Elke Koch-Weser Ammassari Was habe ich der Ulmer Hochschule für Gestaltung zu verdanken?

Portrait Koch-Weser
Photo: Adriana Ammassari, 2014
Portrait Koch-Weser
Photo: Evi Koch, 1957

Als eine der nur sehr wenigen Studenten der Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG), welche die Abteilung Information gewählt und dort sogar ihr Studium mit dem Diplom abgeschlossen haben, wurde auch ich gebeten, einen retrospektiven Beitrag zu diesem Band zu liefern. Diese Aufgabe stellt eine Herausforderung dar, der nur schwer zu genügen ist, denn nun sind bald 60 Jahre verstrichen. Und bei mir ist auf das keineswegs lineare und vorhersehbare Ulmer Studium ein beruflicher, akademischer Lebensweg gefolgt, der vom an der Hochschule Gelernten zwar vielerlei sehr wichtige Anstöße bekommen hat, aber wohl kaum einen wirklich systematisch auf ein klares berufliches Ziel bezogenen Wissensfundus.

Dieser „Rückblick“ auf meine Studienzeit in den Jahren 1955 bis 1959 versucht also diesen vielleicht nicht nur mich persönlich betreffenden Widerspruch zu untersuchen, und er möchte dabei den objektiven Rahmen wie auch die subjektive Erwartungswelt erforschen, in die meine Erfahrungen einzuordnen sind. In erster Linie wird er sich, als Beitrag zur Zusammenstellung der historischen Daten, auf Ereignisse und Erlebnisse, Beurteilungen und Stimmungen stützen, die ich oft wörtlich den Briefen entnehme, mittels derer ich damals sehr regelmäßig und detailliert meinen im fernen Brasilien lebenden Eltern Begebenheiten erzählt und mein Ergehen beschrieben habe. Außerdem habe ich eine Menge von aufbewahrten Vorlesungsnotizen konsultiert und meine schriftlichen wie visuellen Arbeiten durchgesehen. Bei der oft mühseligen Rekonstruktion des mittlerweile fern gerückten Geschehens waren mir die in Frankfurt, Florenz und Rom geführten Gespräche mit meiner Freundin Ilse Grubrich-Simitis besonders hilfreich, deren Beitrag als Absolventin des Studiums in der Abteilung Information ebenso in diesem Band zu finden ist. Zusammen haben wir uns nach all den Jahren – zuerst zaghaft, dann aber doch entschlossen und letztlich dankbar belohnt – auf die Wanderung in unsere gemeinsame HfG-Vergangenheit gemacht. Es soll sich hier jedoch nicht nur um einen Bericht handeln, vielmehr möchte ich versuchen, die damaligen kontrastreichen und oft sogar widersprüchlichen Ereignisse aus heutiger Sicht zu beleuchten, um sie, soweit mir möglich, analytisch zu erfassen. Bei meiner Rückbesinnung bin ich nämlich bald auf manch offene Frage gestoßen.

So schien es mir gleich zu Anfang meiner Recherchen erforderlich, etwas genauer zu verstehen, wie in der frühen deutschen Nachkriegsepoche das Projekt der HfG überhaupt entstanden ist und unter welchen Voraussetzungen es zu seiner Realisierung kam. Natürlich war uns, den am „Experiment Ulm“ Beteiligten, damals von vornherein bekannt, dass Inge Aicher-Scholl mit der Gründung der Hochschule die Erinnerung an ihre beiden vom Naziregime hingerichteten Geschwister wachhalten wollte und dass der amerikanische Hochkommissar John J. McCloy sowie Vertreter der deutschen Industrie die für das Unternehmen nötigen Mittel zur Verfügung gestellt hatten. Aber erst jetzt habe ich, an Hand der Ergebnisse von lobenswerten archivarischen und dokumentarischen Aufarbeitungen, mehr über den sozialen Kontext und die Vorgeschichte der Gründungsinitiative herausgefunden.1 Ich meine, dass vorweg einige Stichpunkte hierzu die Entwicklungsphasen und späteren Probleme der Hochschule wie auch meine ambivalente Beziehung zu ihr verständlicher machen.

Offenbar stellte die Stadt Ulm nach Kriegsende ein sozialpolitisch wie kulturell hochinteressantes Wiederaufbauterrain dar. Allen voran bemühte sich der noch junge Otl Aicher, später Ehemann von Inge Scholl, mit außergewöhnlichem persönlichen Einsatz sofort, die Stadtbewohner zu reger Zusammenarbeit zu bewegen und unter ihnen einen breiten, solidarischen Einsatz zu fördern, gemeinsam die verlorenen freiheitlichen, demokratischen Werte wiederzubeleben. Namhafte Persönlichkeiten, wie insbesondere Romano Guardini, wurden eingeladen, Vorträge zu halten, und es gelang Aicher, die intellektuellen Schlüsselpersönlichkeiten der lokalen öffentlichen und privaten Institutionen und des kulturellen Lebens für einen radikalen Neuanfang zu mobilisieren.2 Großes Renommee gewann dabei die 1946 gegründete Ulmer Volkshochschule unter der Leitung von Inge Scholl, die den Wissensdurst der älteren wie der jüngeren Generation zu stillen versuchte. Im vorliegenden Zusammenhang bedeutungsvoll wurden auch vielerlei andere Bürgerinitiativen, welche ähnlich bestrebt waren, auf das Leben in der Stadt Einfluss zu nehmen (Initiativen, die übrigens bereits damals auf Partizipation und Sozialkapital basierende bottom up Entwicklungsstrategien ausprobierten, die erst viel später wissenschaftlich untersucht wurden).

Interessanterweise wurde fast gleichzeitig, mit ähnlichen Zielsetzungen, unter der Ägide von Hans Werner Richter, als Zusammenschluss von Schriftstellern die Gruppe 47 gegründet. Auch hier war der Focus die Überwindung des 1945er „Nullpunkts“, auf der Suche nach neuen Werten, mittels des Erlernens von Kritikfähigkeit und Toleranz. Zusammen mit Alfred Andersch publizierte Hans Werner Richter die Zeitschrift Der Ruf, als Instrument der Aufklärung und Erziehung sowie speziell auch zur Anregung von Diskussion und Meinungsbildung. Diese Zeitschrift – welche sich zum Zeitpunkt der sich zuspitzenden internationalen politischen Konfrontation den Austausch zwischen Ost und West zur Aufgabe machte und welche die linksorientierte Position der Herausgeber nicht verhehlte, wenn sie mitunter die Besatzungsmächte kritisierte – musste allerdings noch im selben Jahr 1947, auf Veranlassung der ‚Information Control Division‘ der amerikanischen Besatzungsinstanzen, ihr Erscheinen einstellen. Die Gruppe 47, zu der zunehmend die jungen und experimentierfreudigsten deutschsprachigen Autoren gehörten, entwickelte sich dennoch weiter und gewann mit der Zeit beachtliches internationales Ansehen.3

Der Wunsch des Paares Aicher-Scholl, über die Volkshochschule mit ihren Donnerstagvorträgen hinaus eine „Schule“ zu gründen, entwickelte sich anfangs in Freundschaft und Übereinkunft mit Hans Werner Richter. Zunächst sollte es, in Erinnerung an den Widerstand der Geschwister Scholl, eine auf politische Bildung ausgerichtete Abendschule werden. Zentral in der Stadt gelegen, sollte sie – „sowie der Bahnhof“ – ganz inklusiv alle Bewohner Ulms betreffen. Aber wie ließ sich ein solches Projekt finanzieren? So wurde bald der Plan geändert, und man dachte eher an eine „Hochschule“ im Rahmen des Re-education Programs der alliierten Mächte, für deren Einrichtung Ressourcen zu erhoffen waren. Im Kontext des Finanzierungsproblems tauchte jedoch eine völlig andere Zielsetzung auf. Otl Aicher, selbst Graphiker und Typograph, hatte sich von Max Bills innovativer Idee der Guten Form begeistern lassen. Mit entschieden moralischem Anspruch bemühte sich der Schweizer Künstler, Designer und Architekt um die Schönheit der Formgebung von alltäglichen Gebrauchsgegenständen, welche vom Material und von der Funktion her zu bestimmen sei.4 Aicher hatte Kontakt mit dem ehemaligen Bauhausschüler aufgenommen und verwarf nun in vieler Hinsicht das zuvor mit Hans Werner Richter vereinbarte sozial reformerische Schulkonzept, in welchem diesem schon die Rolle des Rektors zugeschrieben worden war. Es kam zu einem ideellen Bruch und, wie mir scheint, zu einer grundlegenden Umorientierung. Man beschloss – jetzt mit Max Bill als spiritus rector und künftigem Verantwortlichen, den Amerikanern entgegenkommend, die alte Bauhausidee wieder aufzugreifen. Man wollte nun eine Hochschule aufbauen, nicht mehr im Herzen der Stadt, sondern weit außerhalb, im amerikanischen Campus-Stil, in einem ganz modernen Neubau auf dem Kuhberg. Somit verflüchtigte sich der Wunsch, etwas kulturpolitisch Relevantes unmittelbar mit und für die Bürger der Stadt Ulm zu tun. Verlockend schien nun vielmehr die Möglichkeit, dank eines Schweizers wie Max Bill einen breiteren, sogar internationalen Studentenkreis ansprechen zu können. Unter diesen Voraussetzungen gelang es schließlich dem Ehepaar Aicher-Scholl von der amerikanischen Seite die Zusage des notwendigen Startkapitals zu bekommen, zumal von Harvard aus der emigrierte Gründer des Bauhauses Walter Gropius prompt bereit war, mit einem unterstützenden Brief offiziell, gegenüber den Autoritäten und Geldgebern in Übersee, als Garant des Projektes zu fungieren.

