bei Kindern und Kindeskindern von Überlebenden vollzog sich allmählich eine grundlegende Neuakzentuierung innerhalb der psychoanalytischen Theorie und Technik. Vereinfacht ausgedrückt: das Trauma rückte ins Zentrum des Forschungs- und des klinischen Interesses. Nach Jahrzehnten fast ausschließlicher Beschäftigung der Psychoanalytiker mit dem Gewicht der inneren, der psychischen Realität bei der Verursachung seelischer Störungen richtete sich die Aufmerksamkeit nun zusätzlich auf die Folgewirkungen traumatischer äußerer Realität.
De facto waren die traumatischen Faktoren während der Entstehungsphase der Psychoanalyse in den Hysterie-Forschungen Josef Breuers und Sigmund Freuds Ende des neunzehnten Jahrhunderts durchaus und sogar vorrangig berücksichtigt worden. Aber Freud hatte in seinem eigentlich psychoanalytischen Werk später stets die Triebfaktoren, die zu seinen revolutionären Entdeckungen gehören, ins Zentrum gerückt. Durch einen glücklichen Zufall fand ich gerade zur Zeit dieser Neuakzentuierung in London, unter Papieren Sándor Ferenczis, den Entwurf von Freuds verschollener zwölfter metapsychologischer Abhandlung. In diesem spekulativen, von ihm nie veröffentlichten Text aus dem Jahre 1915 unternimmt er selbst eine Re-Integration der traumatischen Faktoren in die ätiologische Theorie der Psychoanalyse, und zwar über den Umweg einer phylogenetischen Konstruktion.89 Dieser überraschende Fund aus der Geschichte der Psychoanalyse, sogleich in mehrere Sprachen übersetzt, erregte damals international großes Aufsehen.
Aber auch meine aktuellen Abhandlungen zu jenen seinerzeit hochbrisanten theoretischen und technischen Fragen standen im Zentrum der Diskussion, darunter ›Vom Konkretismus zur Metaphorik‹.90 Könnte es von diesem Text sogar Verbindungslinien zu Tomás Maldonados Semiotik-Seminaren geben, in denen, wie ich jetzt beim Lesen meiner alten Mitschriften feststellte, gelegentlich von Metaphern und Metaphorisierung die Rede war? Allenfalls vorbewußt, denn als ich diesen Text 1983 schrieb, war mir mein HfG-Studium inhaltlich sehr fern gerückt.

2.3 Die Freud-Bildbiographie
Hingegen war mir, Jahre früher, während der Entstehung des von mir mitherausgegebenen Bandes Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten,91 der sogenannten Freud-Bildbiographie, schon bei der Arbeit klar gewesen, daß ich hier bezüglich des Visuellen, des Formalen aus dem an der HfG Erlernten schöpfen konnte. Die Vorgeschichte des Projekts ist kompliziert. Ernst Freud, Sigmund Freuds jüngster Sohn, von Hause aus Architekt,92 hatte, zusammen mit seiner Frau Lucie, Mitte der sechziger Jahre die Grundidee gefaßt, ausgelöst von der Unzufriedenheit mit der kurz zuvor erschienenen dreibändigen Freud-Biographie von Ernest Jones: Bilder sollten das Leben des Begründers der Psychoanalyse erzählen, Auszüge aus seinen Werken und seinen damals großenteils noch unveröffentlichten Briefen die Begleittexte sein. Bereits seit dem Beginn meines Lektorats im S. Fischer Verlag arbeitete ich mit beiden hinsichtlich verschiedener Freud-Editionen zusammen; sie waren nie aus dem Londoner Exil zurückgekehrt. Ernst Freud war inzwischen nicht mehr als Architekt, sondern als Direktor von Sigmund Freud Copyrights Ltd. tätig. Damals bereits schwer krank, hatte er mich darum gebeten, ihn hinsichtlich der Strukturierung des erst bruchstückhaft zusammengetragenen Materials für die geplante Bildbiographie zu beraten. Doch war das Projekt, als er 1970 starb, über das Stadium einer inkohärenten, in vielerlei Hinsicht lückenhaften Ansammlung von Einzelbildern und Einzelzitaten nicht hinausgelangt.
