Gui Bonsiepe Ein persönlicher Rückblick auf die Abteilung Information

Portrait Bonsiepe
Gui Bonsiepe 2015. Foto: privat.

Die folgenden biographischen Eckdaten des Autors (Jahrgang 1934) liefern einen Bezugsrahmen, um die in diesem Rückblick erwähnten Tätigkeiten und Projekte zeitlich einzuordnen:

Von 1955-1959 Studium an der HfG Ulm, Abteilung Information. Nach Studienabschluss an der HfG bis 1968 in den in den Bereichen Publikation, Entwicklung, Lehre und Forschung tätig. Redaktionstätigkeit für die zweisprachige Zeitschrift „ulm“ der HfG (Ausgaben 6-21). Von Ende 1968 an als Berater für Design und Industrialisierungspolitik in Lateinamerika (Chile, Argentinien und Brasilien) und freiberuflicher Entwerfer tätig. Von 1987 bis 1989 Interface Designer in einem Softwarehaus in Kalifornien. 1993 bis 2003 Dozent für Interface Design an der KISD (Köln International School of Design). Autor mehrerer Bücher über Industrial Design und Interfacedesign (erschienen in Italien, Deutschland, Schweiz, Brasilien, Spanien, Mexiko, Argentinien, Holland, Korea). Zu den Hauptinteressengebieten gehören der Designdiskurs, das Design in peripheren Ländern, einschließlich der Designausbildung, und die Rhetorik visueller Medien. Lebt in Brasilien und Argentinien.

Mein Dank gilt dem HfG-Archiv der Stadt Ulm, eine Reihe von Anfragen beantwortet zu haben; denn ich hatte keine Gelegenheit, vor Ort zu recherchieren. Der Hauptteil des Textes wurde in La Plata/Buenos Aires im Januar/Februar 2013 formuliert und im Januar 2014 nach Einfügen einiger Anmerkungen abgeschlossen.

 

Vorsicht ist geboten, wenn man sich als aktiver Teilnehmer eines Geschehens in das Gebiet der HistorikerInnen als den für die Dokumentation und Interpretation des Vergangenen zuständigen VertreterInnen einer Forschungsdisziplin vorwagt. Somit beansprucht dieser Rückblick nicht mehr als einen weitgehend auf Erinnerungen beruhenden Baustein für eine Geschichte der Abteilung Information der HfG Ulm zu liefern – und damit das unvollständige Bild dieser Institution zu vervollständigen. Bekanntlich unterscheidet sich eine erlebte und gelebte Geschichte der HfG grundsätzlich von einer Geschichtsforschung, die eine Narrative auf der Grundlage von Dokumenten im Rahmen einer je eigenen Interessenkonstellation, vor allem politischer Art, konstruiert. Die Relevanz der vom Ansatz und den Interessen her divergenten Formen der Geschichts- und Geschichtenschreibung bemisst sich daran, ob und in welchem Maße sie zum Verstehen eines Phänomens beitragen.

Im Zentrum der referierenden Arbeit steht das Studium von 1955 bis 1959 – durch das Prisma persönlicher Erfahrung betrachtet und ergänzt durch gelegentliche Exkurse und Überlegungen zur HfG Ulm samt ihres politischen und kulturellen Umfeldes – bis zur gegenwärtigen Lage des Designdiskurses und der Designausbildung einschließlich einer an die heutige Zeit angepassten Abteilung Information.

Unter den sich anbietenden Textarten – wissenschaftlicher Artikel, Interview, Essay, Erzählung in der ersten Person, Collage, Zitatsammlung mit Kommentar, Liste von Gemeinplätzen, Hypertext-Montage, chronologischer Bericht ergänzt durch eine Zeitleiste u. Ä. – schien es mir angebracht, für diesen Rückblick eine Hybridtextform zu wählen: Die neutrale Erzählform der dritten Person, womit eine Distanznahme zwischen Gegenstand und Autor des Rückblicks angezeigt wird (nicht etwa, um durch Meiden des tabuisierten Wortes ‹ich› vermeintliche Objektivität zu gewährleisten), ergänzt durch anekdotische in Ich-Form geschriebene Einschübe. Somit kommt es zu Brüchen in der Textstruktur – sie sind beabsichtigt. Persönliche biographische Daten habe ich auf ein Minimum beschränkt. Biographische Bezüge erwiesen sich dann als unvermeidlich, wenn es darum ging, Querverbindungen zwischen dem in der Abteilung Information Gelernten und einigen später erzielten Arbeitsresultaten herzustellen. Die Auswahl beschränkt sich auf wenige Beispiele illustrativen Charakters.

Ebenso wie mir nicht am Häkeln einer Mythenkonstruktion gelegen ist, richtet sich dieser Rückblick gegen die vereinfachende Etikettenkleberei und das karikatureske Bild vom grauen, farblosen, von internen Konflikten heimgesuchten ‹Betonkloster auf dem Kuhberg›, womit man sich erspart, der Vielschichtigkeit der HfG nachzugehen und meint, zum Beispiel mit den derzeit zu negativen Reizworten gewordenen Bezeichnungen ‹Funktionalismus›, ‹Rationalismus›, ‹Neopositivismus› das Thema HfG Ulm ad acta legen zu können.

Bekanntlich steht eine der Sache adäquate, geschichtliche Darstellung der HfG Ulm in Deutschland noch aus, die das Auf und Ab der Wertschätzung nachzeichnet und den Ursachen nachgeht, weshalb diese Institution auf der einen Seite hochgeschätzt, und auf der anderen Seite so bitter angefeindet wurde.1 Dabei wäre klar zu unterscheiden zwischen dem während der Existenz der HfG in der Öffentlichkeit herrschenden und dem nach ihrer Schließung verbreiteten Bild. Freilich, wem diese Institution, aus welchen Gründen auch immer – politischen, programmatischen, oder gestalterischen – ungelegen kommt oder sogar ‹unheimlich› ist, wie es in einem Pressebericht heißt,2 sieht in ihr nur eine Produktionsstätte simpler Kastenformen – ein Verfahren, wie es typisch für ein rückwärts gewandtes Kulturverständnis ist, das sich an oberflächlichen Stilmerkmalen festmacht, die zudem nicht zutreffen. Ist einer Institution erst einmal das Missgeschick widerfahren, als Mythos und Legende bezeichnet zu werden, öffnen sich die Schleusen für Mythendekonstruktion, mit deren je eigenen Agenda und ihren eigenen politischen, bisweilen sybillinisch verschlüsselten Intentionen, die Mythen aufklären zu wollen – dabei aber ihre eigenen, konservativen Interessen tunlich verstecken.3 So wird zum Beispiel die Debatte über die sachlichen Hintergründe der internen Auseinandersetzungen an der HfG nicht über den Status persönlichen Meinens hinauskommen, solange als in Privatarchiven gelagerte Dokumente nicht zugänglich sind und ausgewertet werden, die es ermöglichen, die Wiederholung schablonenhafter Zuschreibungen zu vermeiden und ein differenziertes Bild dieser Institution und ihrer Akteure zu gewinnen.4

Unterricht
Unterricht bei Bernd Rübenach 1958/59. Von links: Ilse Grubrich, Gui Bonsiepe, Elke Koch-Weser, Bernd Rübenach

Nicht ist in diesem Bericht an nostalgischer Verklärung der vermeintlich ‹schönen alten Zeit› des Studiums um die Mitte der 1950er Jahre gelegen. Vielmehr ist er darauf ausgerichtet, die über zahlreiche Vermittlungsstufen laufenden Verknüpfungen zwischen der Ausbildung in der Abteilung Information und den nach Abschluss des Studiums ausgeübten Tätigkeiten aufzudecken, womit implizit ein Dank an die Dozierenden ausgesprochen wird, an deren Kursen und Seminaren teilzunehmen ich Gelegenheit hatte. Es gab an der HfG Ulm faszinierende und vor allem engagierte Lehrerinnen und Lehrer, mit durchaus konträren Positionen und den sich daraus entwickelnden Konflikten – ein Phänomen, das einem obrigkeitshörigen Ordnungssinn zuwiderläuft, der die oberste Bürgerpflicht an Hochschulen darin sieht, Ruhe zu bewahren.