Meiner Erinnerung nach ist der hier skizzierte Vorgang, das heißt das totale Umkrempeln der anfänglichen Gründungsabsichten, zur Zeit meines Studiums erstaunlicherweise niemals thematisiert worden. Unter uns Studenten waren die ursprünglichen, sozialpolitisch engagierten Zielsetzungen nur wenigen bekannt; doch ist anzunehmen, dass bei den Gründern der Hochschule ein Zwiespalt geblieben ist, der dann die späteren Auseinandersetzungen beeinflusst hat. Als geschichtlicher Hintergrund hätte dieser Zwiespalt zumindest in der Abteilung Information zum Thema werden müssen; das geschah aber nicht. Heute vermute ich, dass dieser Hintergrund und die doppelte Seele des Projekts erklären, warum an der Hochschule für Gestaltung diese Abteilung die problematischste war – also weshalb sie nur schwer auf den Weg kam, sie uns Studierende wiederholt unzufrieden machte und sie schließlich auch nur wenige Diplomanden mit einem Abschluss verabschieden konnte. Unter dieser Prämisse bemühe ich mich nun rückblickend folgende Fragen zu beantworten:

 

  1. Unter welchen Umständen kam es zum Besuch der Hochschule für Gestaltung und wie erfolgte die Aufnahme?

  2. Wie entwickelte sich mein Studiengang im Grundkurs und in der Abteilung Information?

  3. Was geschah und was beschäftigte uns, und mich speziell, außerhalb der Studienzeit?

  4. Welchen Niederschlag fand das in Ulm Gelernte auf meinem weiteren Studienweg?

  5. Welche Rolle spielte das in Ulm Angeregte bei meiner späteren akademischen Tätigkeit?

 

1. Unter welchen Umständen kam es zum Besuch der Hochschule für Gestaltung, und wie erfolgte die Aufnahme?

Mir fehlten noch zwei Jahre zum Abitur, als meine Eltern, in Brasilien, zum ersten Mal vom Projekt Hochschule für Gestaltung Ulm hörten. Es muss ihnen sofort eingeleuchtet haben. Sie waren bald nach Hitlers Machtergreifung aus Deutschland ausgewandert, hatten im brasilianischen Urwald Land gekauft und nach sehr beschwerlicher Anfangszeit eine ertragreiche Kaffee-Fazenda aufgebaut. Mit ihrem Beschluss auszuwandern waren sie meinem Großvater gefolgt, der als früherer Reichstagsabgeordneter, Vorsitzender der Demokratischen Partei und Minister in der Weimarer Regierung schon 1933 – nach Verbrennung seines Buches Und dennoch aufwärts auf dem berüchtigten Bücherscheiterhaufen – zum gleichen Ort ins Exil gegangen war. Er wartete darauf, nach dem Krieg wieder nach Deutschland zurückzukehren, um sich am Wiederaufbau zu beteiligen, doch er starb kurz vor Kriegsende am Zufluchtsort.5

Wie andere dort gelandete, politisch und/oder rassisch verfolgte deutsche Flüchtlinge, befasste sich auch meine Familie nach Kriegsende, dank des dann zunehmenden Nachrichtenflusses, intensiv mit den Ereignissen der Widerstandsbewegung. So gelangten nicht nur das tragische Geschick der Geschwister Scholl, sondern speziell auch die Ulmer Initiativen von Otl und Inge Aicher-Scholl in den Brennpunkt ihres Interesses. Eine Vermittlerrolle übernahmen hierbei die ortsansässigen Schwiegereltern des mit dem Paar eifrig zusammenarbeitenden Intendanten der Städtischen Bühne in Ulm, Peter Wackernagel. Im Ausland erregte die Gründung der Hochschule für Gestaltung im Jahre 1953 große Neugier. Dieses war nicht nur bei meiner Mutter der Fall, die aus den Weimarer Jahren die Bauhausidee gut kannte und mit Begeisterung auf Bauhausfesten getanzt hatte. Architektur war in Brasilien damals zu einem spannenden Thema geworden – dank Oscar Niemeyers weithin aufsehenerregenden „modernistischen“ Bauten im eigenen Lande sowie dem Gewinn des Wettbewerbs mit dem darauffolgenden Auftrag, zusammen mit Le Corbusier (dessen eigenes Projekt nicht preisgekrönt worden war) den Sitz der Vereinten Nationen in New York zu bauen.

Meine Eltern meinten also, dass zwei ihrer Töchter, handwerklich geschickt und künstlerisch nicht unbegabt, versuchen sollten, in Ulm in den Eröffnungsjahrgang 1954 und in den darauffolgenden aufgenommen zu werden. Und da man wusste, dass der erwählte Leiter der Schule, Max Bill, im Zusammenhang mit Verpflichtungen bei der Biennale nach São Paulo6 kommen würde, fuhr meine Mutter dorthin, um Genaueres zu erfahren. Und was sie hörte, bestärkte ihre Überzeugung, dass es sich bei der Hochschule um ein für junge Menschen sehr vielversprechendes Unternehmen handele. Meiner Schwester und mir, die bis dahin noch nicht mehr als ein halbes Jahr in Europa verbracht hatten, gefiel der Vorschlag, allerdings wohl auch mangels Kenntnis von Studienalternativen in Deutschland.

Meine Schwester Frauke wurde dann, nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten, im Jahre 1954 mit dem Ziel Abteilung Produktform in Ulm aufgenommen.7 Ich selbst hingegen, interessiert an Geschichte und aus dem Abseits besonders neugierig auf die modernen Medien, bewarb mich ein Jahr darauf mit dem Ziel Abteilung Information. Diese Abteilung war in Ulm vorgesehen, doch einstweilen noch nicht vorhanden, und es gab für sie auch noch gar kein offizielles Programm. Aber das schien kein Problem zu sein, denn im ersten Jahr galt es ohnehin den für alle Studenten verbindlichen Grundkurs zu besuchen. Allerdings mussten beim Eintritt in die Schule die für die gewählte Abteilung zutreffenden Aufnahmebedingungen erfüllt sein. Und so wurde mir beim ersten Besuch der HfG und der Besichtigung ihrer imposanten, phantastisch in die Landschaft eingefügten Rohbetonanlagen, von Max Bill geraten, nach Ablegung meines Externen-Abiturs an einem Mainzer Gymnasium ein von ihm vermitteltes fünfmonatiges Praktikum bei dem bekannten Verlag für moderne Kunst, Percy Lund Humphries, in London zu absolvieren. Dort gäbe es, zur Vorbereitung auf das Studium, in der von ihm sehr geschätzten graphischen und layout Abteilung, unter der Leitung von Herbert Spencer, sehr vieles zu lernen.

Die Zeit in London lieferte die denkbar beste Einführung in die mir völlig neuen europäischen Lebensumstände. Ich bekam einen guten aktiven Einblick in das verlegerische Unternehmen und durfte zur Übung an den typographischen Arbeiten teilnehmen. In der Freizeit war ich unentwegt mit Begeisterung in Museen oder im Theater und lernte überdies vielerlei sehr interessante Menschen kennen. Anschließend an meinen London-Aufenthalt und bevor mein Studium beginnen sollte, wurde mir dann die willkommene Gelegenheit geboten, für eine Woche von München aus mit nach Florenz zu fahren, wo ich, kompetent eingeführt, in Lebensart und Kunstgeschichte schwelgen konnte. Im Brief an die Eltern vermerkte ich: „Mein Traumland Italien!“, ohne zu ahnen, dass ich später den größten Teil meines Lebens dort verbringen würde.

 

2. Wie entwickelte sich mein Studiengang im Grundkurs und in der Abteilung Information?

Im Herbst 1955 wurde die Schule, selbstverständlich mit einem Vortrag von Walter Gropius, eingeweiht. So standen bei meinem Eintreffen Verwaltungs- und Unterrichtsräume bereit, und ich konnte ein hübsches, spartanisch eingerichtetes kleines Zimmer im Wohnturm beziehen. Als aus ländlicher Umwelt stammender Neuankömmling, reichlich verwöhnt von dem zuvor erlebten regen Kulturangebot Londons und Italiens, konsternierte mich sofort die große Entfernung der HfG von der Stadt Ulm, welche den aktiven Austausch mit der mir noch ganz unbekannten deutschen Alltagswelt zu behindern drohte. Keine öffentliche Verkehrsverbindung zur Schule gab es oder war vorgesehen. So musste ein jeder – auch bei Nacht und Wind – den Weg von der Straßenbahn-Endstation zum Kuhberg zu Fuß hinaufgehen, es sei denn, er zählte zu den sehr wenigen Autobesitzern. Isolation, und zwar nicht nur im räumlichen Sinne, war also und blieb ein Faktum. Sie veranlasste die Schwäbische Donau-Zeitung, als sie die Fortschritte der von Bill entworfenen Bauanlagen der Schule anerkannte, festzustellen, dass, während in interessierten Kreisen des In- und Auslands Sinn und Zweck des Schulunternehmens seit langem bekannt seien und seine Entwicklung mit Spannung verfolgt werde, unter den Ulmern vielfach noch Unklarheit über dessen Zielsetzungen bestünden.8 Die Schwierigkeit dauerte also an, mit den Stadtbewohnern, in Bezug auf dieses ambitiöse Projekt, im planenden Dialog wie in der kulturellen Zusammenarbeit, einen ersprießlichen Modus zu finden. Ich werde mich nun bemühen, den Bildungsweg zu rekonstruieren, den mir die HfG in jenen frühen Jahren geboten hat.

 

Unterricht
Metallwerkstatt (1956): Cornelius Uittenhout und Elke Koch-Weser. Foto: Wolfgang Siol

2.1 Der Grundkurs

Das Grundkursstudium begann ich zusammen mit 30 zumeist etwas älteren Mitstudenten, darunter nur sechs Studentinnen. Sogleich stellte sich heraus, dass ich der einzige Kandidat für die künftige Abteilung Information war, und das schien mir zunächst ganz sinnlos zu sein. Meine allerersten Briefnotizen nach Hause betreffen die damaligen HfG Protagonisten. Anlässlich des Neuling-Empfangsfests lieferte ich ein, wie mir scheint, sehr treffendes Portrait: „Wüst, den Bill tanzen zu sehen. Sehr fanatisch, etwas gebeugt, die Stirn lenkend voraus, rhythmisch – mit der dünnen Evi – sah prima aus! “, und zum anderen den knappen Hinweis: „Gestern Bense Vortrag, Der Mensch im technischen Zeitalter – wahnsinnig interessant.“ Ganz offensichtlich war mein anfänglicher Eindruck ein entschieden positiver.

