Erdmann Wingert
Auf dem Holzweg übern Kuhberg
Erinnerungen an eine Zeit der Widersprüche
Hieß er nicht Heinz, mein stiller Nachbar, der sich am Tisch neben mir über seine Entwürfe beugte? Sicher bin ich nicht, nachdem mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist. Nur eines weiß ich noch: Alle Aufgaben, die man uns in diesem einen Jahr der Grundlehre stellte, hatte er besser gelöst als ich.
Das war nicht unbedingt ein Nachweis seiner Begabung, denn was ich zustande brachte, war allenfalls Mittelmaß. Schon meine Bewerbungsmappe war nicht gut angekommen: Aktzeichnungen und Aquarelle, verspielte Kompositionen frei nach Paul Klee, splitterige Stadtmotive im Stil Lyonel Feiningers. Der Querschnitt meiner vier Semester an einer Hamburger Kunstschule hatte die Aufnahmekommission der HfG offenbar nicht überzeugt. Ihre grämliche Antwort in anstaltseigener Kleinschreibung attestierte mir, dass man mich nur unter Vorbehalt aufgenommen hätte.
Ich lernte, ihre Einschätzung zu teilen. Denn so sehr ich mich mühte, mit Ziehfeder, Lineal und Zirkel die Funktion bestimmter Vorgänge, wie die Verkehrsströme einer Kreuzung oder gar den Bewegungsablauf eines langsamen Walzers, graphisch umzusetzen, desto deutlicher zeichneten sich meine Grenzen ab. Dem Nachbarn Heinz gingen solche Übungen flott und fein von der Hand, er nahm sich nebenher sogar Zeit, aus Draht und schwarzem Stoff das Modell eines Sessels zu basteln, kaum größer als eine Hand, offenbar eine verspielte Kür zwischen den tief durchdachten und akkurat gezirkelten Pflichtübungen, vertieft und überhöht durch Vorlesungen, in denen der Mathematiker Horst Rittel rätselhafte Zeichen und Zahlenreihen auf die Wandtafel streute.
Nein, das war nicht meine Welt, obgleich ich mich nach ein paar Monaten an das betonfahle Ambiente der Hochschule gewöhnt hatte, ja mich sogar heimisch zu fühlen begann. Bis heute führt mich die Erinnerung durch die vielgliedrige, in den Hang des Kuhbergs geschmiegte Architektur des Max Bill: vorbei an dem wellenförmigen Tresen, der in die Mensa mündete, davor die Terrasse, von der wir ins Donautal und an Föhntagen auf die rosig schimmernden Schneegipfel der Alpen sahen. Noch immer stellt sich der Traumwandel ein: durch lichte Hallen, in denen an allen Ecken und Enden breite Treppen zu Hörsälen und Werkstätten abzweigen, der Trakt der Produktgestaltung, wo unter anderem Zifferblätter, Brillengestelle, Apothekerwaagen und stapelbare, von jedem Dekor befreite Tassen entstanden, nebenan das Institut des damals schon berühmten Hans Gugelot, der im Kreis seiner Adepten einen Sessel entwarf, für den eine renommierte italienische Möbelfirma einen internationalen Wettbewerb ausgeschrieben hatte. Dass sich auch mein stiller Tischnachbar daran beteiligen wollte, erregte spöttisches Staunen im Kreis der arrivierten Produktgestalter.
Sie stellten die Mehrheit an der HfG, bei ihnen herrschte Andrang, die Studierenden drängten sich fast Tisch an Tisch in den weitläufigen Lehrsälen. Im Kommunikationstrakt dagegen verloren sich knapp zwei Dutzend zukünftige Grafiker zwischen Seminarräumen, Typowerkstatt und Fotolabor. Die einsamste Stellung in diesem Trakt hielt jedoch Dolf Sass, der einzige verbliebene Studierende der Abteilung Information, die ursprünglich dem Zweck dienen sollte, die Produktphilosophie der Hochschule in Massenmedien zu verbreiten. Dieses eng fokussierte Studienziel war offenbar ein Grund dafür, dass die Abteilung an Auszehrung litt, auch wenn sie schon bessere Zeiten erlebt hatte, in denen eine Handvoll Studierende unter Bernhard Rübenach, dem Hörspielleiter des SWR, unter anderem ein komplettes Radioprogramm entworfen hatte. Es zierte in Form eines Mosaiks aus farbigen Kästchen die Betonwand des Unterrichtsraums, wobei mich besonders beeindruckte, dass zwischen den bunten Blöcken aus Nachrichtensendungen, Konzerten, Features, Hörspielen und Kommentaren immer wieder weiße Leerräume ausgespart waren. Sie markierten jeweils zwei Minuten lange Pausen, in denen nichts als Stille herrschen sollte. Zweck der Maßnahme war, den Hörer aus der Dauerberieselung zu befreien, selbst auf die Gefahr hin, dass er dadurch dem Sender untreu würde. Sicher ein ernst- und ehrenhafter Versuch, auf den sich jedoch damals wie heute kein Programmdirektor eingelassen hätte.