Der Reichtum des von diesen Lehrerinnen und Lehrern Vermittelten und die Perspektiven, die sie eröffneten, wurden erst im Nachhinein voll bewusst. So zermürbend auch die internen und externen Auseinandersetzungen der HfG Ulm gewesen sind, verbunden mit einem permanenten, bis ins Unerträgliche wachsenden Legitimierungsstress, dem die HfG als Outsiderinstitution unterworfen war, so verblassen sie angesichts der Erinnerung an ein ungemein stimulierendes Studium an einer beispielhaft weltoffenen Institution, deren Klima ausschlaggebend von den ausländischen Dozenten, Mitarbeitern und Studenten bestimmt wurde.5 Dabei ist gegenwärtig zu halten, dass Anfang der 1950er Jahre die Bundesrepublik wahrlich keine sonderlich einladende Umgebung bildete. Es ist anzunehmen, dass damals die Ausländer trotz Deutschland und nicht etwa wegen Deutschland nach Ulm kamen – einem Land, über dem die bleierne Schwere von Auschwitz lastete.6

 

Bekanntlich klafft bezüglich der Abteilung Information im Vergleich zu den anderen drei Abteilungen – Produktgestaltung, Visuelle Kommunikation, Industrialisiertes Bauen und der später hinzugekommenen Filmabteilung – in dem in der Öffentlichkeit herrschenden Bild von der HfG Ulm eine Leerstelle. Das mag nicht nur an der kleinen Studierendenzahl – sie wird auf etwa fünfzehn geschätzt – und an der Unsichtbarkeit und somit schwierigen Vermittlung der Resultate dieser Abteilung liegen, sondern daran, dass es nicht so ohne Weiteres nachvollziehbar ist, wieso ausgerechnet eine Ausbildungsstätte für Gestaltung den Umgang mit Sprache und Texten als so wichtig erachtete, dass dafür eigens eine Abteilung mit eigenem Ausbildungsprogramm geschaffen wurde. Das Ungewöhnliche an diesem Vorhaben lässt sich schon daran ablesen, dass die Abteilung Information in die Programme der verschiedenen von der HfG beeinflussten Designschulen innerhalb und außerhalb Deutschlands – vor allem an der HfG Offenbach und der HfG Schwäbisch Gmünd, an der ESDI Escola Superior de Desenho Industrial in Rio de Janeiro und am NID National Institute of Design in Ahmedabad – nicht eingefügt wurde. Der Umgang mit Texten, der Umgang mit Sprache, entfernte sich offensichtlich zu sehr vom Verständnis dessen, was als legitimes Gebiet der Gestaltung betrachtet wurde. Die Pflege der Visualität mochte an einer Hochschule für Gestaltung als selbstverständlich gelten; nicht dagegen die Pflege der Diskursivität. Gerade in der Verbindung von beiden bestand ein Alleinstellungsmerkmal der HfG Ulm.

Die Gründer der im Dezember 1950 geschaffenen Geschwister-Scholl-Stiftung erwogen in der Konzeptionsphase der späteren HfG Ulm Ende der 1940er Jahre, zunächst eine politische Hochschule zu schaffen die «Politik, Wissenschaften, Kunst und Wirtschaft in ihrer integralen Beziehung betrachtet».7 Inge Scholl – die Autorin dieses Projekts – sah folgende sieben Hauptbereiche vor: Politik, Journalismus, Rundfunk, Photographie, Werbung, Industrial Design und Stadtplanung. Vier der sieben Bereiche waren also eindeutig dem Umgang mit Sprache zugeordnet. Die spätere Abteilung Information kann als ein Überbleibsel dieses Konzepts betrachtet werden. Die derzeitigen Programme für Designausbildung schenken der Bildung diskursiver Kompetenz nicht die gebührende Aufmerksamkeit, was aus der vorwiegend diskursfremden Tradition der Designberufe zu erklären ist und dazu beiträgt, dass die Notwendigkeit eines stringenten Designdiskurses allzu leicht unterlaufen werden kann, wenn er zum Tummelplatz überbordender Erbaulichkeiten und projektferner, zumal vor dem Hintergrund von Kunst- und Medientheorie sprießenden Spekulationen instrumentalisiert wird.

Zwar wird seit den 1970er Jahren im angelsächsischen Sprachgebrauch der Begriff ‹information design› benutzt, der jedoch primär in der visuellen Domäne verankert ist und gelegentlich mit Datenvisualisierung (einschließlich Datenjournalismus) oder Informationsvisualisierung gleichgesetzt wird. Doch entfernt sich diese auf das Visuelle zugeschnittene Interpretation erheblich von dem, was an der HfG Ulm unter Informationsgestaltung verstanden wurde, die explizit an Sprache festgemacht war, das aber – und dieses Detail des Ausbildungskonzeptes scheint ausschlaggebend – in enger Anbindung an die Abteilung Visuelle Kommunikation. Im Unterschied zu literarischen Texten stand die Formulierung von Gebrauchstexten im Vordergrund, von Texten also für den Alltagsgebrauch in verschiedenen Formen (vom Text einer Gebrauchsanweisung bis zur Kritik einer Ausstellung in einer Tageszeitung oder eines politischen Kommentars), wobei die durch räumliche und programmatische Nähe gegebenen Verbindungen zur Abteilung Visuelle Kommunikation genutzt wurden. Im insgesamt neun Fragen umfassenden Fragebogen für Studienbewerber lauteten die auf die Abteilung Information zugeschnittenen Fragen:
«8. nennen sie alle ihnen bekannten publizistischen berufe. welchen davon möchten sie ergreifen? begründen sie das.
9. nennen sie 3 beispielhafte arbeiten aus dem von ihnen gewählten fachgebiet und beurteilen sie diese beispiele.»8

 

Es ist aufschlussreich, dass in einem aus der frühen Phase der HfG stammenden Dokument, dessen Abfassung auf den Zeitraum von 1953 bis 1955 geschätzt wird, die Formulierung von einer «in der Abteilung Information auftretende Abteilung Werbung, die gleichzeitig in enger Verbindung mit der Abteilung Visuelle Kommunikation stehen muß», vorkommt.9 Darin wird bereits der explizite Unterschied zwischen zwei Kommunikationstypen deutlich: Auf der einen Seite die persuasive Kommunikation, bei der es um die Formung und Beeinflussung des Präferenzverhaltens von Konsumenten geht, und auf der anderen Seite die operative Kommunikation, die auf effektives Handeln abzielt. Dieser Unterschied wurde später im Zusammenhang mit der Entwicklung von visuellen Zeichen- und Leitsystemen präzisiert.10

Über die Motive für die Nutzung des Begriffs ‹Information› lassen sich nur Vermutungen anstellen, solange als aus den zugänglichen Quellen nicht ersichtlich ist, auf wessen Vorschlag dieser Begriff als Bezeichnung der Abteilung zurückgeht.11 Man hätte einfach von Publizistik sprechen können; doch Publizistik war nach damaligem – wie auch heutigen – Verständnis ausschließlich auf die Formulierung von Texten zugeschnitten. Eine Analyse des mehr als fünf Jahrzehnte zurückliegenden Lehrplans und seiner Präzisierungen lässt eine erstaunliche Aktualität des Programms erkennen, in dem bisweilen nur einige Begriffe ersetzt werden müssen, um es an die heutigen, vor allem technologisch bedingten radikalen Änderungen (Digitalisierung) anzupassen.12

Wahrscheinlich beabsichtigte die Mehrheit der im Oktober 1955 in die Grundlehre eintretenden Studierenden nicht von vornherein, nach Abschluss der einjährigen, anfangs für alle Studierenden verbindlichen gemeinsamen Grundlehre, in der Abteilung Information zu studieren. Der Eintritt in die Abteilung Visuelle Kommunikation lag näher. Es war Max Bense, erster Leiter der Abteilung Information, der 1956 einige Studierende überzeugte, in diese Abteilung einzutreten, um das, wie es prosaisch hieß, Formulieren von Gebrauchstexten zu lernen. Der fragile, periphere Charakter der Abteilung wird daran deutlich, dass sie später in die Filmabteilung absorbiert wurde, da das Studium offensichtlich nicht genügend Anziehungskraft besaß, um eine größere Anzahl von Bewerbern für ein Studium in dieser Abteilung zu motivieren, und zudem die Leitung dieser Abteilung verwaiste. Die spätere Absorption erfolgte somit eher aus pragmatischen denn aus programmatischen Gründen. Denn beide Abteilungen verfolgten je eigene Ausbildungsziele, hingen also nicht voneinander ab.