Zu Beginn des Unterrichts Ende Oktober 1955 wurde uns von Hans Curjel, Kulturkritiker aus der Schweiz, anknüpfend an die Bauhaus-Tradition, das pädagogische Prinzip der Schule präsentiert, und es wurde von ihm mit Hilfe von Tomás Maldonado verankert in den Ideen der „aktivistischen Schule“ Georg Kerschensteiners, der Methodik Maria Montessoris und in John Deweys Maxime „learning by doing“. Dabei wurde allerdings hervorgehoben, dass das für das Bauhaus weitgehend geltende Schlagwort „Arbeitsschule gegen Bücherschule“ nicht das unsere sei. Ich schrieb nach Hause: „Der Reihe nach mussten wir [Curjel] erklären, woher wir seien, was wir getan hätten und was wir hier suchten. Interessant die verschiedenen Gesichter zu den Aussagen! Dann verteilte er Arbeitsaufgaben. Zuerst sollten wir uns eine ‚Übersicht über die letzten 50 Jahre‘ aneignen. Dazu wurden Gruppen gebildet, die sich mit Architektur-Plastik-Malerei, Produktform, Pädagogik und Lebensformen befassen sollten, in 14 Tagen. Viel Zeit wird uns gelassen, aber auch sehr viel erwartet.

Tomás Maldonado, „der dunkle lange schlaksige Argentinier, Leiter des Grundkurses, ist still, freundlich und nett…. Er berät uns bei den Referaten und gab uns heute kurz Stichpunkte.“ Zum Beispiel, biologisch oder technologisch gesehen, meint er: „Lebensform umfasst Philosophie, Soziologie, Politik, Literatur, Musik oder Energien und Materialien. Lesen: Sigmund Freud; Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine; Benses Beiträge zur Philosophie zwischen zwei Kriegen; Lukàcz: Die Zerstörung der Vernunft, sowie Werke zur Geschichte der modernen Literatur. Schwer für viele, die wenig Ausbildung mitmachten – mal sehen. Ich bin in der ‚Pädagogik‘. Stichpunkte: Loos, Gropius, Van der Velde, Moholy-Nagy, Albers, Klee, Bill. Habe zwei dicke Moholy-Nagys hier liegen.

Wahrlich ein interdisziplinäres, für Novizen anspruchsvolles und äußerst breit gefächertes Programm. Hinzu kam eine interessante Vorlesungsreihe von Hans-Joachim Firgau, der mit holistischen, sozialpsychologischen und gestaltphilosophischen Gesichtspunkten wichtige Themenkreise wie „Soziale Verpflichtung“, „Freiheitsbegriff“ und „Staatswesen“ behandelte. Die Ermittlung einer nicht von Tabus eingeschränkten „Vernunfthaltung“ zwecks Definition von „Sittlichkeit“, angesiedelt im Bereich zwischen Individuum und Gesellschaft, schien ihm sehr wichtig. Und er warnte – wohlgemerkt an unserer schließlich eklatant zukunftsfreudigen Institution – vor einem verflachenden Aufweichen solcher Problematiken mit dem Spenglerschen Satz: „Optimismus ist Feigheit“. Zugleich lieferte er auch selbstreflexive Argumente und kritische Überlegungen zu seiner eigenen Betrachtungsweise, die wohl den Aicherschen Grundgedanken und anfänglichen Zielvorstellungen durchaus entsprach.

Max Bense betreffend schrieb ich nach Hause, dass er, obgleich eigentlich Physiker, als Logiker bedeutender und bekannter sei und dass er in der oberen Klasse einen Überblick über die Charakteristika der Mikro- und Makrophysik mit den wichtigsten Atomentdeckungen der letzten Jahrzehnte, Planck, Heisenberg, etc. geboten habe. „Alles natürlich nur kurz, grundsätzlich.“ In unserem Grundkurs hingegen warf er die philosophische Schlüsselfrage auf: Was ist Wissen? Es ging um verschiedene Ordnungen von Sprachen; um abstrakte Sprachen, formalisierte Aussagenlogik und um rationales, nachprüfbares Denken, um schließlich (über Kant und Husserl bis hin zu Whitehead) beim Strukturbegriff und den Modalitäten ästhetischer Anschauung zu landen. Aufgabe war ein Aufsatz mit dem Thema „Anwendung und Definition der rationalistischen Denkweise“. Ich fühlte mich gänzlich überfordert! Aber das beeinträchtigte nicht meine Neugier und Faszination.

Anfangs beinhaltete unser praktischer Arbeitsplan: „Am Morgen immer Baravalle: Kurven und Spiralen zeichnen, die auf mathematischen Formeln beruhen und, in schwarz-weiß, entweder spiralflächen- oder symmetriebetont ausgearbeitet werden.“ Wenn ich die Blätter heute betrachte, staune ich über die wirklich enorme Präzision dieser Arbeiten, und es faszinieren mich die Titel: Logarithmische Spiralen als orthogonale Trajektorien oder Die Lemniskate und die pascalsche Schnecke als Inversion einer Hyperbel. Weiter berichtete ich: „Dies täglich 3½ Stunden, bis 12 Uhr. Dann Essen, Pause bis 2 Uhr; anschließend Werkstatt. Wir waren diese Woche im Metall (jede Werkstatt ein Drittel des Grundkurses). Man bekam eine Eisenplatte, sollte diese rechtwinklig und ganz gerade schleifen. Eine unwahrscheinliche Geduldsprobe – erst langsam lernte ich es. Erst war immer zu viel und dann gleich wieder zu wenig da; drei Ecken glücklich ziemlich rechtwinklig, dann stimmte es immer mit der vierten nicht mehr.

Zwar machte mir das manuelle Schaffen Freude, doch für nicht handwerklich Vorgebildete und Unerfahrene im Umgang mit Kreissägen und Lötkolben wie mich, waren die Erwartungen – wie später auch in den Holz- und Gipswerkstätten – mitunter fast qualvoll hochgesteckt.

Dem Unterricht bei Hermann von Baravalle folgte ein auf optisches Training ausgerichteter Farblehre-Kurs bei der früheren Bauhäuslerin Helene Nonné-Schmidt. Bei ihr mussten wir auf einem Blatt vorgeschriebene Felder oder winzige ausgestanzte und aufzuklebende runde Blättchen mit sorgsam abgestuften und vermischten Aquarellfarben bemalen. Die zu lösenden Aufgaben hießen zum Beispiel: Ermittlung der Auswirkungen verschiedener Helligkeitswerte mit Komplementärfarben oder Dreiflächige Überdeckung benachbarter Komplementärfarben. Es handelte sich hierbei um eine zeitintensive, höchst genaue Fleißarbeit, deren perfekte Ergebnisse man noch jetzt am liebsten einrahmen mag. Auf der gleichen Linie arbeiteten wir Grundkursstudenten dann weiter bei dem Architekten Hans Gugelot, der uns in seinem Kurs Konstruktive Darstellungsmethoden zeichentechnisch vorbereiten sollte auf ein eventuelles künftiges Entwerfen von Gegenständen. Wieder ging es ausschließlich um für alle ganz einheitliche Aufgabestellungen wie etwa: Dreiseitige Pyramide auf schiefer Ebene oder Drei Kugeln ineinander und jede berührt die nächst größere oder auch Zweifluchtpunkt-Perspektive. Obendrein vermittelte Otl Aicher uns typographische Expertise, und es ging bei ihm um die Entwicklung und Eigenart der Druckschriften, um Korrektursymbole und um Druckverfahren.

Zu beachten ist, dass im Grundkurs, neben den vorbestimmten Arbeitszyklen der Vormittage, dem individuell-kreativen Moment keinerlei Zeit vorbehalten war. Eigene erfinderische Ideen bei der Konfrontation mit den Aufgaben blieben unbeachtet hinter den abstrakten Problemen optimaler Re/Produktion versteckt. Und ich vermute, dass niemand von uns Studenten darauf bestanden hat, systematisch wirklich eigene Konzepte zu entwickeln (etwa in Gestalt vorzüglicher Skizzen – wie der in Italien reisende junge Le Corbusier sie geschaffen hat).

Als Gegengewicht zu all den praktischen Übungen bot Eugen Gomringer, „konkreter Dichter“ und Sekretär von Max Bill, einen historisch wie interkulturell außerordentlich weitgespannten Kurs über vergleichende Literatur- und Kunstgeschichte, von Dante bis zum Surrealismus. Und schließlich gab es noch zwei weitere, leider zu knappe Vortragsreihen, die ganz besonders meine auf die Abteilung Information gerichteten Interessen betrafen und Anregungen zu meinen Nach-Ulm-Studien lieferten. Erstens bot uns Helge Pross einen aufschlussreichen und breit ausholenden Überblick über die Geschichte der Soziologie und befasste sich dann speziell mit den verschiedenen Formen der Institution Familie und ihren Problemen in der modernen Gesellschaft.9 Und zweitens kam Hellmut Becker, um über empirische Forschungsmethoden einerseits in der europäischen Tradition und andererseits in den neueren amerikanischen Sozialwissenschaften zu sprechen. Dabei befasste er sich besonders mit der Dynamik formeller und informeller Gruppen und den diesbezüglich anzuwendenden soziometrischen Methoden.10

Hatten unter den genannten Grundkurs-Dozenten die einen ausschließlich die Theorie und die anderen ausschließlich die Praxis im Sinn gehabt, so ist hervorzuheben, dass Tomás Maldonado der einzige war, der von Anfang an mit originellen Ansätzen versucht hat, diese beiden Perspektiven produktiv zu vereinen. Stets war er bemüht, brauchbare Konzepte und Regeln zu finden, welche sich dann zum Vorteil der Lösung gestalterischer Aufgaben anwenden ließen. Startpunkte boten Wahrnehmungs- und Gestalttheorie, Topologie und Semiotik. Auf deren Grundlage formulierte er eine Reihe von Gesetzen (z.B. der Gestalt, der Prägnanz, der guten Kurve oder des gemeinsamen Schicksals, der Figur-Grund-Relation, der Erfahrung oder der Bewegung) und Arbeitshypothesen. Entsprechende praktische Aufgabenstellungen veranlassten uns dann, komplizierte und ästhetisch sogleich sehr attraktive Peano Flächen und Weierstrasskurven zu zeichnen, Dreh-Gleit-Spiegelungen zu erfinden, uns mit verschiedenen Kompositionen nach Gleichgewichtsprinzipien zu befassen und sogar zu versuchen, experimentell vergleichend, Ungenauigkeit durch Genauigkeit zu erzielen. Kurzum, Maldonados Kurs, der sich über beide Grundkurs-Semester erstreckte, bot vorsichtig dosiert dem eigengesteuerten Kreativitätsbedürfnis immerhin ein klein wenig Spielraum.