Aber wo sonst, wenn nicht an einer Anstalt von Art der HfG, wäre der Ort gewesen, solche Ideen durchzuspielen? Sie waren nicht der einzige Grund, der mir die Zweifel nahm, in der Abteilung Information am richtigen Platz zu landen. Rübenach, bei dem ich während der Semesterferien ein drei Monate langes Praktikum in der Hörspielabteilung absolvierte, war es, der mich bestärkte, eine halbherzige Karriere als Grafikdesigner gegen die eines Schreiberlings zu tauschen. Sein Feature über die HfG, 1958 unter dem Titel „Der rechte Winkel von Ulm“ im SWR gesendet, hatte mich schon vor meinem Antritt auf dem Kuhberg hoffen lassen, eine kreative und zugleich avantgardistische Alternative zu meiner altbackenen Kunstschule zu finden.
Doch Rübenach hatte in seinem Feature die HfG geschildert, wie sie sich ihm in der Ära des Bildhauers, Designers und Architekten Max Bill präsentiert hatte, der noch das Bauhauskonzept vertrat: Die pädagogische Einstimmung auf ein Gesamtkunstwerk strebte er an, in dem sich Kunst und Handwerk im Rahmen der Architektur vereinen sollten. Doch den Begriff Kunst hatten seine Nachfolger aus dem Lehrplan getilgt und durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen ersetzt. Schon im Vorfeld des eigentlichen Studiums, also in der Grundlehre, fühlte ich mich von all diesen Theoriefächern überfrachtet, darunter Methodologie, Kombinatorik, Wissenschaftslehre, Physiologie, Psychologie, Soziologie und zu allem Überfluss auch noch Semiotik, die der argentinische Hagestolz Tomás Maldonado in einem Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch über unsere Köpfe hinweg raunte. Die Lehre von den Zeichen blieb für mich ein Buch mit erheblich mehr als sieben Siegeln.

Es schien mir eine sehr deutsche Eigenschaft, diese Sucht, jeder Sache solange auf den Grund zu gehen, bis die Gefahr droht, dabei zugrunde zu gehen. Die Grübelei um Grundsätzliches, das permanente Beschwören der Ratio, die Skepsis gegenüber Intuition und Spontaneität formten uns. Schon äußerlich. Als ich nach dem ersten halben Jahr für ein paar Ferienwochen in den Familienkreis zurückkehrte, löste meine vergeistigte Erscheinung, die durch schwarzgrau schlichte Kleidung und kurzgeschorenen Kopf betont wurde, den Schreckensruf meiner Tante Gertrud aus: „Mein Gott, der Junge sieht ja aus wie ein Mönch!“
Offensichtlich hatte mich – wie nahezu alle Studierenden auf dem verkopften Zauberberg – die elitäre Inzucht einer Institution geprägt, die nichts als gegeben hinnahm. Doch es zeigte sich, dass der permanente Denkprozess über alle Phänomene des Alltags auch quälen konnte. Nach einem Jahr Grundlehre hatten mich die wissenschaftlichen Breitseiten reif geschossen. Ohne Zuspruch von Bernhard Rübenach und dem Konrektor Gerd Kalow wäre ich wohl nicht geblieben, hätte man mich wahrscheinlich auch nicht über die Grundlehre hinaus dagelassen. Kalow jedoch, der damals mit Rittel und Maldonado das Dreigestirn des Rektorats bildete und die ausgezehrte Abteilung Information aufpäppeln wollte, befand, dass ich Voraussetzungen mitbrächte, ein nützliches Mitglied der Abteilung zu werden. „Als Strichezieher in der visuellen Kommunikation sind Sie doch viel zu begabt.“
So etwas hört man gern, wenn man wie ich ein Jahr lang durch eine fremde Welt geirrt war. In Kalows Seminaren fühlte ich mich dagegen ein wenig mehr zuhause. Schon in seiner ersten Vorlesung horchte ich auf: „Die Sprache ist der Leib des Geistes!“ rief er zu Beginn seines Einführungsreferats in die Runde, ein Goethezitat, das so gar nicht zur musenfremden Attitüde der Schule zu passen schien, schon ganz und gar nicht zu dem Auftrag der Abteilung Information, die aufgerufen war, die Bedingungen der Massenkommunikationsmittel zu erkunden. Ich weiß nicht mehr, ob die Kommilitonen meinen Enthusiasmus über die poetische Metapher teilten – und weil Erinnern auch immer eine Art Erfinden ist, gehe ich mal davon aus, dass Dolf Sass, der sich bei unseren Schreibübungen als Meister der Glosse entpuppt hatte, ein paar sanfte Sottisen über die literarische Programmatik unseres Mentors losließ.
