Fred Weidmann Die HfG, Ulm und Germanien.
Es ist in der Tat eine lange Geschichte, sie beginnt 1956, in Zürich. 18-jährig befasse ich mich mit Max Bill und den „Konkreten“, die im Kunsthaus Zürich, im Feuilleton und in Galerien hoch im Kurs sind, besuche gleichzeitig die Kantonale Handelsschule und abends die Anatomie an der Kunstgewerbeschule.
1957, Abitur/Matura und gleich mit Stipendium in die USA, Hauptfach Journalistik und Anatomie für zukünftige Mediziner.
Das mit einer Renaissance-Vorstellung von einer Künstler-Ausbildung. Prägend waren vor Ulm zwei Einzelausstellungen in der Amerikanischen Provinz, die beide ausverkauft waren. Ich versteckte Figürliches im Splash-Chaos wie Jackson Pollock. Als ich nach Ulm kam, wollte ich noch immer Künstler werden und das mit der bestmöglichen Ausbildung.
1958, September, es war nach Semesterbeginn in Ulm, erfuhr ich aus der Neuen Zürcher Zeitung von der HfG. Da wollte ich weiterstudieren, da würde ich mich einbringen. Nach einem intensiven Gespräch mit der Hochschulleitung war ich aufgenommen: Zu meiner Verwunderung gab es kein weiteres Aufnahmeverfahren. Ich war der ideale Kandidat für die Abteilung „Information“. Maldonado war bereits an Bills Platz, Bonsiepe machte seine Pünktchen. Das gab mir zunächst die Hoffnung, man könne an der HfG auch malen.
Zwar war ich als 20-jähriger Schweizer schon viel herumgekommen, hatte ja eigentlich auf den Spuren von Max Bill zur HfG gefunden, hatte den Louvre und das Guggenheim Museum besucht, aber Deutschland und seine kulturhistorisch gespannte Zeit überfiel mich ähnlich wie die Rassenvorurteile der Amerikaner in ihrem Land.
Funktional musste alles Gestaltete sein, das war auch meine Überzeugung, aber, dass man den darstellenden, ornamentierenden und agitierenden Künstler gnadenlos ausrotten wollte, war mit Funktionalität nicht zu begründen. Da war das Kind mit der Entnazifizierung ins Wasser gefallen. Ich hatte nicht Makart erwartet, aber Vordemberge-Gildewart konnte die Lücke nicht füllen. Noch zum Ulmer Funktionalismus: Ich fand eine verlogen himmelblaue Zigarettenpackung mit symbolträchtigem Gallierhelm beispielsweise eher funktional, als eine tabakbraune mit weissem Streifen, wie wir sie mit viel Pathos gestaltet hatten. Kein Mensch in der Stadt hätte unser Produkt gekauft.
Ich war nach Ulm gekommen, auch weil mir das amerikanische System, Kunst an Universitäten zu vermitteln, aus der Ferne dort am ehesten realisiert schien. Die Realität fand ich dann eher sektiererisch bauhausig mit einem starken Hang zur Industrie-Andienerei. Das war einfach nicht die Revolte, nach der ich mich sehnte – da kam ich als Unternehmersöhnchen her.

Unter den Studierenden gab es Freundschaften. Marcel Herbst, mit dem ich ein Zimmer im Wohnturm teilte, war mir ein sehr wertvoller Freund. Er überschaute genau das Spektrum der gesellschaftlichen Realität, was mir gefehlt hatte. Dank ihm kam ich nach Ostberlin, lernte Wolf Biermann kennen, das Brecht-Theater. Manfred Eisenbeis war nicht in meinem Jahrgang, aber mit ihm verband mich Freundschaft, vielleicht weil er in jeder Situation die Seite der Vernunft einnahm. Dazu eine Geschichte: als viele Jahre später mein Sohn in Köln an der Kunsthochschule für Medien studierte, war Manfred Eisenbeis dort Rektor. Er hat ihn, als er sich vorstellte, umarmt als sähe er einen alten Freund. Ich bedaure, dass unsere Lebensläufe so getrennt verlaufen sind. Der Austausch unserer Standpunkte hätte sicher meinen Weg beeinflusst. In meinem Kleiderschrank hängt noch heute eine Seidenkrawatte von Susanne Eppinger.
Ulm, Ende der fünfziger Jahre, war unfassbar seiner Zeit voraus. Man bedenke, in der Schweiz gab es damals noch an keiner Universität einen Lehrstuhl für Soziologie. In Ulm lehrte ein bedeutender Soziologe. Faszinierende Mathematik, Informationstheorie, Kybernetik, Sozialpsychologie, ja Semiotik, all das exotisch Neue, faszinierend viel Versprechende, konnte man da zumindest kennenlernen. Oder, hatte ein junger Mensch das spätere Berufsleben im Visier, war er da sehr gut platziert. Die meisten Studierenden hatten ja einen Beruf gelernt und wussten, was sie suchten. Man musste nicht mal rekrutiert werden von der Industrie, man wuchs direkt hinein in die Projekte und Netzwerke.