Was auch immer die dokumentarisch belegten Gründe für die Schaffung dieser Abteilung und ihrer Benennung mit dem Wort ‹Information› sein mögen – dass zum Beispiel Hans Werner Richter, als der Initiator der Gruppe 47, an Diskussionen in der Konzeptionsphase des Programms der HfG teilnahm und eine wichtige Rolle spielte –, spricht für die durchaus plausible Annahme, dass darüber hinausgehend der geschichtliche Kontext erheblichen Einfluss auf die Bezeichnung der Abteilung ausübte. Der Faschismus und seine Folgen wurden mit Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik durchaus nicht überwunden. In einem materiell, moralisch, kulturell zerstörten Land war auch die Sprache vom Faschismus geschunden. Für die durchweg konservative Großwetterlage darf als Indiz gelten, dass nicht von Neuaufbau, sondern von Wiederaufbau gesprochen wurde. Das von den Alliierten konzipierte re-education Programm verfolgte unter anderem – es war auch ein Instrument des Kalten Krieges gegen den Kommunismus – das Ziel, die Bevölkerung gegen eine Wiederholung des Faschismus zu immunisieren und ein Verständnis für Demokratie zu fördern – wohlverstanden im westlichen, keinesfalls im sozialistischen Sinne.

Für die vermeintliche oder wirklich bestehende Unwissenheit der Mehrheit der deutschen Bevölkerung über die während des Faschismus verübten Verbrechen wurde unter anderem der Mangel an Information verantwortlich gemacht. Geeignete Information wäre also ein Instrument, dem Rückfall in den Faschismus vorzubeugen. Die explizit antifaschistische Konzeption der HfG Ulm stellte sich bekanntlich im Verlauf der Geschichte als durchaus nicht förderlich für die HfG heraus. Dass Politik und Gestaltung in einen programmatischen Zusammenhang gebracht wurden, war für affirmatives Kulturverständnis nicht nur nicht nachvollziehbar, sondern schlechtweg ein Sakrileg. Die seit den 1980er Jahren weitgehend verschüttete Debatte über die Beziehung zwischen Gestaltung (einschließlich Architektur und Stadtplanung) auf der einen und Politik auf der anderen Seite schwelt untergründig weiter, weil die tangierten Antinomien zwischen technisch Möglichem, wirtschaftlich Machbarem, politisch Vorgegebenem und gesamtgesellschaftlich Wünschenswertem immer wieder aufbrechen. Das Programm der HfG Ulm hatte eine seiner Wurzeln im Projekt der Moderne – Moderne verstanden als Einstellung, die Veränderbarkeit bestehender Herrschaftsverhältnisse nicht nur für möglich, sondern für wünschenswert, wenn nicht für notwendig zu erachten, und von dieser politischen Dimension die Gestaltung nicht auszunehmen.13

Bekanntlich unterscheidet sich darin das Programm der HfG Ulm von postmodernen Positionen, die im Bereich der Architektur in dem Buch von Robert Venturi und Scott Brown Complexity and Contradiction in Architecture(1966) ihren ersten resonanzreichen Niederschlag fanden und in der These von Charles Jencks gipfelten, auf die Minute genau das Ende der Modernen Architektur auf den 16. März 1972, 15:00 Uhr festnageln zu können, als der erste der 33 Wohnblocks des im Jahr 1955 fertiggestellten Projekts des sozialen Wohnungsbaus in St. Louis, Missouri, gesprengt wurde. Die Sprengung des Wohnungskomplexes Pruitt-Igoe wurde instrumentalisiert, um den sozialen Wohnungsbau (vornehmlich in den USA) überhaupt zu diskreditieren. Heute von Utopie und vom Projekt der Moderne zu reden und auch nur den Gedanken an die Möglichkeit einer Veränderung zu hegen, nachdem mit triumphierender Gestik über Jahrzehnte hinweg deren vermeintliches Ende deklariert wurde, kann auf Unverständnis stoßen – nicht unbedingt ein Indiz für Fortschritt.14

In der Rezeptionsgeschichte der HfG in der Bundesrepublik wurde der innovative Charakter des radikalen kulturpolitischen Experiments bislang nicht wahrgenommen und davon überschattet, dass man sich an den immer wieder auflebenden internen und in den Medien ausgeschlachteten Konflikten aufhielt und der spröden Institution eine mangelhafte Public-Relations-Politik vorwarf. Nach schematischer Lesart des Endes der HfG Ulm ist die Ursache für deren Schließung primär, wenn nicht ausschließlich, der Starrköpfigkeit der Mitglieder, zumal der Dozenten, anzulasten. Womit – gewollt oder ungewollt – politische Weißwäscherei betrieben wird. Schließlich brachte es ein ein zumindest eigenartiges Rechtsverständnis pflegender ehemaliger Marinerichter fertig, es bis zum Posten eines Ministerpräsidenten zu bringen und die Streichung des finanziellen Zuschusses, auf den die HfG zu ihrem Weiterbestand angewiesen war, 1968 mit dem Kernsatz zu rechtfertigen: «Wir wollen etwas Neues machen, und dazu bedarf es der Liquidation des Alten!» Allein schon die Sprache ist verräterisch: ‹Liquidation› lässt Schlimmstes befürchten. Angesichts dessen zu meinen, eine bessere Public-Relations-Politik hätte die Schließung abwenden können, verrät ein gerütteltes Maß an politischer Naivität. Die Flamme der plötzlich unter Politikern erwachten Leidenschaft für das Neue erlosch bereits nach vier Jahren, so dass die Fortsetzung der HfG in Form des Instituts für Umweltplanung IUP an der Technischen Universität Stuttgart wohl in erster Linie dem Zweck diente, einer Sammelklage der verbliebenen Studierenden zuvorzukommen, da sie darauf bestehen konnten, ihr Studium ordnungsgemäß abzuschließen, d.h. das Diplom der ehemaligen HfG Ulm erwerben zu können.

Für die Ministerialbürokratie musste die HfG als aufmüpfige, unbotmäßige Institution und ein permanenter Unruheherd erscheinen. Wie schwer sich die Bürokratie damit tat, diese aus der Reihe scherende Institution zu begreifen, lässt sich an einem Schreiben des Kultusministeriums aus dem Jahre 1974 ablesen. In der Beglaubigung, dass es sich bei der Diplomurkunde um ein offizielles Dokument handle, heißt es in dem Schreiben des Kultusministeriums Baden-Württemberg vom 5. August 1974, dass die HfG eine private Institution sui generis gewesen sei – was ohne Zweifel stimmt –, deren Ausbildung am ehesten mit dem Studium an einer Hochschule für Bildende Künste (Akademie) zu vergleichen sei 15 – was ohne Zweifel völlig daneben gegriffen ist. Weder in ihrem Lehrplan noch in ihrer Orientierung ähnelte die HfG Ulm einer Akademie. Keine der tradierten Bildungsanstalten – weder Universität, noch Technische Hochschule, noch Kunstakademie – hatten je der Gestaltung einen gebührenden Platz geboten. Gestaltung passte strukturell in keine dieser Institutionen. Für das an Akademien vorherrschende Kulturverständnis war Gestaltung, industrielle allzumal, kommerziell infiziert und damit tabuisiert. Für das an Technischen Hochschulen vorherrschende, bisweilen bornierte Technikverständnis wurde alles außerhalb des rein Technischen Liegende in den Bereich vermeintlich irrationaler Ästhetik abgeschoben. An den Universitäten schließlich herrschte ein der Entwurfsdimension gegenüber indifferentes Erkenntnisinteresse. Max Bense, der unermüdlich für eine Akzeptanz der technischen Zivilisation als eines der Zentralthemen der Moderne eintrat, hatte treffend die Situation formuliert: «Man kann sagen, wir genießen nicht die Erziehung, die notwendig ist für unser Dasein in dieser Welt. Wir entbehren des technischen Bildungsbegriffs, der die technische Ausbildung umsetzt in den ethisch sinnvollen Charakter dieser technischen Welt.»16 In dieser bereits vor Gründung der HfG Ende der 1940er Jahre formulierten Konzeption der Technik kann zeitgemäße Gestaltung einen Platz finden.