Dolf Sass war das dienstälteste und endlich vom Alleinsein befreite Mitglied der Abteilung, eine feinsinnige Natur, die sich aus den folgenden Scharmützeln der neuen Kommilitonen lächelnd heraushielt. Zu seinen Vorzügen gehörte, dass er mit der Schauspielerin Sabine Werner verheiratet war, durch die wir zu Claqueuren des städtischen Theaters avancierten. Es muss im Jahr 1961 gewesen sein, als sie an der Seite Hannelore Hogers eine Hure in dem Stück „Die Geisel“ spielte, das in einem Dubliner Bordell angesiedelt war. Wie wir von Dolf Sass erfuhren, hätte der irische Autor Brendan Behan das wüste Spektakel in der kurzen Zeitspanne des Tages geschrieben, in der er nicht mehr ganz und noch nicht voll betrunken war. Es strotzte von obszönen und blasphemischen Dialogen und Gesängen, was in dem biedermännisch pietistischen Ulm einen Skandal ohnegleichen auslöste. Regisseur Peter Zadek, noch rechtzeitig vor dem Mauerbau aus dem Theater Brechts am Schiffbauer Damm nach Ulm ausgewichen, wurde durch die Inszenierung schlagartig berühmt und berüchtigt. Zur Premiere saßen wir Schulter an Schulter in der letzten Reihe und klatschten gegen die Buhrufe der Honoratioren in der ersten Reihe an. Es half nichts, auch nicht, dass die Zeitschrift „Theater heute“ die Inszenierung zur Aufführung des Jahres kürte, denn bald darauf musste Zadek gehen und mit ihm ein Großteil des Ensembles. Was blieb, war die Erkenntnis, dass Theater ungeahnt heftige Emotionen wecken konnte.
Welch ein Kontrast zur Programmatik unseres Schulalltags, von der ich mich ohnehin mehr und mehr verabschiedet hatte! Verantwortlich dafür, dass ich dennoch blieb, war Gert Kalow, unser belesener und eloquenter Mentor, der grundsätzlich keinen Unterschied zwischen Journalismus und Literatur gelten lassen wollte. Bezeichnend, dass er als didaktische Grundlage die Stilkunde eines Poeten nutzte: Ezra Pounds „ABC des Lesens“ befasste sich unter anderem mit dem Stellenwert von Hauptwörtern, Attributen und Verben, was in eine Übung mündete, in der wir aus einem Text zunächst jedes Substantiv strichen, danach aus einem zweiten alle Verben und schließlich aus einem dritten jedes Beiwort. Die naheliegende und doch überraschende Erkenntnis war, dass der Text ohne Hauptwörter unverständlich, ohne Verben leblos und ohne Attribute meist besser wurde. Zweck dieser und ähnlicher Übungen war es, uns „die Unschuld des Schreibens zu nehmen“, die Neigung auszutreiben, drauflos zu formulieren, die Disziplin zu beherzigen, Wörter abzuwägen und sie wie Bausteine für ein fest umrissenes Thema einzusetzen. Bis heute hemmt mich und hilft mir dieser Rat beim Schreiben – und vielleicht auch den Studenten, die ich diese Übungen durchspielen lasse.