Im Laufe des Grundkursstudiums tauchten bei mir immer wieder heftige Zweifel auf, ob die Entscheidung, an der HfG zu studieren, überhaupt die für mich richtige gewesen war. Ich hielt das theoretisch Gebotene allgemein für ungenügend systematisch aufgebaut. Hinzu kam, dass die Dozenten bei anspruchsvollen Themen dazu neigten, einfach zu ignorieren, dass zum korrekten und gründlichen Verständnis der Probleme vielen unter uns die solide Wissensbasis mangelte. Und bei den meisten Übungen fehlte die besonders mir wichtige, hier gänzlich ausgeklammerte, bewusst lebensnahe und phantasiebereichernde Perspektive.

Ab Mai 1956 konnten meine von ähnlichen Zweifeln geplagte Freundin Ilse Grubrich, ehemalige Waldorfschülerin, und ich uns der keineswegs automatischen Versetzung sicher sein. Aber nun herrschte bei uns Unschlüssigkeit betreffs der Wahl zwischen den Abteilungen Information und Visuelle Kommunikation. Wir sprachen darüber mit Tomás Maldonado, der seit Max Bills Rücktritt als Rektor im März dieses Jahres Mitglied des Rektoratskollegiums war, und ich schrieb dann den Eltern: „[…] er fand, einfach anfangen, in einer der beiden Abteilungen, man kann dann ja noch wechseln. Und mit der Vorbildung, das würden wir übertreiben. Schließlich will die Schule keine Durchschnittsmenschen erziehen – es sollen Menschen mit Überblick sein, die die Dinge ganz erfassen, umgestalten, die Persönlichkeit besitzen, etwas zu leiten, sei es einen Verlag oder eine Fernseh-Sendestelle. Er möchte nicht irgendwelche mittlere Angestellte in die Welt schicken, von denen natürlich all das klein-praktische Wissen verlangt wird.

Aber wie kommt man an solche Stellen, fragten wir uns. Uns lockte eine moderne, stark innovative Informationsabteilung, von der besonders ich mir erhoffte, dass sie sich mit den neuen Medien Film und Fernsehen befassen würde. Fachmännische Bestrebungen in dieser Richtung gingen schon damals von Detten Schleiermacher aus, einem in Theater und Film bewanderten zeitweiligen Mitschüler, sowie von dem oft in Ulm anwesenden Enno Patalas, Mitarbeiter der Zeitschrift Filmkritik und später langjährigem Direktor des Film-Museums in München. Jedoch konnten ihre Bemühungen nicht recht zum Zuge zu kommen.11 Entmutigend war auch die Art des künftigen Leiters der Abteilung Information, Max Bense. Uns missfielen „seine Witze, seine Egozentrik, die die anderen so ignoriert und nicht eingeht auf Argumente, wenn sie ihm nicht passen“. Andererseits meinte ich (von gender problems belastet) auch wieder: „…dass man [in der Informationsabteilung] doch arbeiten kann, ohne ein zweiter Bense zu werden oder Blaustrumpf und ‚verachtete‘ Intellektuelle… Lockend ist eben, dass bei ihm was los ist.“ Und zu diesem Punkt notierte ich am 8. Juni 1956: „Heute drehte sich die Meinung wieder nach langer heftiger Diskussion: Bense, Schleiermacher, Patalas, Ilse und ich bei Kaffee im Zimmer. [Bense] hat was vor, es wird irrsinnig gearbeitet, soll bei ihm nicht so lax sein wie sonst, auf der ganzen Schule. Er finde es jedes Mal grässlich, das nenne sich Hochschule, aber er habe in den anderen Abteilungen ja nichts zu sagen. Und er beschafft uns Stellen später, wie er sie bisher noch jedem seiner Schüler in Stuttgart beschafft habe. Man muss sich nur seinem System fügen.

 

Portrait Koch-Weser
Praktikum im Fotolabor (1956): Selbstportrait Foto: Elke Koch-Weser

Mein erstes Studienjahr endete also mit der vorbehaltslosen Zulassung in die Abteilung Information, aber dennoch dauerte meine Ratlosigkeit an. Eine dreimonatige Bedenkzeit zu Beginn des nächsten Studienjahres wurde mir konzediert; als Voraussetzung für eine eventuelle Zulassung in die Abteilung Visuelle Kommunikation wollte ich ein Praktikum im Fotolabor machen.

Die Sommermonate verbrachte ich in Paris. Bill hatte mir bei der brasilianischen Delegation der UNESCO einen stage vermittelt, wo ich an Sitzungen gewisser Arbeitsgruppen teilnehmen und im Pressebüro etwas mitarbeiten durfte. Benses Assistentin, Elisabeth Walther, war mir beim Anmieten eines Zimmers behilflich. Ich nahm an Sprachkursen bei der Alliance Française teil, besuchte Theater und die herrlichen Museen, lernte über Detten Schleiermacher die Familie Max Ophüls kennen, tanzte abends in Existentialisten Caves und las im Jardin des Tuilleries Prousts À la recherche du temps perdu.

 

2.2 Die Abteilung Information

Bei Rückkehr zur HfG Mitte Oktober 1956 erwartete uns die Tagung des Werkbunds, diesmal organisiert in den Räumen der Hochschule. Neugierig, die HfG kennenzulernen, erschienen die WB-Mitglieder in großer Zahl und hörten sich die Vorträge der Autoritäten an.

Es sprachen Bense („sehr gut, nur eigenartig, dass er ablas, da er nur frei im Auf- und Abgehen sprechen kann, nun aber ans Mikrophon gebunden war“) und Bill. Dann folgte ein „Vortrag vom Leiter des Schweizer WBs und Diskussion, teilweise sehr heftig. Bill zügelte sich zu wenig – der Deutsche WB ging kontra. Manche wollten nur mit Gefühl gestalten – die Studenten pfiffen, berechtigt, aber wohl unklug. Heute stand das Pfeifen schon in der Zeitung.“ Ich erinnere mich sehr gut, es ging um die Frage, ob man zur gestalterischen Ausbildung bestimmte künstlerische bzw. literarische Talente mitbringen müsse oder ob es um Fertigkeiten gehe, die zu erlernen seien. In diesem Sinne trafen hier zwei Fronten aufeinander, was bald das Bauhaus in den Diskurs miteinbezog. Dort wurden zumindest zeitweise Malerambitionen parallel zum Unterricht gepflegt, während diese an der HfG, mit wenigen Ausnahmen, eigentlich nur privatissime umgesetzt wurden. Nun hatte aber der WB einigen Einfluss auf die Stuttgarter Quellen der finanziellen Unterstützung, und so wollte man öffentliche Auseinandersetzungen vermeiden. Auch ein anderer Unterschied zum Bauhaus wurde diskutiert, nämlich die Tatsache, dass in der HfG, im Institut für Produktform, von außen kommende Aufträge bearbeitet wurden. Das sollte einigen Studenten die Möglichkeit bieten, sich unter der Aufsicht eines Dozenten einen Namen zu machen. Es hatte dann aber dazu geführt, dass bei termingebundenen Wettbewerben ineffizient gemanagte Arbeitskoordination und Zeitplanung bei den Studentenmitarbeitern zu Überbeanspruchungen führten, was diese erboste. So wurde bei dieser Gelegenheit auch die Ressourcen einbringende Auftragsmethode in Frage gestellt.

Mein zweites Studienjahr begann ich mit besagtem Praktikum im Fotolabor, das von einem tüchtigen Meister, Wolfgang Siol, geleitet wurde. Bei ihm konnte man das Handwerk und die Tricks des Metiers erlernen, sowohl bei der Arbeit in der Dunkelkammer wie bei der stark Beleuchtungseffekte nutzenden Photographie im Studio (Portraits von Personen oder Werbefotos von Konsumgütern). Ein ganz besonderes Privileg war es aber bereits damals, den bekannten Magnum-Photographen Ernst Scheidegger als Lehrer gehabt zu haben. Wie Werner Bischof und Robert Capa, mit denen er befreundet war, hatte auch er früh schon das Leben in den fernsten, damals noch kaum bereisten Ländern dokumentiert. Er brachte daher ein auf die conditio humana gerichtetes Interesse mit, das zuvor an der HfG, bei der verbreiteten Vorliebe für Strukturen als Sujets, meist zu kurz gekommen war. Meine Foto-Serien vom Zirkus und dessen Kinderpublikum oder von Kaufaspiranten vor lockenden Schaufenstern habe ich aufbewahrt.

Inzwischen war, nicht ohne Planungskonflikte, auch die Abteilung Information eröffnet worden. Es wird berichtet, dass Aicher in einem Lehrplan Otl 1 (um 1950) als Unterrichtsstoff „Marktanalyse, Werbepsychologie, Kalkulation und Werbepolitik“ vorgesehen hatte. Nach Bills Meinung sollte „die abteilung textierung (information)“ sich hingegen „der verbalen selbstdarstellung der schule“ widmen.12 Bense, zumindest zunächst unterstützt von Maldonado, hatte allerdings anspruchsvollere, viel weiter gespannte, theoretisch orientierte Vorstellungen. Und so entstand, wohl als Kompromiss zwischen diesen Positionen, ein artikulierter Studienplan, der mich schließlich davon überzeugte, dass für mein weiteres Studium doch die Wahl der Abteilung Information die richtige sei.

Diese Abteilung lancierte ihre Aktivitäten mit nur fünf Studenten und mit einem unerwartet verlockenden Programm, das der Abteilungsleiter Max Bense, mit Unterstützung der TH Stuttgart, an der er lehrte, eingerichtet hatte. Der anfängliche Stundenplan sah am Montag- und Dienstagvormittag Photographie vor, Montagnachmittag Referate von Studenten aus allen Abteilungen zum Thema ‚Kulturgeschichte des XX Jahrhunderts‘, Dienstagnachmittag Unterricht bei Max Bense (Morphologie und Topologie). An den übrigen Tagen übten wir das Schreiben, zuerst drei Monate lang bei Hans Magnus Enzensberger, der vom Radio-Essay Studio des Süddeutschen Rundfunks kam, und später bei dem Schriftsteller und Literaturkritiker Albrecht Fabri. Bei Enzensberger mussten wir den Schulprospekt neu formulieren. Auch sollten wir ein Hörstück über ein Flugzeug schreiben, das über dem Ozean abstürzt; alle dabei anwendbaren inhaltlichen und stilistischen Möglichkeiten wurden besprochen. Bei Fabri hingegen beschäftigten wir uns mit dem Übersetzen aus dem Französischen, darunter der sehr klugen Maximen von La Rochefoucauld. Mir fiel die Aufgabe zu, eine Kritik der Jünger-Übersetzung der Aphorismen des Comte de Rivarol zu verfassen. An den drei darauf folgenden Tagen war Literaturtheorie vorgesehen bei Käte Hamburger, Soziologie bei Erich Franzen und, wieder bei Bense, Ästhetik und Informationstheorie.