Wieso kam es ausgerechnet in der gesellschaftspolitisch nicht gerade innovationsfreudigen Bundesrepublik zur Gründung der HfG Ulm? Eine plausible Antwort auf diese Frage könnte lauten, dass für einen Augenblick ‹das immer wachsame Auge des Status quo› mit anderen, wohl wichtigeren Themen, beschäftigt war.17 Der, wie sich bald herausstellte, strukturelle interne Widerspruch der HfG scheint, von heute aus betrachtet, darin zu liegen, dass sie einerseits den Freiraum für pädagogische Experimente brauchte, der an etablierten, innovationsresistenten – und bürokratisierten – Institutionen nicht zu finden war, und dass sie andererseits auf die Wissenschaften angewiesen war, ohne bei dieser Annäherung Gefahr zu laufen, Entwurfspraxis zum Gegenstand von Präzeptorambitionen zu degradieren. Angesichts des in dieser Konstellation angelegten Spannungs- und Konfliktpotentials ist es erstaunlich, dass die HfG es überhaupt schaffte, fünfzehn Jahre lang von 1953 bis 1968, bzw. 1972 zu überstehen. Zu diesem internen strukturellen Widerspruch kam die regressive Einstellung der Regierung Baden-Württembergs mit ihrem Verdikt in Form inakzeptabler Auflagen für eine weiterhin gewährte Finanzierung für die weitere Existenz der HfG Ulm. Viel zu kurz zielen deshalb psychologisierende Erklärungsversuche, die das Ende der HfG Ulm an persönlichen Gegensätzen und Ambitionen, die ohne Zweifel auch bestanden, aber nicht ausschlaggebend waren, zwischen Mitgliedern der Institution verantwortlich machen wollen.

Portrait Gui Bonsiepe
Gui Bonsiepe an der HfG in den 1960er Jahren. Archiv Bonsiepe, Photo: unbekannt.

Anekdotischer Einschub Lokalklima

Im Winter 1967 machte sich abends eine kleine Gruppe von Mitgliedern der HfG auf zu einem Marsch ins Zentrum der Stadt, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Der Protest wurde von dem Dozenten der Abteilung Industrialisiertes Bauen Claude Schnaidt organisiert, ein – horribile dictu– überzeugter Kommunist, was im lokalen Kontext die Furcht geschürt haben mag, die HfG sei ein Hort umstürzlerischer Umtriebe. Die Manifestation erschien offensichtlich einigen Bürgern der Stadt als Provokation – die Gruppe wurde von einkreisenden Motorradfahrern eingeschüchtert, deren aggressives Verhalten keinen Zweifel an deren Wunsch aufkommen ließ, einfach in die Gruppe hineinzupreschen.

Während ein Absolvent der Abteilung Produktgestaltung sich mit Fug und Recht als Produktgestalter bezeichnete, dürfte sich keiner der wenigen Absolventen der Abteilung Information als Informationsgestalter präsentiert haben; bestenfalls als Journalist oder, wie in der Werbebranche üblich, als Texter. Da sich aber ein Absolvent schwerlich als Allround-Texter empfohlen hätte, der heute einen Kommentar über ein Fußballspiel schreiben und morgen ein Interview mit einem Kybernetiker führen konnte, lag es nahe, den Studiengang in die Nähe eines Ressortjournalismus zu rücken, also als Ziel der Informationsabteilung in der Ausbildung von Spezialisten zu sehen, die sachkompetent über das weit verzweigte Gebiet der Gestaltung berichten konnten, sei es in der Presse, im Hörfunk oder Fernsehen, bis hin zum Film. Das Thema ‹Gestaltung› wurde seinerzeit in den Medien in erster Linie im Bereich der Kulturredaktion und in den Zeitschriften für Innendekoration angesiedelt und von JournalistInnen abgedeckt, die unter Umständen ein Studium der Kunstgeschichte oder Architekturgeschichte absolviert hatten. Schließlich boten die Universitäten keine Kurse über Designgeschichte und noch weniger Kurse über die Geschichte der technischen Zivilisation an, in der eine Designgeschichte ihren geeigneten Platz fände – was bis heute nicht geschehen ist und ein Hindernis für eine autonome Designgeschichte bildet.

Den in anderen Abteilungen gestellten Entwurfsübungen entsprachen in der Abteilung Information Textübungen, gelegentlich gekoppelt mit Fotos. Zwei von Hans Magnus Enzensberger gestellte Schreibaufgaben, der während eines Quartals vom Oktober 1956 bis Dezember als Gastdozent an der HfG lehrte, hatten das Thema ‹Feuer› und das Thema ‹Nebel› zum Gegenstand. Bei dem Schriftsteller Gert Kalow wurde im Laufe des Studienjahres vom Oktober 1957 bis Juni 1958 ein Hörspiel geschrieben, also ein literarischer Text erstellt, der aus der Klasse der Gebrauchstexte ausscherte.18 Max Benses Interesse an der konkreten Poesie, sowie an informationstheoretischen Erörterungen über – wie er schrieb – Provokationsästhetik statt über Gefallens- oder Saturierungsästhestik 19, übertrug sich auf die Informationsabteilung. Faszination übten die neuen Thematiken Kybernetik, Automatisierung, und später auch programmiertes Lernen aus – eine Faszination, die sich heute schwerlich nachempfinden lässt. Bereits damals wurde der grundlegende Text über eine Philosophie der technischen Gegenstände von Gilbert Simondon 20 rezipiert, der erst mit erheblicher Verzögerung vier Jahrzehnte später in deutscher Übersetzung erschien. Wenn man mir heute die Frage stellt, was ich als das für mich prägende Merkmal der Ulmer Erfahrung betrachte, lautet die Antwort: das rege und offene intellektuelle Klima, nicht also eine einzelne hervorzuhebende Lehrveranstaltung, sondern die einzigartige Konstellation von Lehrveranstaltungen – das Gegenstück zu einem aus bürokratisch vergatterten Modulen bestehenden Lehrplan.

   

Unterricht
Unterricht bei Tomás Maldonado im Fach Semiotik, um 1958. Photo: Claus Wille

Anekdotischer Einschub Ein Missverständnis

Beim Stöbern in der Zeitschriftenauslage der Bibliothek der Universität in München im Sommersemester 1955 war ich auf eine deutsche Literaturzeitschrift gestoßen – es handelte sich wahrscheinlich um die 1954 gegründete Zeitschrift Akzente –, in der Beispiele konkreter Poesie von Eugen Gomringer veröffentlicht waren. In der erklärenden Fußnote war erwähnt, dass der Autor Privatsekretär von Max Bill sei, dem Rektor der neu gegründeten HfG Ulm als einer Nachfolgeinstitution des legendären Bauhauses, die im Oktober 1955 in neuen Gebäuden in Ulm eröffnet werden sollte. Da ich in Hamburg bei einem der letzten ehemaligen Studierenden des Bauhauses, Kurt Kranz, ein Semester studiert und vom Bauhaus erfahren hatte, das mich faszinierte, hegte ich die falsche Annahme, in Ulm gleichsam eine Neuauflage eines von Künstlern geprägten Bauhauses zu finden. Somit bewarb ich mich zum Studium an dieser Institution mit der Hoffnung, dass dort eine künstlerische Ausbildung vermittelt würde. Dass am Bauhaus bekanntlich kein offizieller Kunstunterricht gegeben wurde, hatte ich geflissentlich übersehen. Somit erlaubte ich mir in meiner Unwissenheit, als Bewerbungsunterlagen Arbeiten aus dem Bereich der künstlerischen freien Graphik einzureichen, unter anderem stark von Paul Klee beeinflusste Radierungen mit Motiven aus dem winterlich-regnerischen Venedig. Am Ende des ersten Quartals im Dezember 1955 zitierte mich der Leiter der Grundlehre, Tomás Maldonado, zu einer Besprechung in eines der kargen Besprechungszimmer; denn er hatte bemerkt, dass ich mich gar nicht mit dem Programm der Grundlehre befreunden konnte. Ich erklärte ihm, dass ich nach Ulm gekommen sei, um Malerei zu studieren. Darauf lautete seine lapidare Antwort: «Wenn Sie Malerei studieren wollen, gehen Sie nach Paris. Wir machen DAS HIER!». Mit diesen Worten hob er das einzige bewegliche Objekt im Raum (abgesehen von zwei Knoll-Sesseln) vom flachen Besprechungstisch – ein schwarzes Bakelittelefon –, stellte es mit Wucht wieder auf den Tisch und ging. Ich wiederholte in den Weihnachtsferien alle Übungen und blieb an der HfG. Dieses kurze Gespräch bildete eine Zäsur in meinem Ausbildungsgang.