Fraglich, ob unser Kommilitone Alfons Maria Poss von ihnen profitierte. Sein Idol war Ernest Hemingway, der seine Prosa weitgehend aus Hauptwörtern zusammensetzte und deshalb seinen Adepten bei dieser Stilübung durch offene Türen laufen ließ. Alf Poss stammte aus einer gut situierten Ulmer Familie, sein Bruder besaß einen englischen Sportwagen und eine märchenhaft schöne Frau, von der wir alle in unserer klösterlichen Klausur auf dem Kuhberg träumten. Ein weiteres Geschenk des Himmels hatte Alf mit einem Phlegma gesegnet, das ihn gelegentlich einschlafen ließ, wenn wir unsere Texte vorlasen. Ich erinnere mich nur an eine Gelegenheit, bei der er die Fassung verlor. Er erschien an diesem Morgen verspätet, etwas blass und verwirrt zum Unterricht und berichtete, dass er ein wenig durcheinander sei, nachdem er gegen seine Gewohnheit einen Umweg über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers auf dem Kuhberg genommen hatte. Als er die Senke betrat, die zum Eingang des KZ führte, sah er, wie eine Bauersfrau das Beil über einem Haublock hob und ein Huhn köpfte.
Auch er war, wie alle Studierenden der HfG, ein Kriegskind, zwar wohl behütet und gut versorgt, aber das Erbe unserer Eltern, die alle mehr oder minder in die Gräuel der Nazizeit verstrickt waren, saß uns im Nacken. Im Gedenken an die Geschwister Scholl hatte Max Bill die Schule auf dem Kuhberg in direkte Nachbarschaft zu dem Konzentrationslager platziert, in dem, neben hunderten anderer Regimegegner, auch der Sozialdemokrat Kurt Schuhmacher gelitten hatte. Ich vermute, dass ein geköpftes Huhn Alfons Poss sicher nicht aus der Fassung gebracht hätte, doch die Exekution vollzog sich an einem Ort, an dem Menschen in seiner Heimatstadt gequält und getötet wurden. Es war das Jahr 1961, als er sich auf dem Gelände des ehemaligen KZ verirrt hatte, der Zeitpunkt, an dem Adolf Eichmann in Israel vor Gericht stand. Vielleicht entsprang auch daraus die Idee seines Theaterstücks, das Ende der sechziger Jahre unter dem Titel „Zwei Hühner werden geschlachtet“ bei der Premiere an der städtischen Bühne in Essen einen Skandal auslöste, der sich mit dem des Ulmer Geiseldramas messen konnte.
Nicht etwa, dass der sanftmütige, eher unpolitische und sogar gläubige Alf Poss sein Stück mit Huren, Gotteslästerern und Terroristen bevölkert hätte, im Gegenteil, bei ihm ging es durchweg unsinnlich zu, da agierten sechs Spieler in durchnummerierten Rollen, die ohne Punkt und Komma atemlose Tiraden abspulten, was unter den Zuschauern wahrscheinlich eher Ratlosigkeit statt Empörung ausgelöst hätte, wenn nicht zum bitteren Ende zwei gackernde Hühner auf offener Bühne enthauptet worden wären. Der blutige Akt löste einen Aufschrei so ziemlich aller Tierschützer in deutschen Landen aus, dazu eine mediale Kontroverse über die Grenzen literarischer Freiheit, was für die Zukunft dieses noch jungen Dramatikers, der offenbar einen Nerv getroffen hatte, zu den schönsten Hoffnungen berechtigte. Ich weiß nicht, ob er sie irgendwann begraben hat, jedenfalls habe ich nie wieder etwas von ihm gehört oder gelesen.
Das war bei Herwig Birg anders, auf den ich immer wieder stieß, wenn er eines seiner unzähligen Bücher veröffentlicht hatte, die in gestochener Diktion und zwingender Logik den Untergang Deutschlands prophezeiten. Ich glaube, unser Herwig, dieser so unprätentiös wirkende Junge mit dem runden Kindergesicht, war der einzige unter uns Informanden, der den Formelreihen des nuschelnden Rittels folgen konnte, und auch die Sprachübungen, die uns Kalow auferlegte, brachte er mühelos auf den Punkt.