 

Hervorheben möchte ich, dass in der Abteilung von Anfang an zwei verschiedene, parallel geschaltete weltanschauliche Perspektiven vertreten waren. Benses Ansatz war cartesianisch. Er vertrat eine positivistische, den Naturwissenschaften entstammende Zugangsweise und verwies auf die neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften der Informationstheorie und der Kybernetik. Bense interessierte primär der strukturelle Aufbau der materiellen wie der ideellen Wissensgegenstände, und er beschäftigte sich mit streng formalisierbaren, neg/entropisch erfassbaren Relationen. Käte Hamburger und Erich Franzen dagegen bevorzugten eine eindeutig humanistische und historistische Perspektive, bei der von vornherein Nichtbeachtung der lebensweltlichen, also psychologischen, sozialpolitischen wie kulturellen Faktoren unzulässig war. Während wir bei Bense lernten ‚Information‘ zu messen und Texte auf Grund von statistischen Verteilungsfunktionen von Elementen zu analysieren, ging es bei der Germanistin Käte Hamburger um das Orest-Problem (im Fokus die Figuren der Iphigenie und der Elektra) in der Literatur – von Aischylos über Euripides, Goethe, Sartre, Camus, Giraudoux bis O’Neill. Als Quelle von interpretativen Anhaltspunkten nahm sie mit uns die Existenzphilosophie durch. Dabei war auch sie bestrebt, höchst rigorose analytische Methoden anzuwenden.13 Zu Hamburgers Thema passend, sprach der Literaturkritiker und Sozialpsychologe Franzen eingangs über die Entwicklung des Theaters und erklärte uns, welche bedeutenden Schritte in der Entwicklung des Abendlandes die Konzepte von Publikum, Bühnenraum und Vorhang darstellten. Franzens Art sagte mir sogleich zu, und ich war sehr beeindruckt von seiner Person.

Folgendermaßen beschrieb ich ihn: „Ein sehr vornehmer Mann, fabelhaft geschnittenes Gesicht, sehr intellektuell, gute große schlanke Figur, etwas leidend, grau!“ Und ein anderes Mal: „Sehr klug ist er: sehr sympathisch und hypersensibel. Wenn Bill mit seinem dicken Fell in die Studentenvorlesung kommt, mit roter Krawatte auch noch, dann sträuben sich innerlich seine Haare. Es kam dann auch zu einer kleinen sinnlosen Auseinandersetzung.“ Jedenfalls war er anspruchsvoll: Ilse und ich fragten ihn einmal wegen unserer ambivalenten beruflichen Aspirationen um Rat. Wenig ermutigend für uns, meinte er lakonisch, wenn man nicht die ganze Literatur zwischen 16 und 19 Jahren gelesen habe, dann komme man nicht mehr dazu, und es sei hoffnungslos. Für mich wichtig in Franzens Vorlesungen waren zum Beispiel die begriffliche Klärung der Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation, Vorlesungen über Ideologie, öffentliche Meinung und Propaganda sowie Ausführungen zur Soziologie der Literatur; bei ihm musste ich, unter Berücksichtigung von Sartres Essay, ein Referat über Baudelaire und die Soziologie vorbereiten. Angesichts der Gegensätzlichkeit erstaunt mich noch heute die lange simultane Präsenz von Bense und Franzen an der HfG. Franzen war nämlich ein erklärter Pessimist. Als Geisteswissenschaftler, also Nicht-Naturwissenschaftler, sorgte er sich um das Schicksal einer Wissenschaft, die sich seit Descartes der „Vergottung der Vernunft“ überlassen habe. Er befürchtete, dass die Gesellschaft mit dem Drang zur Abstraktion und dem Wunsch, alles zu quantifizieren und zu berechnen, für den frei schaffenden Künstler immer weniger Verwendung haben werde.

Unstimmigkeiten wurden vielfach verschwiegen oder unterschwellig ausgetragen. Mitunter gelangten sie allerdings eklatant an die Oberfläche. Dies war besonders im Vorfrühling 1957 der Fall, als Max Bill, angeblich wegen „unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten“, die Schule verließ. Zweidrittel der Hochschüler, angeführt von den „Billisten“, das heißt besonders denjenigen, die in der Abteilung Produktform bei ihm arbeiteten und/oder aus der Züricher Gegend kamen, protestierten mit einer Resolution gegen den Rücktritt. Ein anderes Grüppchen, die „Latinos“ aus Südamerika, Frankreich, Italien oder der französischen Schweiz, hielt sich eher zurück. Ich selbst meinte, ein seine Entscheidung betreffender Rückzieher Bills sei indiskutabel, angesichts der bereits seit längerer Zeit bestehenden Schwierigkeiten in der Leitung der HfG. Dabei sah ich ein, dass Bills Weggang in mancher Beziehung einen Verlust bedeutete. Ich meinte nämlich, Max Bill sähe die Dinge wohl am klarsten, wenn auch am intolerantesten. Bense, den Bill damals auf Grund geteilter Interessen an konstruktivistischer „konkreter Kunst“ (der eine als Wissenschaftler, der andere als Künstler) berufen hatte, stand zunächst zu Bill; aber die Auseinandersetzung wurde so scharf geführt, dass auch Bense letztlich Abstand nahm.

Das danach die Schule leitende Triumvirat Aicher/Maldonado/Vordemberge-Gildewart schlug nun weitgehend anders orientierte intellektuelle Bahnen ein. Der logisch-philosophische sowie auch der kulturgeschichtliche Unterricht entfiel. Stattdessen gewannen besonders Kurse an Gewicht, die wissenschaftstheoretisch oder operationsanalytisch ausgerichtet waren, sowie auch solche, die die Methoden der empirischen Sozialforschung ins Zentrum rückten. Dies führte im Laufe meines zweiten Studienjahrs in der Abteilung Information zu einem starken Dozentenwechsel. Ich schrieb an meine Eltern: „Leider hat man unserer Abteilung Franzen und Hamburger entzogen, weil sie es nicht ganz so machten, wie Bense es sich vorstellte. Ersetzt werden sie nicht, denn wir müssen ja mehr Zeit zum Schreiben haben, was richtig ist, nur ist uns all das sympathische Bensegegengewicht genommen.

Beide waren nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Emigration zurückgekehrt, und deshalb meine ich, es handelte sich um Persönlichkeiten, die Otl Aichers früheren, humanistisch orientierten Wertvorstellungen und auch seinen Zielbestimmungen, eine neue Generation soziopolitisch auf den Weg zu bringen, entsprachen. Aber dann verließ auch Bense die Schule; seine Assistentin, Elisabeth Walther, blieb noch für eine Weile, um mit uns Begriffsdefinitionen für Lexika zu formulieren.

Drei neue Dozenten wurden an ihrer Stelle berufen. Erstens wurde im Herbst 1957 Fabri durch Gert Kalow, Schriftsteller und Journalist, ersetzt. Ich schrieb nach Hause: „Fabri war mir ja von Anfang an so abgelebt […] vorgekommen, unzufrieden mit sich und seiner Situation, quälte sich um jedes Wort und brachte keinen von uns dazu, frei und spontan mal etwas zu schreiben. Gut, wir lernten bei ihm, kritisch Texte zu betrachten. Kalow hat einen viel realeren approach – er gewöhnt uns die Schreibhemmungen eilig ab. Stellt Aufgaben, gibt nur 1/2 Stunde Zeit, jagt einen, analysiert dann jeden Satz jedes Stückes und gibt das nächste Thema. Etwas nervenaufreibend, aber als Journalist muss man ja schnell schreiben können, zumindest. Er ist eine angenehme Persönlichkeit und gut in der Kritik.

Portrait Hamburger
Käte Hamburger um 1956. Fotos: Hans G. Conrad
Portrait Franzen
Erich Franzen um 1957 Fotos: Hans G. Conrad
Portrait Koch-Weser
Hanno Kesting mit Elke Koch-Weser, im Hintergrund Gui Bonsiepe (um 1959) Foto: unbekannt, Sammlung Elke Koch-Weser Ammassari

Zweitens wurde Franzen durch den Soziologen Hanno Kesting ersetzt. Dieser hatte, bezüglich der Arbeiter des Ruhrgebiets, an einem der ersten deutschen rigorosen empirischen Forschungsprojekten teilgenommen 14 und war daher ein gründlicher Kenner der industriellen Gesellschaft: sie schien in jenen Jahren von den möglichen Konsequenzen der Automation bedroht. Ich hielt Kesting für „ruhig, bestimmt fleißig und exakt, sympathisch. Er wird sicher systematischer vorangehen als Franzen, was notwendig ist, um eine Basis des Wissens anzulegen. Franzen brachte 1000 Details, sehr interessante Illustrationen, Anhaltspunkte, die uns ohne Basis vielleicht aber nicht so dienlich waren.

Drittens wurde Bense ersetzt durch Horst Rittel, der zunächst bei uns Wissenschaftstheorie lehrte. Für mich besonders spannend, „verglich er verschiedene epistemologische Ansätze und zeigte zu welchen Arbeitshypothesen sie jeweils führen und wie diese in Modellen zusammengefügt werden können.“ Sein Ziel war die Entwicklung einer systematischen Theorie des Verhaltens, nach amerikanischem Muster, welche in einem Regelungsschema Akteure und Aktionsfelder, Spielregeln, Entscheidungsprozesse und das Aushandeln von Kompromissen erfassen würde.15 Darauf aufbauend widmete er seinen Unterricht dann auch der Mathematischen Operationsanalyse. Er verwies dabei auf die immer komplexeren Funktionen der modernen Datenverarbeitungsanlagen (von Hollerith-Systemen zu Electronic Data Processing Machines) im Dienste von zweckbestimmten Optimierungsverfahren. Ganz besonders schätzte ich seine sehr effiziente Lehrmethode, das heißt, sein systematisches Vorgehen und sein schrittweises Kontrollieren unseres Lernerfolgs.