In jahrelanger Arbeit, an der sich Lucie Freud infolge eigener Erkrankung nicht mehr beteiligen konnte, habe ich das Material in vielfacher Hinsicht erweitert, verdichtet und bearbeitet.93 So erst entstand allmählich das eigentliche Buch, wie es heute vorliegt. Als die Satzvorlage endlich fertig war, zögerten die damals in der Fischer-Verlagsleitung Zuständigen; sie schätzten die Verkaufschancen eines solchen Werks, für das es kein Vorbild gab, eher gering ein. Alexander Mitscherlich, dem ich davon berichtet hatte, machte seinen Verleger Siegfried Unseld auf das Projekt aufmerksam. Unseld griff sofort zu und gewann den großen Buchdesigner Willy Fleckhaus für die typographische und ausstattungstechnische Gestaltung. Fleckhaus fing Feuer, vertiefte sich aufs intensivste in die Satzvorlage. Während mehrerer Wochenenden trafen wir uns zu gemeinsamer Arbeit. Das Layout entstand, Seite für Seite, in inspirierender Kooperation.94 Die Freudschen Texte und die Bilder verschmolzen allmählich zu einem Wahrnehmungsganzen. Daß wir uns so leicht verständigen konnten, insbesondere hinsichtlich des Wechselspiels Bild/Text, Foto/Schrift, führte Fleckhaus selbst spontan auf mein HfG-Studium zurück. Er erzählte mir von seiner Freundschaft mit Max Bill und fragte mich über Otl Aicher aus, dessen Arbeit er genau kannte. Das Buch löste, als es schließlich 1976 veröffentlicht wurde, in der Bundesrepublik großes Presseecho aus, erlebte zahlreiche Auflagen. Sein innovatives Format als der ersten Bildbiographie in der Art einer facettenreichen illustrierten Quasi-Autobiographie wurde seither unzählige Male für andere große Autoren übernommen, innerhalb des Suhrkamp Verlags wie auch von anderen Verlagen. Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten selbst erzielte einen Welterfolg und erschien, in identischem Layout, in insgesamt acht Sprachen.95

2.4 Landschaft der Handschriften
In meiner Schilderung von Erich Franzens Unterricht hatte ich erwähnt, daß er uns dazu anhielt, bei unserer Untersuchung und Interpretation von Texten stets so nah wie möglich am Wortlaut des Autors zu arbeiten. Es könnte sein, daß es von dieser besonderen Sprachfokussierung, Sprachsensibilisierung sogar eine Verbindung zu meinem 1993 erschienenen Buch Zurück zu Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen 96 gibt, das ich zum Schluß noch erwähnen möchte. In der Freud-Forschung eröffnete es einen ganz neuen Weg, sozusagen diesseits von Sekundärliteratur. Sein umfangreicher Mittelteil, ›Landschaft der Handschriften‹, rückte erstmals Freuds Manuskripte ins Zentrum der Aufmerksamkeit.97 Seit 1986 werden sie in der ›Sigmund Freud Collection‹ der Library of Congress (Washington) aufbewahrt, wo ich sie studieren konnte. Da bis dahin niemand diesen handgeschriebenen, großformatigen Blättern Beachtung geschenkt hatte, waren sie gleichsam stumm geblieben. Mittels repräsentativer Auswahl, faksimilierter Präsentation von Ausschnitten und behutsamer Interpretation werden sie in meinem Buch zum Sprechen gebracht.
Zahlreiche unbekannte Originaltexte kamen bei diesen Forschungen ans Tageslicht, darunter die Erstfassung von Jenseits des Lustprinzips sowie der Entwurf von Das Ich und das Es. Dank in den Handschriften entdeckter Textvarianten fiel auf einmal helles Licht auf Schlüsselfragen, auf zentrale, von Freud selbst als heikel 98 bezeichnete Theoriebezirke, beispielsweise im vorhin erwähnten Feld der Neurosenätiologie auf die Beurteilung des Gewichts realer traumatischer Erlebnisse einerseits und pathogener Phantasien andererseits. Unversehens eröffneten sich tiefe Einblicke in den bisher verborgenen Mikrokosmos von Freuds praktisch-klinischer, wissenschaftlich-theoretischer und schriftstellerischer Kreativität.
Das jeweils früheste schriftlich fixierte Stadium repräsentieren die Notizen. Daß überhaupt so etwas wie ein Notizenwerk des Begründers der Psychoanalyse erhalten geblieben war, wußte man bislang nicht. Was den Umfang dieser Aufzeichnungen betrifft, so reicht er vom Ein-Wort-Notat bis zu recht ausführlichen, fast entwurfsartigen Textgebilden, dazwischen die Form des wissenschaftlichen Aphorismus. Der mit Freuds Werk Vertraute kann bei der Lektüre solcher Quasi-Aphorismen erkennen, daß in ihren knappen Sätzen oder Satzteilen, Genen einer Keimzelle vergleichbar, die Informationen gespeichert sind, welche dann das Wachstum der im betreffenden Zeitraum entstehenden Werke gesteuert haben. Inhaltlich ist die ganze Spannweite des Freudschen Denkens repräsentiert: darunter Aufzeichnungen über die Arbeit mit seinen Patienten, über Lektüren, über kulturelle Phänomene, über Träume sowie immer wieder Notate, die seine Sprachfaszination und sein linguistisches Ingenium bezeugen.