Es waren dies Aufgaben, die auf den ersten Blick alles andere als poetische Einfühlung verlangten, was so gar nicht dem Goethezitat zu entsprechen schien, wonach die Sprache der Leib des Geistes sei. Doch wenn man es wörtlich nahm, musste dieser Leib doch eine Art Anatomie besitzen, die es aufzuspüren galt. Kalow vergatterte uns zur Lösung dieser und anderer Aufgaben mit einer Methode, die ganz und gar dem Geist der HfG entsprach: Ob Produktions- oder Kommunikationssektor, zum Ansatz jeder Gestaltungsidee gehörte eine Liste, auf der die Kriterien des Sujets aufzuschlüsseln und abzuhaken waren, eh es zur Umsetzung ging. So erschien er eines Tages mit einem Objekt, das uns beispielhaft dem Kerngeschäft des Journalistenberufs verpflichten sollte: nämlich zu informieren.
Das Objekt war eine Wäscheklammer, die wir zu beschreiben hatten, und zwar so, dass selbst ein seit je nackt herumlaufender Volkstamm begreifen würde, wozu so ein Ding gut sei. Es lief wahrscheinlich wie so oft bei solchen Übungen: Während ich noch Gedanken an Randerscheinungen wie die Nacktheit des Volksstamms verschwendete, hatte Herwig Birg seine zwanzig Zeilen in die Maschine gehackt und dabei alle Kriterien, die Kalow vorgeschrieben hatte, schnörkellos erfüllt. Sie beschränkten sich auf Fragen nach Form, Farbe, Preis, Alter, Material, Funktion und Handhabung des Gegenstands – der Sprachstil spielte bei Übungen dieser Art allenfalls eine Nebenrolle.
Ach, die Listen! Sie lagen auf allen Tischen aller Abteilungen! Ich bin sicher, eine davon auch im Institut des Hans Gugelot, vermutlich mit ähnlich unsinnlich aufgereihten Kriterien wie für die Beschreibung unserer Wäscheklammer. Es hieß, dass man für die Gestaltung des endgültig funktionalen Sessels in seinem Institut sogar Probanden verschiedener Größe und Dicke in weiche Gipsformen hatte sinken lassen, um aus den ausgeloteten Einbuchtungen einen Durchschnittswert zu ermitteln, der jeder Statur eine angemessene Sitzposition zuordnen würde.
Zumindest Herwig Birg dürften solche Verfahren eingeleuchtet haben, vielleicht formten sich ja schon damals bei ihm erste Einsichten in das Wesen der Demoskopie, die sich ja auch an Durchschnittswerten orientiert. Jedes mal, wenn ich in den vergangenen Jahrzehnten auf seine Kassandrarufe in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und anderen Blättern stieß, fielen mir diese Momente ein: Wie wir in Rauchwolken gehüllt vor unseren Schreibmaschinen saßen, im Diskurs über die Maximen dieser Anstalt, die sich dem Primat der Ratio verschrieben hatte und sich im Widerspruch zu allen gängigen Formalien erging. Hätte man mir damals prophezeit, dass unser Herwig Birg zum einflussreichsten Apokalyptiker der Bundesrepublik reüssieren würde, wäre ich vermutlich nicht überrascht gewesen. Auch nicht, dass ihn linke Kritiker an den rechten Rand rücken würden, weil seine Argumente für den Untergang Deutschlands auf dem gleichen Terrain angesiedelt schienen wie später die des Thilo Sarrazin. Oder war es Sarrazin, der sich bei Herwig Birg bediente, der schlimme, ja sogar allerschlimmste Einbußen deutscher Leistungsfähigkeit durch die Einwanderung unqualifizierter Ausländer befürchtet? Unter dem Titel „Deutschlands Ausstieg aus seiner demographischen Zukunft“ hatte sich Birg zum Beispiel darüber beklagt, „dass unser Land auf einer schiefen Ebene nach unten taumele, weil die Eltern, die eine stabile Entwicklung herbeiführen könnten, gar nicht erst geboren werden.“
Auch wir hatten in der Abteilung Information einen Einwanderer, im damaligen Sprachgebrauch auch Flüchtling genannt: Harald Kaas hatte es im Nachkrieg aus Böhmen ins Westdeutsche verschlagen, wie und auf welchen Wegen, das verschwieg er, vielleicht weil es darüber nicht viel zu berichten gab, schließlich war er mit seinen einundzwanzig Jahren der jüngste in unserer Runde. Dass er mindestens ein Jahrzehnt älter wirkte, lag nicht nur an den lupendicken Brillengläsern und der gelichteten Stirn, sondern ergab sich aus seiner stupenden Allwissenheit. Er schien, trotz seiner jungen Jahre komplette Bibliotheken eingesogen zu haben und konnte sie auf Zuruf druckreif und zitatenreich wiedergeben. Ob Goethe oder Grass, Brecht oder Benn, Musil oder Enzensberger, alles, was deutsche Literatur von der Klassik bis zur Moderne zu bieten hat, ließ sich aufs Stichwort hin abrufen, beschränkte sich allerdings nicht aufs Referieren. Sein Urteil über Wert und Unwert eines Werkes oder Poeten stand nie zur Debatte und wenn sich dennoch eine Diskussion darüber anbahnte, drohte es, wie ein Fallbeil auf den Gesprächspartner niederzugehen.