Wenngleich kein Kurs über Rhetorik gegeben wurde, so verhalfen die praktischen Textübungen, sprachliches Differenzierungsvermögen zu bilden.21 Auch wurde das Schreiben von Werbetexten nicht eigens in einem Kurs geübt, obgleich der Arbeitsmarkt in dieser Branche den Absolventen der Abteilung wohl berufliche Chancen geboten hätte.22

Max Bense vermittelte auch die Stilübungen von Raymond Queneau und die Dichtungen von Francis Ponge, sowie die Texte von Arno Schmidt, dessen Berufung als Dozent für die Abteilung zweimal vorgeschlagen wurde. Die auf der Informationstheorie basierende Ästhetik Max Benses war gegen spirituell verbrämte Interpretations- oder Gefallensästhetik ausgerichtet. Sein Diktum, man müsse über Kunst so präzise sprechen wie über das Wetter, nämlich in Beobachtungssätzen, war eindeutig in polemischer Absicht formuliert. Die Vermutung ist gerechtfertigt, dass es auch Max Bense war, der die Anschaffung der ersten zweibändigen im Suhrkamp Verlag erschienenen Ausgabe der Schriften von Walter Benjamin für die kleine Bibliothek der HfG empfohlen hat. Eine Analyse dieser kleinen Bibliothek kann dazu dienen, die vielfältigen geistesgeschichtlichen Einflüsse auf die HfG Ulm und das in ihr herrschende kulturelle Klima offenzulegen. Die Forschung der ideengeschichtlichen Entwicklung der HfG steht bislang aus.

 

Die Vielschichtigkeit des Begriffs ‹Information› ist im Werk von Max Bense belegt. Die alltagssprachliche Bedeutung des Begriffs ‹Information› kennzeichnet er wie folgt: «Information ist Wissen, dessen Sinn darin besteht, übertragen, vermittelt zu werden. […] Information bedeutet hier also eine Zufuhr an Wissen. Information beseitigt eine gewisse Unkenntnis.»23 Demgegenüber «bezeichnet der wissenschaftliche Informationsbegriff als Information nur das Meßbare oder Abzählbare an der Nachricht.»24 Im Spannungsverhältnis dieser beiden Interpretationen, auf der einen Seite an Sinn und Bedeutung festgemacht, auf der anderen Seite die Bedeutung ausklammernd, bewegten sich die unter dem Einfluss von Max Bense entwickelten Arbeiten. Bekanntlich hat sich die Vielfalt des Informationsbegriffs seit den 1950er Jahren bis ins kaum Überschaubare ausgeweitet – eine Entwicklung, die wohl im Falle einer Aufarbeitung eines Ausbildungsprogramms an einer Designausbildungsstätte zu berücksichtigen wäre.25

In einer praktischen Arbeit, die auf einer photographischen Detailanalyse der Verteilung und Häufigkeit von Punktelementen eines Bildes basierte, wurden der ästhetische Informationsgehalt und die Redundanz unter Anwendung der Shannonschen Formel berechnet (siehe Abbildung auf Seite 118). Diese Übung hatte nichts mit üblicher Bildinterpretation zu tun; doch war damit nichts über die ästhetische Qualität gesagt. Am Ende der Übung hatte man zwar einen Zahlenwert, aber eben nicht mehr. Über die Qualität wird, wenn man die Taxonomie der illokutionären Akte aus der Sprachtheorie von John Searle anwendet, mit Urteilssätzen assessments gesprochen, für die andere Erfüllungsbedingungen gelten als für Behauptungen assertions. Für Urteile müssen die Standards angegeben werden, auf Grund derer ein Urteil gefällt wird; wogegen bei einer Behauptung die Erfüllungsbedingung darin liegt, dass sie zutrifft. Sie ist nachprüfbar.

Die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger erläuterte an dem Satz «Morgen war Weihnachten» den Unterschied zwischen einem fiktionalem Text und einem nicht-literarischen Text. Der zitierte Satz kann nur in einem fiktionalen Zusammenhang stehen. Er findet sich in ihrer Dissertation Die Logik der Dichtung, die sie als Grundlage für Ihre Vorlesungen an der HfG Ulm nutzte.

Im Studienbuch (Abbildung auf S. 62) findet sich eine Eintragung über ein Referat über das Buch von Friedrich Engels Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Seinerzeit dürfte ein derartiges Thema wohl schwerlich an einer Ausbildungsstätte für Gestaltung behandelt worden sein. Im Verlauf der vergangenen 50 Jahre haben sich wahrscheinlich die thematischen Interessengebiete verschoben und infolgedessen wird das Interesse an einer Auseinandersetzung mit den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels geschwunden sein.

In einer anderen Lehrveranstaltung über Industriesoziologie erläuterte Hanno Kesting seine Kritik am Entfremdungsbegriff von Marx, die auf einer empirischen Untersuchung der Arbeitsverhältnisse der teamartigen Kooperation zwischen den Arbeitern eines Stahlwalzwerks beruhte. Im sozialwissenschaftlichen Unterricht behandelte er unter anderem sein Hauptwerk Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Ich erinnere mich an zwei Definitionen von Carl Schmitt mit dem ungefähren Wortlaut: «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.» Anders formuliert: Macht hat, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Und «Einem Partisan wird kein Pardon gewährt.» (im Unterschied zu einem gefangenen Soldaten). Die konkrete Bedeutung dieser Formulierungen wurde mir später in Lateinamerika im Kontext von Militärputsch und Guerillabewegungen klar.

Neben dem starken, die Abteilung Information prägenden Einfluss von Max Bense, der 1958 aus dem Lehrkörper der HfG ausschied, übte Tomás Maldonado die stärkste Wirkung auf den Autor dieses Rückblicks aus. Es mag unausgewogen erscheinen, eine Person hervorzuheben. Wenn dies dennoch geschieht, dann im Rahmen der Konstellation der Lehrenden, die in ihrer Vielfalt und mit ihren verschiedenen, zum Teil konträren Ansätzen allesamt die Lehre an der HfG bestimmten. Jeder Studierende wird, seinen Affinitäten und Erfahrungen folgend, den einen oder anderen Lehrenden favorisieren, woraus nicht ein Mangel an Dankbarkeit oder Anerkennung der restlichen Dozenten zu schließen wäre. Für viele Studierende mochte Max Bill als überragende Bezugsperson gelten, für andere Horst Rittel, oder Otl Aicher, Hans Gugelot, Josef Albers, Konrad Wachsmann, Abraham Moles u.a.m.

Zeichensystem für ELEA
Auswahl aus dem Zeichensystem für das Bedienungspult des Olivetti Computers ELEA (1960). Die Zeichen sind in eine leichte Ellipse eingeschrieben, damit sich die Kunststoffplättchen nicht in den Tastenfassungen drehen:
1 Schreiben, 2 Lesen, 3 Telex, 4 Lesekopf, 5 Fehler, 6 Nicht, 7 Symmetrisch, 8 Ende, 9 Absolut, 10 Einschalten, 11 Ausschalten, 12 Verifizieren, 13 Vergleichen, 14 Besetzen, 15 Zeichen, 16 Gesetztes Zeichen, 17 Maximalzeichen, 18 Letztes Zeichen.