Zum Dozentenkollegium stießen dann noch mehr Lehrkräfte hinzu. Darunter war der am Mainzer Rundfunk tätige Redakteur Bernd Rübenach. Er lehrte Geschichte, Recht und Organisationsformen des Rundfunks. Mit uns konstruierte er ein in Information versus Unterhaltung aufgeteiltes, über die sieben Wochentage ausgedehntes Sendeprogramm. Dabei vermittelte er uns die Methodik der aus den USA stammenden Hörerstudien (audience studies).

Rittel an der Tafel
Horst Rittel (1959). Foto: Wolfgang Siol

In Zusammenarbeit mit Kesting und Rittel wurde mit Bezug auf den Mainzer Rundfunk eine interne, auf circa 80 Interviews gestützte Umfrage geplant und vorbereitet, die uns Gelegenheit bieten sollte, die Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung in ihren verschiedenen Phasen anzuwenden. Zu Beginn unseres vierten Studienjahrs im Oktober 1958 engagierte die HfG für die Abteilung Information auch noch jemanden, um Vorlesungen über moderne Literatur zu halten. Es handelte sich um den „Rundfunkstar Joachim Kaiser, angeblich ein Nachwuchsgenie… ein kluger, wohl etwas irritierend eingebildeter junger Mann, maßgeblich beim Abendstudio des Frankfurter Rundfunks“. Als wir nämlich unser unter der Leitung von Kalow und Kesting geschriebenes Hörspiel „Der Koffer“ an verschiedene Rundfunkanstalten geschickt hatten, hatte er sich sehr positiv geäußert und hatte uns eine eingehende Kritik und eine Liste der von uns zu korrigierenden Unstimmigkeiten geschickt, sodass das Manuskript bald abgeliefert werden konnte. Und zuletzt unterrichtete uns im letzten Studienjahr auch noch Lucius Burckhardt, Soziologe, Nationalökonom und Kunsthistoriker, Nachfahre des großen Jakob Burckhardt. Er hielt einen Kurs über „Architektur im XX Jahrhundert“ und einen anderen über die „Entwicklung der Perspektive“, beginnend mit Giottos Cappella della Arena.16

Viele unter uns Studenten bemühten sich – besonders diejenigen, die noch über keine Berufserfahrung verfügten – ihre Ausbildung neben dem Unterricht zu bereichern, indem sie Einblick in die Arbeitswelt zu gewinnen suchten. Es galt, neue Kenntnisse zu gewinnen, Fremdsprachen zu lernen und manchmal auch etwas Geld zu verdienen. Wer die Abteilung Information besuchte, musste selbstverständlich besonders an der Welt des Rundfunks und des Fernsehens interessiert sein. So vermittelten im Frühling 1957 Max Bense und Hans Magnus Enzensberger meiner Freundin Ilse und mir ein mehrwöchiges Praktikum beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. In der renommierten Abteilung Radio-Essay lernten wir Volontärinnen Alfred Andersch und Helmut Heißenbüttel kennen, beide Mitglieder der Gruppe 47, und wurden sehr freundlich mit organisatorischen und technischen Informationen sowie mit kurzen schriftlichen Textaufträgen versorgt. Auch stöberten wir im Archiv, um Beispiele von schon gesendeten Texten zu vergleichen und zu studieren. Hingegen waren wir beim Fernsehen in der Aktuellen Abteilung untergebracht, durften kurze Filme betexten oder für die Abendschau ein Interview im Staatsarchiv machen; zudem konnten wir Vorbereitungen von Sendungen beobachten. Sicherlich hat diese Erfahrung mir dazu verholfen, ein weniger überzogenes, also realistischeres Bild von den beruflichen Tätigkeiten beim Fernsehen zu gewinnen. Im Sommer desselben Jahrs war ich nochmal in London, dankbar für die erneut besonders wichtige großstädtische Horizonterweiterung nach dem Studienjahr im entrückten Ulmer Elfenbeinturm. Ich arbeitete wieder bei dem Graphiker Herbert Spencer, dieses Mal aber nicht im Verlag, sondern gegen eine kleine Bezahlung in seinem sehr anerkannten privaten typographischen Studio.

Um den Einblick in die Medienszene mit Erfahrungen auch bei einer Zeitung zu ergänzen, machte ich im Juni 1958 obendrein noch ein Praktikum beim Hamburger Abendblatt, verfasste dort Texte für die Lokalchronik, Filmbesprechungen und beobachtete, wie eine Zeitung formal und inhaltlich gemacht wird. Parallel zur Bild-Zeitung des gleichen Verlages konnte man bei diesem Blatt die profitbezogenen Umsatzstrategien der modernen Massenkommunikationsmittel gut kennenlernen.

Entsprechend der Diplom-Ordnung mussten bald die notwendigen ersten Schritte im Hinblick auf die Abschlussprüfungen unternommen werden. Da es sich ja um die erste Kohorte von Informanden handelte, mussten manche wichtige Entscheidungen getroffen werden, die Aicher, Kaiser, Kesting und Maldonado im Dezember 1958 eingehend mit uns besprachen. Laut meines brieflichen Protokolls für die Eltern erklärten sie uns erstens, dass das Diplom der HfG dem Doktortitel natürlich nicht entspreche und dass in unserer zukünftigen Berufswelt auf Grund von erbrachten Leistungen entschieden werde. Zweitens meinten sie, unsere Ausbildung sei davon beeinträchtigt gewesen, dass im (mittlerweile abgeschafften) Grundkurs der Unterrichtsstoff sehr „allgemein“ gewesen sei und im darauffolgenden Studienjahr die „Bewegung“ wirklich produktives theoretisches wie praktisches Arbeiten erschwert habe. Streng genommen hätten wir in der Informationsabteilung bisher nur ein volles Studienjahr vorzuweisen. Deshalb erschienen ein verlängerter Vorlesungsbesuch sowie weitere praktische Schulung notwendig. Entweder sei ein zusätzliches fünftes Studienjahr zu beantragen oder wir könnten die Vorbereitung der Diplomarbeit zugunsten der weiteren Beteiligung am Unterricht einstweilen zurückzustellen. Wir drei Kandidaten, Gui Bonsiepe, Ilse Grubrich und ich, optierten für die zweite Lösung. Wir akzeptierten Maldonados Vorschlag und stellten beim Rektoratskollegium einen Antrag auf Dispens vom eigentlich vorgesehenen praktischen Teil der Diplomarbeit.

Dass die Kommission dem Antrag entsprach, hing, nach meiner Meinung, mit einem bestimmten Vorfall zusammen: im Sommer 1958 hatte die Gesellschaft der Freunde eine große Ausstellung über den Werdegang der HfG eröffnet, die reichlich Kritik eintrug. Für die Textierung dieser Ausstellung war die Abteilung Information zuständig gewesen. Laut meinem damaligen Brief-Bericht hatte die Gesellschaft gemeint, die Ausstellung „sei ja fabelhaft konsequent in der Terminologie und in den so systematischen und analytischen Arbeitsmethoden, nur sei sie ‚unverständlich‘ für den Durchschnittsbesucher. So wird sie wohl nur in den Hallen der Hochschule (+vorgestern im TV) präsentiert werden und nicht wandern.

Eine aufwendige, radikale Revision ist dann unternommen worden, aber selbstverständlich ließ sich das Ergebnis nicht mehr in die Diplomprüfung einbeziehen. Dies galt ebenso für die Ergebnisse der empirischen Untersuchung am Mainzer Rundfunk, denn man glaubte, für deren Durchführung nun keine Zeit mehr zur Verfügung zu haben. Mir persönlich tat dies besonders leid, denn ich wollte die Datenanalyse und deren Ergebnisse in eine Diplomarbeit über den Rundfunk in Westdeutschland integrieren. Ich musste also meine Pläne für den empirischen Teil dieser Arbeit abändern. So wählte ich dann als Ziel eine vergleichende Studie der Organisation der Rundfunkanstalten und eine Analyse der Inhalte der Nachrichtensendungen der neun deutschen Rundfunkanstalten zu drei politischen Schlüsselereignissen (zur Ungarn- und zur Algerienkrise sowie zum Sieg der CDU bei den Bundestagswahlen). Der von mir eingereichte provisorische Titel hieß: „Nachrichtenübermittlung im Rundfunk in Westdeutschland“, und der für die Diplomarbeit verantwortliche Dozent sollte Horst Rittel sein.

So wurde unser letztes Semester in der Abteilung Information tatsächlich das anstrengendste, denn es galt Vorlesungsbesuch, Referate und die Produktion publizierbarer Texte zu verbinden mit der Präzisierung des Diplomprojekts und der Materialsammlung. Und schließlich musste auch noch die uns als akademisch vorbildlich und streng angekündigte mündliche Abschlussprüfung vorbereitet werden. Ilse und ich hatten den Vorteil, dass wir viele Mappen voller sorgfältig eingetippter Vorlesungsnotizen besaßen. Das half uns sehr beim Lernen und gegenseitigem Abfragen.

Doch es mussten nun auch vorbereitende Entscheidungen getroffen werden in Bezug auf das, was nach dem bevorstehenden Abschluss des 4. Studienjahres geschehen sollte. Kalow wünschte Ilse und mir einen baldigen Berufsbeginn. Er riet uns, für ein Jahr als Auslandskorrespondentinnen nach Amerika zu gehen oder sonst in ein etwas ausgefallenes Land – für mich sei Brasilien gut, da könne ich ja die Sprache und wäre in der Lage, viele Themen zu bearbeiten. Er schlug vor: „Briefblock mit Kopf herstellen, alle möglichen Themen ausarbeiten (Features für Rundfunk, Artikel für Feuilleton oder Sonderseite, Reportagen für Illustrierte anfertigen) und rumschicken mit Verweis auf prominente ehemalige Dozenten. Wir zählten gleich eine Reihe von Themen auf, die geeignet wären und zu denen viel zu wenig Vernünftiges angeboten wird. Lustige Idee. Vielleicht zu zweit. Aufteilung der Themenkreise. Als Auslandserfahrener steigen die Chancen hier rapide, laut Kalow, und Lehrjungenzeit wäre so zu vermeiden.

Unterdes hatte ich mich schon um ein einjähriges Fulbright Stipendium beworben, um zunächst in den Vereinigten Staaten das Ulmer Studium etwas zu vertiefen.