Kaas konnte abgrundtief hassen, und das traf nicht nur Verächter und Ignoranten seiner Idole, sondern auch Institutionen wie die Hochschule auf dem Kuhberg, inbegriffen ihrer Kunstfeindlichkeit und Ignoranz in sensitiven und tradierten Dingen. Er sprühte vor Hass, wenn er die Rede auf diese „Kleinschreiber, Rechtewinkelseelen und Tassenstapler“ brachte. Besonders die obligate Kleinschreiberei erboste ihn, die in Form der serifen- und folglich schmucklosen Groteskschrift das typografische Erscheinungsbild aller Veröffentlichungen der Schule prägte. Zu seiner Genugtuung bestätigte ihn eine Übung im sogenannten Folterkabinett des HfG-Dozenten Doktor Perrine, wo wir noch in der Grundlehre in einem Guckkasten kurze Texte in verschiedenen Schriftarten aufleuchten ließen und die Lesedauer einer Reihe von Probanden ermittelten. Es zeigte sich, dass Serifenschriften in herkömmlicher Großkleinschreibung am besten zu lesen waren. Am schwersten zu entziffern waren dagegen Texte aus unserer hauseigenen kleingeschriebenen Grotesk. War es danach noch eine Überraschung, dass schließlich nicht der berühmte, mit wissenschaftlicher und technischer Systematik operierende Gugelot den Sesselpreis der italienischen Weltfirma erhielt, sondern ein Debütant? Heinz war der Preisträger, mein stiller Tischnachbar, der noch in der Grundlehre seinen Entwurf quasi mit linker Hand und aus dem Bauch heraus entwickelt hatte.
Solche Widersprüche waren für Kaas allenfalls Petitessen, die geeignet waren, seinen Spott über die immer wieder beschworene HfG-Maxime zu nähren, dass die Form der Funktion zu folgen hätte. Von wegen! Doch am bösartigsten gebärdete er sich, wenn es um „laue Linksliberale“ ging. In solchen Momenten funkelten seine Augen, ein sardonisches Lächeln verzog die speichelnden Lippen, während er einen nikotingelben Zeigefinger gegen den Widersacher stieß. Gelegentlich verstreute er seine Injurien gegen unsere Lehrkörper und deren empörenden Dogmen in Form von Flugblättern, die er durch Mensa und Treppenhaus flattern ließ, was kopfschüttelnd und folgenlos zur Kenntnis genommen wurde.