Da sich die HfG als Avantgarde-Institution verstand, sollte es nicht verwundern, dass zu den Vertretern verschiedener künstlerischer Strömungen, in erster Linie der konkreten Malerei und Skulptur, der op art und der pop art und zu Komponisten im Bereich der elektronischen Musik (Mauricio Kagel), Kontakte gepflegt wurden. Anfang der 1960er Jahre wurde in Ulm ein Fluxus-Event veranstaltet, an dem Wolf Vostell mitwirkte. Im Rahmen dieser künstlerischen, auf verschiedene Orte in und um Ulm herum verteilten Veranstaltung, lauschten die Teilnehmer unter anderem bei grau-kaltem, regnerischem Wetter auf einem Rollfeld dem Lärm des Strahltriebwerks eines Düsenfliegers. Surrealismus, Dadaismus, Eventkunst standen zwar am Gegenpol des auf die Industrie zugeschnittenen rationalen Gestaltungskonzepts der HfG. Aber es gab einen Berührungspunkt zwischen der kritischen Komponente dieser künstlerischen Richtungen und der gegen künstliche Obsoleszenz der Produkte gerichteten Einstellung der HfG. Die Studenten der vom Programm von der HfG stark beeinflussten Hochschule für Gestaltung in Rio de Janeiro (ESDI, Escola Superior de Desenho Industrial beließen es nicht bei einer verbalen Bekundung ihrer kritischen Einstellung zur Gesellschaft allgemein und zur Konsumgesellschaft im Besondern. Sie gingen weiter, indem sie auf der ersten brasilianischen Designbiennale 1968 ihre Kritik mit gestalterischen Mitteln konkret umsetzten: «Auf einem großen Esstisch, umstellt mit zehn Arne Jacobsen Stühlen der Serie 7 [aus dem Jahr 1952, GB], waren die Packungen von Industrieprodukten ausgestellt […] In derselben Ausstellung wurde ein Staubsauger mit einem an den Schlauch angeschlossenen Besenstiel gezeigt.»26

   

Anekdotischer Einschub Bildwelten

Italien war für eine Reihe von Freunden aus anderen Abteilungen ein wichtiger Bezugspunkt. Zeitschriften wie Civiltà delle macchine 27 – «das unverzichtbare Instrument der modernen Kultur» – so lautete der Untertitel dieser Publikation – und Superfici besaßen für diese Gruppe Vorbildcharakter. Insgleichen die Zeitschrift Stile Industria. Gelegentlich unternahmen wir eintägige Ausflüge nach Zürich, um Schweizer Graphik und im Kaufhaus Globus italienische Produkte anzuschauen. Die Bildwelt, vor allem die Anzeigen der amerikanischen Zeitschriften Look und Life wurde sorgfältig rezipiert, so wie in den 1960er Jahren die Zeitschrift twen. Die Sammlung der Anzeigen aus diesen Zeitschriften lieferte den Grundstock für die gegen Mitte der 1960er Jahre entwickelte visuell / verbale Rhetorik – wohl einer der ersten Versuche, spezifische, Bild und Sprache verkoppelnde Figuren – oder wie der treffendere Ausdruck lautet – patterns – aufzudecken und begrifflich zu fassen.28 Zu den von der Gruppe bevorzugten Jazzbands gehörten das Dave Brubeck Quartett Take Five und das Modern Jazz Quartett, deren Platten an den allwöchentlichen Treffen an der eigens geöffneten kurvigen Mensabar aufgelegt wurden.

Zeitschriften-Cover
Umschläge italienischer Zeitschriften für Architektur und Design aus den Jahren 1959 und 1961.

Max Bense, Käthe Hamburger und Erich Franzen verstanden es, Vorliebe für Literatur und kulturkritische Schriften zu fördern – ohne sie wäre schwerlich der Zugang zu den Schriften Walter Benjamins, der Frankfurter Schule und von Marcel Proust geöffnet worden. Zum Schreiben gehört bekanntlich das Lesen von Texten, also der Umgang mit Literatur. Von daher ist auch das Interesse an theoretischen Fragen und den theoretischen Voraussetzungen der Entwurfstätigkeit zu erklären. Zwar gab es damals weder an einer Ausbildungsstätte für Gestaltung noch an einer Universität das Fach Designtheorie. Doch – und das ist eine persönliche Extrapolation – hätte aus der Abteilung Information durchaus eine Abteilung für Entwurfstheorie hervorgehen können. Aus heutiger Perspektive erscheint sie als Theorielabor in nuce. Um die Schlüssigkeit dieser Annahme zu erhärten, genügt es, die Inhaltsverzeichnisse der Zeitschrift ulm durchzugehen, die als eines der sichtbaren ‹Produkte› der Abteilung Information betrachtet werden kann. Sie machen deutlich, wie weit die HfG ihre Fühler ausstreckte, ohne dabei die Materialität der Entwurfsarbeiten hintanzustellen, sondern Reflektion und Entwurfspraxis in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Die Redaktionsarbeit glich einer Gratwanderung zwischen Theorie und Praxis.29 Die Schwierigkeiten der redaktionellen Überarbeitung der Texte von Kollegen mit bisweilen stark voneinander abweichenden Schreibweisen und divergierenden Auffassungen sowie die zeitraubende handwerkliche Tätigkeit des Umbruchs der Druckfahnen – Ausschneiden und Aufkleben auf ein A4 Papier als Vorlage für den photomechanischen Druck – kann man sich heute angesichts der Digitalisierung der editorischen Praxis schwerlich vorstellen, zumal die Texte auch ins Englische übersetzt wurden.

Das theoretische Interesse an der Beziehung zwischen Wissenschaften und Gestaltung konnte missverstanden und auf Grund dieses Missverständnisses der Vorwurf erhoben werden, dass die HfG Ulm versucht hätte, Gestaltung in eine Wissenschaft zu überführen. Heute ist klar geworden, dass sich Wissenschaft und Gestaltung durch ein unterschiedliches Weltverhalten auszeichnen: Wissenschaft geht es in erster Linie um Erkenntnisgewinn, um kognitive Innovation, Gestaltung dagegen geht es um die Strukturierung des Verhaltens zwischen NutzerInnen und materiellen Artefakten (Produkten) und semiotischen Artefakten (Informationen) in der Lebenswelt, um die Assimilation von Technologie in die Alltagskultur.

Da die Dichotomie zwischen Theorie und Praxis irreführend ist, wählte ich für das zwar auf Deutsch geschriebene, aber nicht in Deutschland, sondern 1975 in Italien veröffentlichte Handbuch des Industrial Design den Titel Theorie und Praxis des Industrial Design. Dieses kritische Handbuch bildete damals die Summe dessen, was als die Essenz des ‹Ulmer› rationalen Entwurfsansatzes betrachtet werden konnte. In dieses Handbuch gingen auch die in Chile zwischen 1971 und 1973 gesammelten Erfahrungen ein.

Umschlag Teoria
Umschlag eines 1975 in Italien veröffentlichten Buches.

Einige früher veröffentlichte Projektberichte gingen bis auf 1959 zurück – also auf die Zeit vor dem Studienabschluss – wie zum Beispiel über die Entwicklung eines Schreibgeräts von Nick Roericht (publiziert in Stile Industria, sowie die Presseinformation aus dem Jahre 1961 über das im Rahmen seiner Diplomarbeit entwickelte Kompaktgeschirr TC 100, die einen ironisierenden Kommentar eines Architekturkritikers hervorrief.30

Bericht über die Entwicklung eines Schreibgeräts von Nick Roericht. Stile Industria 24, 1959.

In einem Treffen mit dem damaligen Eigner der Zeitschrift form, Dr. Friedrich Middelhauve, wurde die Möglichkeit erörtert, eine Rubrik für Designanalysen einzurichten – also eine damals ganz neue Thematik. Im Verlauf mehrerer Jahre wurden von 1961 an Designanalysen unter anderem der IBM Kugelkopfschreibmaschine, von Tonbandgeräten, Armaturentafeln in Pkws, Kühlschränken, Weckern und Bestecken veröffentlicht. Ausschlaggebend für die Sichtweise auf Produkte aus der Perspektive der Gestaltung waren die informellen Kontakte mit Kollegen aus der Abteilung Produktgestaltung, sowie die Mitarbeit in der Entwicklungsgruppe 6, die von Tomás Maldonado geleitet wurde.