Im Juni 1959 fand dann unsere mündliche Prüfung, als erstes Kolloquium der Abteilung Information, statt. Nur drei Prüflinge präsentierten sich: Gui Bonsiepe (dessen Rückblick auch in diesem Band enthalten ist), Ilse Grubrich und ich. Gert Kalow prüfte Praktisches Schreiben, Hanno Kesting Soziologie, Tomás Maldonado Semiotik, Joachim Kaiser Geschichte der Literatur, Horst Rittel Informationstheorie, Mathematische Operationsanalyse und Wissenschaftstheorie. Gesamtzeit 40 min. Zehn davon konnte man für ein einleitendes Kurzreferat verwenden. Ich wählte ein Teilgebiet der Diplomarbeit: „Die Aufsichtsorgane des Rundfunks seit 1945“ und versuchte zu zeigen, wie dieses Thema einerseits mit staatstheoretischen und andererseits mit operationsanalytischen Instrumenten anzugehen sei. Offenbar war das gesamte Kollegium sehr positiv beeindruckt von den Ergebnissen unserer Prüfungen und es wurde besonders die Originalität und Selbständigkeit gelobt. Jedenfalls vermerkte ich, dass wir Studenten der Informationsabteilung, zusammen mit einem holländischen Produktformer, die Spitze der Rangordnung aller in jenem Jahr angetretenen Abschlussprüflinge der HfG erreicht hatten.

Der Erfolg beflügelte natürlich die zukunftsbezogenen Aspirationen. Als wenig später von der amerikanischen Botschaft die Zusage für das Fulbright Stipendium kam, interessierte mich kaum noch die zuvor mit Ilse im Gespräch mit dem Werbedirektor der Firma BRAUN besprochene Idee, dort vielleicht als freie Mitarbeiter ein Projekt zu entwickeln.17

Nun ging es um die Vorbereitung auf die Vereinigten Staaten. Die Neugier war groß, auch wenn meine Erwartungen keineswegs ausschließlich positiv waren. Im Gegenteil, Joe McCarthys den Kalten Krieg stärkende Maßnahmen ließen mich manchmal befürchteten, drüben „das Negative nur bestätigt zu finden“. Aber ich blieb bei meiner Idee, das Studium dort fortführen zu wollen, und begann mich mit relevanter Lektüre gut auf die Neue Welt vorzubereiten.18

 

Elke Koch-Weser im Faschingskostüm auf dem berühmten Ulmer Hocker. Foto: Ilse Grubrich

3. Was geschah und was beschäftigte uns, und mich speziell, außerhalb der Studienzeit?

Manche unter uns Studenten fühlten sich auf dem Ulmer Kuhberg von Anfang an sehr eingeengt und versuchten, sofern vereinbar mit dem Studium, so oft wie möglich am Wochenende in eine andere Stadt auszuweichen. Gute Freunde meiner Familie lebten in München, und daher nützte ich sehr oft die Möglichkeit aus, sie zu besuchen, um am dortigen Kulturbetrieb teilzunehmen.

Eine allgemeine Beteiligung an besonderen kulturellen Veranstaltungen in München wurde mitunter auch von den Dozenten empfohlen. Bald nach meinem Studienbeginn gab es dort einen denkwürdigen Anlass: gleichzeitig wurden eine Große Picasso-Ausstellung (sogar Guernica und die Frauen aus Algier wurden gezeigt) und die berühmte Photo-Ausstellung, „The Family of Man“ gezeigt. Für ein Bill-Seminar sollten beide besucht werden, um später die Frage zu beantworten: „Welche Ausstellung wirkte auf Sie stärker und weshalb – unter Beachtung der Ausstellungsmethode?“ Ich fuhr mit einem auch aus Brasilien stammenden Studenten, der ein Auto besaß, dorthin. Nach Rückkehr machten wir noch schnell einen Besuch bei Tomás Maldonado: „…unserem großen, dunklen, stillen, buddha-ähnlichen argentinischen Grundkursleiter. Er war gerade neu in die Lehrer-Wohnung, das graue Mondbewohner-Kästchen, eingezogen. Unterhalten wurde sich – sie sind so südländisch gastfreundlich. Nette Idee, sicher Einzugsgeschenk: ein großer halbkugelförmiger Strohfutterkorb voller buntem Obst, Gemüse, Eiern auf dem Boden zum rumreichen. Frau M. war ein bekanntes Mannequin als Gräfin Schweinitz, ist hübsch, blond und recht jung noch – immer sehr elegant, nicht zu extravagant dabei – in Kuhbergvioletts.

Diese Stelle in einem Brief vom November 1955 zeigt schon recht gut erstens den informellen, aber ästhetisch immer bedachten Stil, der in Ulm gepflegt wurde, und zweitens dass es dort auch eine gewisse „latino“-Lebensart gab, die bei einigen Studenten einen besonderen in-group Zusammenhalt bewirkte.

Bald darauf konnte man in München, in der Originalinszenierung, Gershwins Porgy and Bess sehen, und Detten Schleiermacher gelang es, einigen von uns über die Presse Karten zu beschaffen. Ein anderes Mal fuhren ein paar Informationsstudenten wieder nach München, um einen Vortrag des Italieners Adriano Olivetti zu hören, bekannt als sehr weitsichtiger sozialreformerischer Industrieller, der früh die Bedeutsamkeit des guten Designs erkannt hatte.

Kleinere und größere Feste wurden an der HfG mit einer gewissen Regelmäßigkeit organisiert. Dafür gab es verschiedene Gründe. Erstens sollten sie, in Anbetracht der isolierten Lage der Hochschule, die Studenten aus dem Wohnturm locken und sie mit den auf dem Kuhberg wohnenden Dozenten bei Musik und Wein zusammenbringen. Zweitens boten sie Gelegenheit, kompetitiv Ideen zur Festgestaltung zu entwickeln und gemeinsam praktisch umzusetzen. Und drittens bestand die Absicht, Erlös zu erzielen, um kleine Anschaffungen machen zu können, die allen zugutekamen.

Eine der ersten Festlichkeiten, an denen ich teilnahm, wurde von unserem Grundkurs gestaltet, mit dem Hinweis „wenig Geld“. Bei der Dekoration beschränkte man sich darauf, in der Mensa Drähte zu spannen und darüber Zeitungen zu hängen, um die hohe Decke etwas herunterzuholen. Die Vorschrift hieß: Mädchen mit Hüten – Männer mit Bärten. So wurden als Anfertigungsmaterialien vielfach Eisen- und Holzhobelspäne, Filz-und Papierstreifen sowie bemaltes Pferdehaar benutzt. Das Musikensemble war fast ganz aus Studenten zusammengesetzt: Gitarre, Saxophon, dazu Klavier oder Bass. Ordentliches Schlagzeug kam etwas später dazu. Gugelot sang à la Duke Ellington. In meinem Eltern-Brief der Vermerk: „Sie können fabelhaft improvisieren, toll! Ich half an der Bar, die nun ja geschwungen in der Mensa entstanden ist.

Besondern gern mag ich jedoch die Faschingsfeste in Erinnerung rufen, die jährlich, am Samstag wie am Dienstag, auf dem Kuhberg gefeiert wurden. Viermal habe ich diese doppelten Feste miterlebt und beobachten können, wie das Ausmaß wuchs und wie schließlich Gäste aus einem sehr großen süddeutschen Umkreis daran teilnehmen wollten. Die Entwicklung der Grundidee sowie die Organisation, Einladungen, Dekoration und Bedienung verlangten viel Vorbereitung und erforderten einen großen Arbeitseinsatz. Ich sah hier im Januar 1956 ein „schweres Problem“ denn: „…die Lust, Begeisterung, Initiative fehlt allgemein. Wenige, immer dieselben, organisieren; undankbar sehen es die anderen, Kritik findet man, aber keine Vorschläge. So viele tun so, als sei es Arbeit, kein Vergnügen… Problem, die wenigen Mädchen. Wenn da die eine oder andere absagt, ich habe heute keine Lust, so betrifft das gleich viele, viele Jungs. Vielleicht ist dies überhaupt daran schuld, dass hier fast alle aneinander vorbei leben. Auch die vielen parties der Anfangszeit hörten auf, alles ist müder geworden und wirklich, man hat ja immer genug, freut sich auf Ruhe und Zurückgezogenheit außerhalb der Schulstunden.

Das Thema der zwei Feste jenes Jahres war „diesmal ohne“. Besondere Attraktion war, in einem kleinen Raum auf dem Weg zum Wohnturm, die Opium Bar: „düster, mit ultraviolettem Licht. Mosquitonetz-Streifen (von den Amis) hingen gespenstisch von der Decke und leuchteten in roter und grüner Leuchtfarbe unheimlich. Eingang, ein roter Autoreifen, mit Schnüren wie Spinnweben aufgehängt. Wurde später zerstört damit drinnen nicht alles zu abgeschlossen, unbeobachtet sei. Die Lehrer bedienten, die Studenten sollten sich bloß amüsieren.“ Der Reinertrag lag zwischen 1000 und 1500 DM. Ich selbst hatte ein Medusa Kostüm (diesmal ohne versteinernden Blick), in dem mich kaum jemand erkannte.

Ein Jahr später, 1957, wurde „ungenau durch blau“ als Faschingsthema gewählt. 5000 Luftballons hingen überall bunt angestrahlt von der Decke runter. Ich hielt die einheitliche Dekorationsstruktur für gelungen. Allerdings fragte man sich, ob sie genug Stimmung verursacht habe, denn die Strenge hatte bestimmt abgefärbt auf das allgemeine Benehmen. Zwei Bars waren da und zwei Kapellen. Aber es kamen nur 400 Gäste, wobei wir doch mit 600 gerechnet hatten. Am nächsten Tag fuhren wir dann zu viert, im Auto eines amerikanischen Mitstudenten, zum ausklingenden Münchener Fasching. Sehr begeistert waren wir nicht von den kommerziellen Veranstaltungen in der von den Umzugsresten verunschönten Stadt, aber ich fand den Ausflug doch „erholend nach dem ewigen spießigen Ulm.