Aber es gab auch einen Kaas, der fern aller blindwütigen Attacken kluge und fein differenzierte Texte schrieb, dazu bilderreiche durchweg autobiografisch durchwirkte Geschichten. Einige davon, die ich später in seinem Erzählband „Uhren und Meere“ fand, kannte ich noch aus unserer Ulmer Zeit. Schon damals stieß ich auf verstörende, schwer zu deutende Sätze, die ich als poetische Metapher wertete, wenn er sie mit rollendem R und slawisch klingenden Tonfall vorlas: „Die Verschwörung der Dinge blieb mein Geheimnis, das ich mit den Unwissenden teilte, die die Wissenden wie Schatten begleiteten.“ Oder ein Satz, der ahnen ließ, dass es um ihn nicht gut stand: „Ich konnte nicht leugnen, dass meine Seele überquoll von Bedeutungen, die sich von den Zeichen gelöst hatten wie fallende Blätter“, ein Sprachbild, das mir aus heutiger Sicht den Wunsch zu spiegeln scheint, der Ruinenwelt des Nachkriegs eine Gestalt zu verleihen – so wie es wohl auch die Ulmer Hochschule für Gestaltung in bester Absicht anstrebte. Dass Harald Kaas an Schizophrenie litt, erfuhr ich erst aus dem Nachruf, den sein Verleger Michael Krüger nach dem Selbstmord des ebenso unbequemen wie inspirierenden Freundes schrieb. „Es gab jenseits des positiven Wissens für ihn eine Dimension, die wir, die Normalen, nur erahnen oder in seinen hochpoetischen Geschichten nachlesen können.“
Eigentlich wären damit meine Erinnerungen an die Gefährten der Abteilung Information ausgeschöpft, wenn ich nicht einer der wenigen gewesen wäre, der nach dem Holzweg über den Kuhberg einen gegenläufigen Holzweg durch die Journaille angetreten hätte – um dabei noch einmal mit der HfG zu kollidieren. Unter Federführung des Mentors Gert Kalow waren wir ja nicht nur in literarische Höhen abgehoben, hatten zwar juvenile Gedichte und altkluge Essays geschrieben, aber ich hatte mich außerdem an kulturkritischen Pamphleten über Gott und die Welt versucht, die Kalow gnädig aufnahm und die ich daraufhin an die Chefredakteurin der Zeitschrift Konkret schickte. Ulrike Meinhof, damals noch nicht in den RAF-Untergrund abgetaucht, antwortete postwendend, dass ihr die Thematik meiner Texte etwas beliebig vorkäme, aber im Kulturteil ihres Blattes vielleicht eine Daseinsberechtigung finden würde. Ich ahnte noch nicht, dass mir die Mitarbeit für dieses linke und, wie ich später erfuhr, von der SED finanzierte Blatt, nacheinander die Türen zu Magazinen wie Spiegel, Stern und Zeit öffnen würde. Zunächst die des Spiegels, dem ich ein Paar Arbeitsproben geschickt hatte, worauf mich Rudolf Augstein wissen ließ, dass ihm meine Thematik etwas beliebig vorkäme, aber als freier Mitarbeiter im Kulturteil würde man einen Versuch mit mir wagen. Kalow nahm es hin, als ich mich von ihm und der HfG verabschiedete, grollte aber verhalten, weil kurz darauf auch Kaas und Birg gingen und ihm nur noch Sass und Poss blieben.
Ich hatte dem Spiegel gerade mal drei Beiträge geliefert, als ich mit einem vierten vor verschlossenen Türen stand. Finstere Gestalten in Ledermänteln schirmten die Redaktion ab, Augstein, so informierte mich auf der Straße ein verängstigter Kollege, säße im Gefängnis, alle Spiegelmitarbeiter hätte die Polizei aus der Redaktion vertrieben, eine Machtübernahme durch Franz Josef Strauß bahne sich an und mit ihr das Ende der Pressefreiheit. Zum Glück trat das Gegenteil ein. Landesweit solidarisierte man sich mit dem Spiegel, dem „Sturmgeschütz der Demokratie, allen voran Stern und Zeit, die mit dem Spiegel unter dem Dach des Pressehauses am Hamburger Speersort residierten und den vertriebenen Kollegen ein Asyl in ihren Räumen eingeräumt hatten. Es war der Zeitpunkt, an dem Chefredakteur Henri Nannen beschlossen hatte, seinem Stern, diesem Vergnügungsdampfer, eine politische Fracht aufzubürden, was lag näher, als einen jungen Spiegelmitarbeiter, der auf der Suche nach seinem Redakteur durch die Sternredaktion irrte, abzufangen und abzuwerben?