Die designpublizistische Tätigkeit setzte sich im Verlauf der Jahre in Form von Buchpublikationen fort und war in erster Linie darauf angelegt, Lehrmaterial für den Unterricht aufzubereiten und zur begrifflichen Klärung des Design und des Berufsprofils des Designers beizutragen. Dazu gehörten auch einige Übersetzungen, so die Wechselwirkung der Farbe (1970) von Josef Albers aus dem Englischen, Umwelt und Revolte (1972) von Tomás Maldonado aus dem Italienischen, und eine Auswahl von Schriften ebenfalls von Tomás Maldonado mit dem Titel Digitale Welt und Gestaltung (2007) aus dem Spanischen und Italienischen. Der ‹Ulmer› Ansatz füllte eine Lücke, unter anderem in Ländern der Peripherie, in denen Programme einer Designausbildung bereits bis in die 1950er Jahre zurückreichen, doch weitgehend aus künstlerischer Sicht, die im Gegensatz zum systematischen, technisch und industriell orientierten Ansatz der HfG standen.

 

Das durch das Studium geweckte Interesse an Emanzipation und am Abbau von Herrschaftsinteressen, also das politische Interesse, war bis 1971 weitgehend abstrakt geblieben, trotz der Studentenrebellion, die 1968 auch die HfG erfasste und sich zeitweise derartig zuspitzte, dass einen Bleistift in die Hand zu nehmen, um einen Entwurf zu skizzieren, geradezu als verpönt galt – ging es doch gemäß radikaler Position zuerst einmal darum, die Gesellschaft insgesamt zu revolutionieren. Die konkrete politische Dimension des Entwerfens erschloss sich erst durch die Tätigkeit in Chile, die jäh durch den bürgerlich-militärischen Putsch mit klerikal-faschistischem Einschlag samt intensiver Beihilfe des Präsidenten Nixon und seines Außenministers Kissinger am 11. September 1973 beendet wurde. Die Arbeit der Gruppe für Produktentwicklung am Technologischen Forschungsinstitut in Santiago de Chile war durch und durch vom Entwurfsansatz der HfG geprägt. Es war einer der seltenen Momente in der Geschichte der Entwurfspraxis, in denen sich sozialpolitisches Programm und Entwurfsprogramm nahtlos miteinander deckten.

Umschlag Teoria
Umschlag der 1972 im Rowohlt Verlag erschienenen deutschen Übersetzung des Buches von Tomás Maldonado La speranza progettuale, 1970. Sie trug das Motto Le coté blanc de notre espoir von Pierre Reverdy – ein Indiz dafür, dass die Situation kaum zu Hoffnung Anlass bot.

Anekdotischer Einschub Ein Buch und seine Folgen

Im Jahre 1970 wurde in Chile ein von der damaligen Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) betreutes Projekt der technischen Kooperation umgesetzt. Eines Tages erschien auf Anregung eines Freundes ein junger chilenischer Ingenieur zu einem Besuch. Er war nicht sonderlich redselig und es war mir auch nicht klar, was aus diesem Besuch werden würde. Einige Monate später – er war inzwischen zu einem wichtigen Mitarbeiter in der Regierung Salvador Allendes geworden – gestand er mir Folgendes: Er hegte keine sonderlich hohe Meinung von Designern; er hielt sie, wie auch Architekten, durchweg für Wirrköpfe (auf Spanisch confusionistas. Als er aber in meiner Bibliothek das Buch von Stafford Beer Decision and Control entdeckte, berichtigte er stillschweigend sein Vorurteil. Ohne diesen Zufall wäre die am Technologischen Forschungsinstitut INTEC tätige Gruppe für Produktentwicklung schwerlich an das strategische und emblematische Projekt Cybersyn herangekommen. Von den Seminaren bei Max Bense und Horst Rittel führte eine direkte Verbindung über fünfzehn Jahre hinweg in die berufliche Gegenwart in einem anders gearteten kulturellen, sozialen, politischen und technologischen Kontext.

Unterricht
Gesamtansicht des Opsroom für wirtschaftliche Planung, 1972/73. Entwurf des Raumes und des Informationsdesign für Wirtschaftsdaten: Gruppe für Produktentwicklung/Industrial Design am INTEC (Technologisches Forschungsinstitut, Santiago de Chile).
Häckselmaschine
Landwirtschaftsmaschine. Entwurf: Gruppe für Produktentwicklung / Industrial Design am INTEC (Technologisches Forschungsinstitut, Santiago de Chile).

Die aus HfG-Tradition übernommene Praxis, die Entwicklung von Projekten systematisch zu dokumentieren, spiegelte sich in der Publikation (insgesamt vier Ausgaben) einer kleinen Zeitschrift INTEC des Instituts. Sie diente unter anderem dazu, die Entwicklung eines Entwurfs nachvollziehen zu können und weit verbreitete Missverständnisse über die Rolle des Industrial Designers zu beheben und vor allem den konstitutiven Unterschied zwischen Design im Zentrum und Design in der Peripherie herauszuarbeiten. Im Kontext einer von Ingenieuren und Forschern beherrschten Institution war es Anfang der 1970er Jahre durchaus gängig, Design mit ästhetischer Herausputzerei gleichzusetzen – eine Erfahrung, die sich fünfzehn Jahre später in einem völlig anderem Kontext wiederholte. Bei der Arbeit in einem Softwarehaus in Emeryville (Kalifornien) waren Monate nötig, um das simple Vorurteil auszuräumen, dass Gestaltungsarbeit mehr beinhaltet als die Korrektur eines nicht sonderlich gelungenen Ikons oder einer schrillen Farbkombination auf dem Bildschirm eines Rechners. Akzeptiert wurde die Gestaltungsarbeit erst, als ich im Rahmen der Entwicklung eines Interface für ein groupware Programm beiläufig den Begriff ‹visueller Algorithmus› in die Diskussion warf. Der Begriff ‹Algorithmus› klang vertraut. Damit waren die Vorbehalte schlagartig beseitigt.

Unterricht
Unterricht
Entwicklung des graphischen Interface für ein Mail-Programm, angepasst an den monochromen 9-Zoll-Bildschirm (512 x 342 Pixel) des Apple Rechners. (Action Technologies, Emeryville, 1987).

Tomás Maldonado förderte eine stetige intellektuelle Neugier, ein unbeirrbares Engagement mit dem Projekt der Moderne, einschließlich dessen politischer Komponente und Utopie als Ausdrucks der Unzufriedenheit mit der Wirklichkeit wie sie ist – so lautet die treffende Formulierung von Adorno – und öffnete den Zugang zur Kultur des romanischen Sprachkreises, aus dem damals in Deutschland beklemmenden Klima der Enge: Zugang zur Kultur Italiens und Lateinamerikas.31 Er weckte und unterstützte auch das Interesse an publizistischer Tätigkeit und an Lehrtätigkeit. Diese stetige Teilnahme am Designdiskurs und die Tätigkeit im Bereich der Designausbildung sind ein direktes Ergebnis des Studiums in der Abteilung Information.

Buchcover
Umschlag eines 1975 in Spanien veröffentlichten Buches.
Buchcover
Umschlag eines 1983 in Brasilien veröffentlichten Buches.