Gerade durch das Sichtbarmachen der Frühstadien rückt die auch heute noch von keinem anderen Verfahren erreichte Leistungsfähigkeit der psychoanalytischen Methode bei der Erforschung menschlicher Subjektivität erneut in den Blickpunkt. Nicht zuletzt wird in dieser dokumentarischen Werkstattanalyse die Legende von der vermeintlichen Leichtigkeit des Freudschen Produzierens widerlegt: im Unterschied zu ihm selbst hatten einige seiner Schüler behauptet, er habe seine längst als klassisch geltende Prosa mühelos, korrekturfrei einfach so hinschreiben können. Die von mir aufgefundenen Notizen, Varianten, Entwürfe, Erstfassungen, Reinschriften, Fahnenkorrekturen bezeugen, daß das Werk in Wirklichkeit fast immer in verzehrender Schwerarbeit, über mehrere schriftlich fixierte Stufen, zustande gekommen ist.
Bald nach Erscheinen ist der Pioniercharakter von Zurück zu Freuds Texten in großen Rezensionen, auch im Ausland, etwa in The New York Times 99 oder in Le Monde,100 hervorgehoben worden. Die englischsprachige Ausgabe wurde 1996 von Yale University Press, die französische 1997 von Presses Universitaires de France verlegt. Insgesamt erschien das Buch in sechs Sprachen. Es hat wohl wesentlich dazu beigetragen, daß die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung mir 1998 den ›Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa‹ verlieh, diejenige Auszeichnung, die mich am meisten gefreut hat.
Dachte ich in all den Jahren gelegentlich an mein Studium an der Abteilung Information, standen die beschriebenen Ungereimtheiten, die Widersprüche, die Absurditäten im Vordergrund, all das, was aus dem Curriculum tatsächlich partiell eine Fehlkonstruktion gemacht hatte. Es war unbedachtsam und übereilt gewesen, den Umgang mit Sprache, das Entwerfen von Texten umstandslos »grafik-design, produkt-design oder bauen«101 gleichzusetzen und die Studierenden der ›ersten Generation‹ durch die Exerzitien einer unmodifizierten Grundlehre mit technischem Zeichnen und Präzisionsarbeit in Metall-, Gips- und Holzwerkstatt zu schleusen oder ihnen später zahllose Seminarstunden in Mathematischer Operationsanalyse aufzuzwingen. Kaum verwunderlich, daß sich nach unserem ersten Studienjahr erst einmal niemand um Zulassung zum Studium an dieser Abteilung bewarb; auch im übernächsten Jahr 1958/59 waren es nur fünf. Im Unterschied zu den anderen HfG-Abteilungen bestand stets Mangel an Studenten. Als die HfG 1968 geschlossen wurde, gab es die Informationsabteilung insofern quasi nicht mehr als man bereits seit mehreren Jahren die Aufnahme in diesen Studiengang nicht mehr beantragen konnte.
Das Arbeiten an diesem Rückblick aber hat mir die Augen darüber geöffnet, wie wir trotzdem lernen lernten, und zwar auf eine tatsächlich ganz neue, experimentelle Weise. Wichtige Lehrer ließen uns nicht nur daran teilnehmen, wie sie selber lernten, sondern involvierten uns in einen wechselseitigen, gemeinsamen, autonomen Lehr- und Lernprozeß.102 So entstand nicht zuletzt ein kräftiges Zutrauen in die Produktivität autodidaktischer Neugier und Selbständigkeit. Ich habe solche Bereiche meiner späteren Tätigkeiten hier vergleichsweise detailliert geschildert, von denen aus ich jetzt Verbindungen zum Ulmer Studium erkennen kann. Unzweifelhaft habe ich viel Wertvolles vermittelt bekommen. Indem ich – diesmal wenig bescheiden – aufzeige, daß ich etwas damit angefangen habe, was Anerkennung fand, möchte ich, spät genug, meine Dankbarkeit ausdrücken.
Früher wurde ich von Dritten immer wieder einmal auf dieses Studium angesprochen; offensichtlich genoß die HfG mittlerweile im In- und Ausland den Ruf einer legendären Institution; es schien als Privileg aufgefaßt zu werden, damals dabei gewesen zu sein. Spontan hatte ich das seinerzeit in erster Linie auf die anderen Abteilungen bezogen. Wie ich nun weiß, gilt es auch für die Informationsabteilung. Die HfG insgesamt war ein einzigartiges Experiment der Aufklärung, initiiert unmittelbar nach dem Zivilisationsbruch des NS-Regimes von einer ursprünglich kleinen Gruppe hochmotivierter, hochbegabter Menschen. Mitten in der Provinz entstand für einige wenige Jahre ein kosmopolitisches Zentrum der damals avanciertesten Moderne. Unwiederholbar.
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