Ich zierte mich ein paar Wochen, eh ich einwilligte, nicht zuletzt wegen des erstaunlichen Gehalts, das mir Nannen bot, hielt es aber nur ein halbes Jahr in dem mit weichen Themen gepolsterten Vergnügungsdampfer aus, auf dem ich den Fortsetzungsroman zu redigieren hatte und Beiträge für die sogenannte Friseurausgabe schrieb, also jenen Teil bediente, der in der aktuellen Ausgabe das Fernsehprogramm enthielt und in der Lesezirkelversion durch zeitlose Texte aufgefüllt werden musste. „Wir sehen uns wieder“, sagte mir Nannen zum Abschied, als ich ihn in Richtung Zeitredaktion verließ, die in Rufweite lag und mich gefragt hatte, ob ich als ehemaliger Student der Hochschule bereit wäre, einen Erfahrungsbericht über diese doch so aufregend avantgardistische und neuerdings so heftig kriselnde Anstalt zu schreiben. Ein Beitrag im Spiegel, der im Frühjahr 1963 erschien, hatte den „kalten Krieg auf dem Kuhberg“ publik gemacht und als Kronzeugen meinen inzwischen abservierten Dozenten Gert Kalow zitiert: „Der ‚Ulmer Stil‘, der das Klima innerhalb der Hochschule charakterisiert, besteht aus Unfreundlichkeit, Missgunst, Kälte, gegenseitigem Hass und Unfähigkeit miteinander zu reden.“
Ich erinnere nur noch wenige Details meiner Recherche. Eines davon hatte mich offenbar so stark berührt, dass ich es behalten habe. Es drehte sich um einen kreisrunden und kopfgroßen Mond, den ein Student der Grundlehre aus einem zinnoberroten Karton geschnitten und, offensichtlich aus Protest gegen das allgegenwärtige Betongrau, ins Fenster neben seinem Arbeitstisch geklebt hatte. Prompt hätte ihn ein geharnischter Bescheid des Rektors Otl Aicher erreicht, der befahl, dieses grelle, das Erscheinungsbild der Hochschule karikierende Element zu entfernen. Als der Student darauf beharrte, seinem Arbeitsplatz einen persönlichen Akzent verleihen zu dürfen, folgte eine Abmahnung. Eine Marginalie, gewiss. Aber sie deutete den bizarren Vorwurf einer Denkmalschändung an und warf ein Schlaglicht auf Aichers kleinkarierten und autoritären Machtanspruch, der nicht nur Schüler indoktrinierte, sondern auch Dozenten aussortierte, die nicht nach seiner Pfeife tanzten. Neben Kalow, Rittel und Perrine hätte er mehr als vierzig von ihnen vor die Tür gesetzt, berichtete der Spiegel, darunter so prominente Zeitgenossen wie Max Bense, Hans Magnus Enzensberger und Walter Jens.
In diesem Schlangennest war ich alles andere als willkommen, mein Ruf als ehemaliges Mitglied der widerborstigen Abteilung Information ließ befürchten, dass ich mich auf die Seite der rebellierenden Studenten und Dozenten schlagen würde. Dennoch oder wohl grad deshalb gewährte mir Aicher eine Audienz, die allerdings einseitig verlief, weil ich kaum zu Wort kam. Grund dafür war nicht nur Aichers atemlose, in unzähligen Kontroversen bewährte Beredsamkeit, sondern auch die Tatsache, dass ich ihn mochte. Ich wusste, dass er sich unter Lebensgefahr gegen das Naziregime gestellt und an der Seite seiner Frau, der Schwester der hingerichteten Geschwister Scholl, die Gründung der HfG ermöglicht hatte. Außerdem hatte ich ihn als Lehrer zu schätzen gelernt, bewunderte, wie behände und elegant er Vorlagen unserer Zeichen- und Schriftübungen an die Tafel zu zaubern verstand. Umso stärker drängte sich die Frage auf, warum ausgerechnet ein kreatives Talent wie er mit aller Gewalt versuchte, der Schule jeden musischen Impetus auszutreiben und ihr stattdessen ein Korsett aus wissenschaftlichen Disziplinen zu verpassen.
Weiß der Himmel, was in dem Text stand, den ich nach meinen Interviews noch in Ulm schrieb! Immerhin erinnere mich an die Reaktion Kalows, den ich auf der Rückfahrt nach Hamburg in seinem Horst, dem Heidelberger Brückentor hoch über dem Neckar, besuchte. „Überraschend ausgewogen“, fand er das Stück, das danach auch die Zeitredaktion gnädig aufnahm und mir versprach, dafür eine halbe Seite ihres Großformats einzuräumen, um wenig später zu eröffnen, dass der Beitrag nicht erscheinen würde. Inge Aicher-Scholl hätte in Gesprächen mit Marion Dönhoff meine Objektivität und Kompetenz eindringlich und überzeugend in Frage gestellt.
„Hab ich’s doch gleich gesagt“, rief Henri Nannen, als ich in seine Redaktion zurückkehrte.