Bekanntlich legte die HfG Ulm Nachdruck darauf, die Beziehung zwischen Gestaltung und Wissenschaften zu stärken und damit verbunden zur Entwicklung der Designtheorie beizutragen. Doch so wie sich Christopher Alexander bald nach Veröffentlichung seines Standardwerks Notes on the Synthesis of Form (1964) von der Entwurfsmethodologie abkehrte, als er deren akademische Auswüchse feststellte, so fragt man sich heute als ‹Ulmer›, ob es der Designtheorie gelungen ist, einen Raum für Reflexion kritischer Fragen des Entwerfens zu bieten und auf wie auch immer vermittelte Weise einen Bezug zur konkreten Entwurfspraxis zu wahren. Die Durchlässigkeit und Aufweichung des Begriffs ‹Design› ermöglichten es, dass im Rahmen der seit Mitte der 1990er Jahre forcierten Akademisierung der Ausbildungsgänge (Master- und Doktorandenprogramme für Design) und der damit verbundenen akademisch verbrieften Qualifikation in Form von Titeln, die Designtheorie sich zum beträchtlichen Teil verselbständigt hat – mit kontraproduktiven Konsequenzen für die Designausbildung und auch die Designtheorie selbst. Die nun erforderliche Forschungstätigkeit begünstigte die Schaffung neuer akademisch approbierter Lehrstellen, die es ermöglichten, entwurfsfernen, wissenschaftlichen Disziplinen im Bereich der Designstudiengänge Hausrecht zu verleihen. Damit aber wuchs (und wächst) die Gefahr einer Ausdünnung der Entwurfskomponente. So wurden unter anderem derzeit hoch in Kurs stehende Begriffe wie emotional design, experience design und design thinking lanciert. Um sich akademisch zu profilieren und dank dieser Aufstockung unter anderem die formalen Voraussetzungen für die Bewilligung von Forschungsmitteln zu schaffen, richten sich die Bemühungen darauf, das Design als Disziplin zu definieren. In gegenläufigen Unternehmungen, vor allem im Bereich der Medienstudien und cultural studies, wird das Wort ‹Design› mit Präpositionen ‹Trans-›, ‹Inter-›, ‹Meta-›, ‹Post-› und ‹Multi-› kombiniert, als ob die noch nicht einmal gefestigte Disziplin zu eng sei und überschritten werden müsse. Bisweilen drängt sich der Eindruck auf, dass es den AutorInnen weniger darum geht, sich in das Thema Design zu vertiefen, als vielmehr das Design nur als Vorwand zu nutzen, um über Kunst, zumal mediale Kunstunternehmungen zu spekulieren. Offensichtlich befindet sich Designforschung noch im Anfangsstudium, wenngleich es an der Produktion von papers, wie sie in anderen Bereichen üblich ist, wahrlich nicht mangelt. Designforschung kann durch dreierlei Eigenschaften von anderen Forschungen unterschieden werden: durch den Forschungsinhalt, durch die Forschungsmethode, und durch den aus der Perspektive des Entwerfens geprägten Forschungsansatz, also die Sichtweise. Diese scheint mir das entscheidende Kennzeichen zu sein.

Mit Ende der 1960er Jahre war die HfG Ulm dysfunktional geworden, was nicht etwa bedeutet, dass das Ausbildungskonzept des kritischen Rationalismus überholt ist. Im Gegenteil, es hat in erstaunlichem Maße Relevanz bewahrt, zumal angesichts der alarmierenden Symptome der Erosion des biotischen Substrats der Gesellschaft und der zunehmenden sozialen Zerklüftung. Ihre Blütezeit erlebte sie in der Periode des Fordismus, mit dessen Interesse an Rationalisierung der Produktion, Baukastensystemen, Austauschbarkeit, Kombinierbarkeit. Mit dem Aufkommen des Postfordismus und des immer stärker dominierenden Marketing war dieses Konzept nicht mehr unangefochten gültig. Nach wie vor aber hat die Thematik einer zeitgemäßen, kritischen Designausbildung nichts an Geltung eingebüßt. Um heute dafür die geeigneten Rahmenbedingungen zu schaffen, wäre ein neuer Typ von Bildungsstätte zu erfinden, in der Wissenschaft und Entwurf nicht nur nominell einen Campus teilen oder einer übergreifenden Institution angehören, sondern thematisch, problem- und projektbezogen miteinander verflochten sind.

Wie bereits erwähnt, bildete die Abteilung Information eine Ausnahme in den Programmen für Designausbildung – und ist es bis heute geblieben, ein nicht weiter verfolgter Entwicklungsstrang. Dass das gegenwärtige Zeitalter als ‹Zeitalter der Information› und die gegenwärtige Gesellschaft als ‹Wissensgesellschaft› etikettiert werden, mag als hinreichendes Indiz für die Notwendigkeit und Rechtfertigung einer Neukonzeption einer Abteilung Information dienen, um auf diese Weise eine Lücke in Designstudiengängen zu füllen. Damit wären Designstudierende angehalten, sich intensiv mit Inhalten zu beschäftigen und neben visueller Kompetenz auch diskursive Kompetenz zu erwerben. In einer dialektischen, digitalen Vermittlung von Bildwelt und Sprachwelt, von Visualität und Diskursivität fände eine zeitgemäße Abteilung Information ihren Platz.

Unterricht
Topologische Übung «Nicht-orientierbare Flächen», drittes Studienjahr 1964/65. Studenten rauchten damals während des Unterrichts. Kein Problem.

Zum Kernstück der Ausbildung gehörte bekanntlich der projektorientierte Unterricht, der sich von einem nach Disziplinen geordneten Unterricht, wie er in der universitären Ausbildung gang und gäbe ist, grundsätzlich unterscheidet. Schwerlich wird jemand bestreiten, dass es derzeit um die Hochschulausbildung nicht gut bestellt ist. Bereits vor Jahrzehnten machte sich diese Krise bemerkbar. Es ist das Verdienst der medizinischen Fakultät der McMaster Universität in Kanada, in den 1970er Jahren einen radikalen Schnitt in der herkömmlichen Ausbildung von Ärzten gemacht zu haben, indem das disziplinorientierte Ausbildungsprogramm durch einen problemorientierten Unterricht ersetzt wurde. Dadurch, dass dieser Neuansatz im Rahmen einer Universität entwickelt wurde, genoss er von Anfang an akademische Kredenzen und damit eine Legitimation. Ich zitiere diesen Fall, da die HfG im Bereich der Designausbildung bereits in den 1950er Jahren diesen für die Hochschuldidaktik so wichtigen Schritt vollzogen hat. Diese beiden Beispiele können als Indiz für eine als notwendig erachtete Revision der Hochschulprogramme dienen. Die in diese Richtung verlaufende Umwälzung des Kanons der Hochschulausbildung ist derart vielversprechend, dass die Voraussage nicht aus der Luft gegriffen ist, in Zukunft werde die gesamte universitäre Ausbildung problemorientiert, und das heißt projektorientiert sein. Das gilt für alle Wissensbereiche, geht also weit über den Bereich der Entwurfsfachrichtungen wie Architektur, Produktgestaltung und Visuelle Kommunikation hinaus. Das thematisch spezialisierte Ausbildungskonzept der HfG, die als Außenseiter begann, wäre als allgemeingültiges Konzept universitärer Ausbildung vielleicht schon gar nicht so ferner Zukunft gut aufgehoben – eine wohl durchaus erfreuliche Aussicht.

Anekdotischer Einschub Desillusion und Ende

Um die Stimmung zu veranschaulichen, die in der Schlussphase in der HfG herrschte, zitiere ich Auszüge aus einem an meine ehemalige Studienkollegin Ilse Grubrich gerichteten Brief vom 8. März 1968:
« … Ja, es steht schlecht um die HfG, obwohl jetzt nach dem unerwarteten Beistand der bundesdeutschen Presse die Zukunft nicht mehr ganz so dunkel erscheint. Allerdings glaube ich, dass für uns hier im Schwabenland nicht mehr die rechte Bleibe zu finden ist, selbst wenn die Uni Stuttgart uns übernimmt. […] In der jüngsten Ausgabe der ‹Zeit› wurden die hintergründigen Ursachen ja mit aller Deutlichkeit in den Vordergrund geholt. […] Es ist ein sehr kurzer Bericht – ich muss jetzt (schon etwas angeschlagen und müde) nach Stuttgart zu einem Gespräch fahren, in dem geklärt werden soll, wie man die HfG ‹retten› könne. Als ob es darum ginge und nicht die HfG gründlich zu ändern.»

Unterricht
Eine Doppelseite aus dem handschriftlich geführten, mit Leineneinband versehenen Studienbuch des Autors.

1. Studienjahr in der Abteilung Information 1956-1957



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Zitation
Gui Bonsiepe "Ein persönlicher Rückblick auf die Abteilung Information" in: David Oswald, Christiane Wachsmann, Petra Kellner (eds) Rückblicke. Die Abteilung Information an der hfg ulm. Ulm, 2015, pp. 44-65, online unter http://www.hfg-ulm.info/de/rueckblick_gui-bonsiepe.html

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