Ich glaube, ich war der einzige, der in seinem Leben nur Student gewesen war. Die HfG, weil sie nichts von einer Kunsthochschule hatte, wurde in wesentlichen Dingen meine Initiation. Ich erlebte die Welt der Erwachsenen. Einige der Dozenten haben mich sehr beeindruckt, Horst Rittel, der mir Wissenschaftstheorie und Informationstheorie nahe brachte, und Hanno Kesting, der Soziologe, der mir das Gefühl gab, dass ein sozialpathetisch gelagerter Mensch mit einem Soziologiestudium besser gerüstet sei als durch einen Abschluss in Ulm. Beide mit Universitätsabschluss flüsterten mir hinter vorgehaltener Hand, dass das Studium in Ulm ja nichts von dem Gewicht einer deutschen Universitätsausbildung habe.
Die Gralshüter des Ulmer Rechteck-Stils habe ich gemieden. Das war aber nicht von Bedeutung, da es rundum unendlich viel zu lernen gab. Wertvoll war der Blick auf die Lebenswelt draussen.
Die HfG hatte einen Riecher für Gastdozenten aus dem Wirtschafts- und Kreativ-Leben. Dort lernte ich die Vorgehensweise und die Qualitäts-Standards in den verschiedensten Berufen von den Besten ihrer Zeit kennen. Frei-Otto machte mit seinen Studenten Seifenblasen und Olympiade-Netze.
Zum Thema Grundjahr und Abteilung Information: Wir waren ja viel zu wenige, als dass sich ein separater Unterricht für uns gelohnt hätte. An der HfG konnte man alles mitkriegen, wenn man dafür Interesse zeigte. Notfalls machte man eine Fotoreportage über die Arbeit der Produktgestalter, oder man setzte sich einfach dazu bei den Architekten. Mit Gert Kalow, dem Filmemacher Vesely, dem Literaturkritiker Kaiser, war man mittendrin in einem Kreis von Referenten, die keine Rücksicht auf Erstklässler nahmen und keiner fragte nach dem Rang des Studierenden.
Was hat mir Ulm gebracht? Direkt nützlich für mein späteres Leben waren die Kriterien für gutes Schreiben, für Qualität in der Fotografie, guten Filmschnitt, Kenntnisse in Design und Architektur, eine Einführung in das Who is Who auf diesen Feldern, dann die schon erwähnten Weichenstellungen durch Rittel und Kesting.
Indirekt aber ist Ulm gigantisch bedeutsam für meinen Lebensweg gewesen. Indem ich den rückwärts nach Dessau gerichteten Fortschrittsglauben für sektiererisch unzeitgemäß hielt, weil er den Kotau vor der Kunstgeschichte vermissen ließ, musste ich ein Leben als Ulm-Renegat fristen. Wenn ich einen Stuhl entwarf, dann sicher nicht mit quadratischen Brettern, sondern in Verehrung der Schönheit meiner Frau. Nach Ulm hätte ich niemals an einer Kunsthochschule studieren können (ich wollte ja „Künstler“ werden), da ging nur noch ein Weg durch die Humanwissenschaften. Danke Ulm, da ist ein Kelch an mir vorbeigegangen. Auch als illusionistischer Maler heute muss ich zugeben, ich habe mich geirrt in der Einschätzung der kulturhistorischen Bedeutung des Viereck-verehrenden Funktionalismus. Die HfG hat sich weltweit durchgesetzt und das ist mehr als eine Geschmacksfrage. Vor meiner Haustüre wachsen gerade streng Klotz-artige Gebäude. In der Natur macht nur das Salzkristall solche Würfel. Ein Alien würde denken, die haben sich die Kontinente versalzt. Ich sähe lieber Seifenblasen-artiges in Münchens Skyline.

Beim Verlassen der HfG habe ich alle Brücken hinter mir abgebrochen, nicht weil ich jemandem etwas vorzuwerfen gehabt hätte, nicht weil ich glaubte, dort komme Stagnation, es war in Köln und dem Rest der Welt alles so aufregend, dass ich völlig in den neuen Welten versunken bin. Man hatte keinen Platz für Rückblicke.
Im Herbst 1960 befand ich mich bereits in Köln als Student der Soziologie an der Wirtschaftsfakultät. Es folgten zehn Jahre Universitätsleben. Köln war das Mekka der empirischen Sozialwissenschaften und durch Hans Albert ein Hotspot der Wissenschaftstheorie. Ich fühlte mich da wohl, es war die Abteilung „Information“ in vertiefter Fortsetzung. Bis zum „Diplomvolkswirt sozialwissenschaftlicher Richtung“ war ich Mitarbeiter bei Erwin K. Scheuch in einem Harvard-Projekt: Sekundäranalyse von Umfrageforschung. Auch war ich damals nebenher Assistent von Prof. Wilhelm Menning, Kunsterziehung, Pädagogische Hochschule Kettwig. Nach dem Diplom wurde ich wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationsforschung und Phonetik (IKP) an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn. Gerold Ungeheuer war dort mein verehrter Lehrer, Institutsdirektor und Doktorvater (neben René König, der in Köln Soziologie lehrte). Am IKP habe ich drei Forschungsberichte geschrieben:
Der erste im Januar 1967 war eine Langzeitstudie über das Netzwerkverhalten unserer 22 Institutskollegen: „Der soziale Prozess als informationsverarbeitendes System, eine experimentelle Studie“.
Der zweite, Helmut Richter und Fred Weidmann: „Semantisch bedingte Kommunikationskonflikte bei Gleichsprachigen“, Buske, Hamburg 1969, (2. durchges. Aufl. 1975).
Der dritte als Dissertation: „Grundlagen einer Kommunikationssoziologie“, Buske, Hamburg 1972. Mit einer provokanten Analyse der wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Soziologie habe ich mich nicht für das Lehramt qualifiziert. Es lockte die Freiheit ohne institutionelle Bindungen.