Der Fasching 1958 wurde dann in großem Stil, mit einem wohldurchdachten „Propagandafeldzug“ eingeleitet. Ein Plakat mit dem zentralen Motiv „Q-Berg“ wurde weithin angeschlagen und wenige Tage vor der Feier wurde eine plakatbeklebte Kuh von zwei snobbisch-eleganten Studenten durch die Stadt Ulm geführt. Die Dekoration der Mensa und der anderen Räume bestand aus tausenden, von der Decke hängenden Eierpappuntersätzen. Diesmal gab es vier Bars und vier Musikbands (aus Stuttgart, der Schweiz, aus Ulm und von der HfG). Eintritt 9 und 6 DM. An den zwei Abenden, 1000 Besucher. „Ilse und ich wollen wieder nicht komisch, flitterig oder halb nackt wie viele sein – sondern elegant. Wir machen ganz gleiche, verwechselbare Kostüme. Schwarzen, nur wenig ausgeschnittenen Sack, sehr eng à la Italy… Hohe schwarze Schuhe, Kopfputz: schlichter Hut schwarz, voller billiger Glitzerperlen, mit Pailletten benäht, Kettenenden ins Gesicht hängen lassend. Sehr farbig und hinter dem Vorhang unkenntlich… Der Kopfputz muss der Pfiff werden.

Nach meiner Einschätzung sind unsere Kostüme dann „die schönsten, bestimmt die erfolgreichsten“ gewesen. Der Ertrag der Feste sollte für die Studenten einen party-Aufenthaltsraum plus Bar außerhalb des Wohnturms finanzieren.

Und schließlich meine letzten zwei Faschingsfeste im Jahre 1959. Es kamen sogar über 1000 Besucher und so schrieb ich: „Details der Feste waren nett. Im Ganzen waren sie sehr Massen-Amüsement zwecks Geldverdienst, da ja die Rote Höhle nun endgültig herausspringen soll. Ilses und mein Kostüm waren beide Male wieder gleich, wie sich das für ‚Information-Sisters‘ geziemt. Beim ersten Mal Ilses rosa und meines hellblau: empire-unterrockartiges Kleid mit dickem Volant, schwarzen Strümpfen und weißem Tüll-Topfhut mit Papierrosenkranz in verschiedenen Rosa- bzw. Blautönen… Beim zweiten Mal wurde das schwarze Sackkleid vom letzten Fasching etwas modifiziert und hinzukam ein sehr strenger, schwarzer, flacher zylindrischer Hut mit weißen Kunstblumengeweihen drauf, was uns die Metapher eines jungen deutschen Genies ‚Hirsche im Schnee‘ eintrug.

Bald zeigte es sich, dass der Erfolg unserer Faschingsauftritte ein objektiver war, und zwar wurden Ilse und ich zweimal vom Modehaus Walz, dem teuersten und mondänsten Geschäft in Ulm, eingeladen, als Mannequins im großen Jahn-Saal aufzutreten. Wir verhandelten geschickt die uns dienliche Bezahlung und führten dann hochelegante Modellkleider, modernste Sackkleider, Tailleurs und Mäntel vor. „Jeder hatte ein Umkleidemädchen; sehr gut geschminkt, etwas schwarz, etwas blau, etwas rot – wir sahen wirklich kaum wiederzuerkennen aus, wirklich sehr mondän. In der Kritik stand dann auch: ‚ein Hauch aus der Großen Welt‘.“ Bald darauf wurden wir erneut vom Modehaus eingeladen. Dieses Mal fand die Show im Stadion statt, anlässlich des Reit- und Fahrturniers. In Luxusautos wurden wir reingefahren, mussten die Roben über ungeheuerliche Distanzen präsentieren und fuhren wieder raus. Aber die Sache war schlecht organisiert, der Wind lüpfte in der Arena meinen großen schwarzen Hut, ein paar Berufsmannequins warfen uns taxierende Blicke zu: „Wir waren so böse, dass wir uns schworen, es nie wieder zu tun, obwohl eine teure Riesenshow zur Einweihung eines neuen Geschäftes blüht.“ Wir hatten genug!

Zweifellos zeigt die Chronik, dass wir Ulmer Hochschüler nicht nur studierten, sondern dass wir auch lernten, unsere gemeinsame Freizeit zu gestalten. Und dies geschah in regem Austausch mit den Dozenten und unter Einbeziehung eines weitgespannten, sympathisierenden Freundeskreises.

 

4. Welchen Niederschlag fand das an der HfG Gelernte auf meinem weiteren Studienweg?

Die auf viele Unterlagen gestützte, hier zusammengefasste Rekonstruktion meiner Studienzeit in Ulm hat gezeigt, dass sich in den Anfangsjahren beim Unterricht in der Abteilung Information zwei ganz verschiedene Perspektiven gegenüberstanden. Auf der einen Seite gab es den humanistischen, historistischen und sozialpolitisch engagierten Ansatz (repräsentiert durch Hamburger, Franzen und Burckhardt) und auf der anderen Seite einen den Naturwissenschaften verpflichteten, formalisierenden und quantifizierenden Ansatz (vertreten vor allem durch Bense und Rittel). Zwischen diesen Positionen (die C. p. Snow 1959 als „The Two Cultures“ charakterisierte) gewannen, in verschiedener Hinsicht, sowohl Maldonado mit der Semiotik wie Kesting mit der Empirischen Sozialtheorie an Gewicht. Der eine verwies insbesondere auf Charles Morris‘ Syntaktik, Semantik und Pragmatik, der andere auf Lazarsfelds Methodologien der Sozialforschung wie auch bereits auf Parsons‘ Strukturfunktionalismus. Zweifellos unterbreiteten alle unsere Dozenten, ein jeder im eigenen Fachbereich, uns Informanden originelle Ideen und neueste Theorien. Letztere wurden aber vielfach wenig akademisch, also oft unsystematisch und insbesondere ohne die notwendige Beachtung der Propädeutik vorgetragen. Das erschwerte den Lernprozess und behinderte oft die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis. Hinzukommt, dass die theoretischen Diskurse meist eingleisig angeboten wurden. Das heißt, es mangelte an interdisziplinären Vernetzungen und an gemeinsamer kritischer Diskussion. Ich denke, es war wohl keinem der Beteiligten wirklich klar, auf welche Weise der vermittelte Wissensstoff im Ganzen uns Lernenden auf einem späteren Berufsweg in der sich rapide transformierenden Medienwelt nützlich sein sollte.

Oder hatten wir diesbezüglich beunruhigten Studenten nur die falsche Frage gestellt? Jedenfalls berichtete ich nach Hause: „Letzt hatten Gui [Bonsiepe], Ilse und ich Franzen abends eingeladen. Er ist derjenige, der an all der Abstraktion, Formalisierung in Handlung und Darstellung mittels Vernunft immer kritisiert, dass das Menschliche, die Erfahrung, zu wenig berücksichtigt werden. Damit trifft er, nach meiner Meinung, den empfindlichen, unerkannten Punkt der Hochschule. Er sagt, lest viel. Unis können Euch inhaltlich kaum das bieten, was Bücher geben. Nur methodisch Arbeiten, Denken, das habe er von Professoren gelernt. Dann meint er, dass man Journalismus nur an einer Zeitung lernen könne, oder nur arbeitend am Rundfunk zu etwas käme. Informationstheorie etc. nütze uns dabei gar nichts…. Und bei Bense gearbeitet zu haben, meint er, sei nicht unbedingt (an fast allen Zeitungen) ein gutes Prädikat.

Aber was verstand er unter dem Terminus „methodisch Arbeiten“? Sein Gedankengang implizierte vermutlich einen kategorischen Begriff von rigoroser Erkenntniserlangung. Jedoch mir ging es vorrangig um die Suche nach einer kritischen Zusammenfügung der verschiedenen Wissensinhalte und um die Möglichkeit einer sinnvoll erscheinenden beruflichen Umsetzung. Auf solche Herausforderung hat das Ulmer Studium mir jedenfalls keine schlüssige Antwort gegeben.

Im September 1959 begann ich dann mein Studium als Fulbright Stipendiatin im Department of Communication der Michigan State University (MSU). Ein komplettes M.A. und Ph.D. Programm in Communication gab es damals in den USA erst an sehr wenigen Universitäten. Und das mich Verlockende an dieser war, dass dort ein stark internationales, auf Entwicklungsphänomene in der „Dritten Welt“ ausgerichtetes Interesse vorherrschte, dass es dort viele ausländische Studenten gab; und dass im Communication Research Center viel Forschung betrieben wurde, an der man als Graduate Assistant mitarbeitete und auch dafür bezahlt wurde. Vielfach handelte es sich um von externen Auftraggebern initiierte Forschungsprojekte, die wichtige politische, soziale oder kulturelle Themen zum Gegenstand hatten und im Entscheidungsprozess Steuerungshilfen liefern sollten. Das erste Projekt, an dem ich teilnahm, war eine große periodisch durchgeführte readership Studie im Auftrag der viele Zeitungen und Wochenzeitschriften produzierenden Hearst Corporation. Es ging darum, das Verhalten, die Interessen und Einstellungen der Leser herauszufinden, um dementsprechend Werbungsaufträge anzulocken und lukrative Umsatzstrategien zu ermitteln. In Ulm hatte Bense uns von digitalen Codes und hatten Rittel und Kesting von Hollerith Karten gesprochen. Aber hier hatten wir es nun mit enorm großen Mengen von Daten zu tun, welche die in Ulm fast gänzlich ignorierten Eigenschaften und Erwartungen der Empfänger von Informationen betrafen. Für die Analyse dieser Daten stand uns MISTIC zur Verfügung, eine der größten amerikanischen Rechenanlagen jener Zeit.19 Unseren Anweisung entsprechend produzierten Informatiker ad hoc Programme und stöpselten jeweils an dem ein großes Zimmer füllenden Computer unzählige bunte spaghettiartige Kabel zusammen. Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, verwöhnt wie wir sind durch das Vorhandensein von fertiger software aller Art und enorm leistungsfähigen microchips.

Bei einem anderen Projekt, an dem ich mitgearbeitet habe, ging es um eine Umfrage (zur Zeit des Kalten Krieges) betreffs Bereitschaft, im Notfall, zur Nutzung von atomic fallout shelters im Bereich des Campus. Das Ziel war Typologien von Personen zu ermitteln, aufgrund ihrer unterschiedlichen Meinungen, Erwartungen und kooperativen versus antagonistischen Intentionen wie auch ihrer sozio-demographischen Charakteristika (Geschlecht, Alter, Bildungsniveau, Beruf, sozialer Status, Milieu, etc.). Ein wieder anderes Forschungsprojekt betraf die empirische Analyse der Funktionalität des bussing-service in den Südstaaten der USA, wo damals noch die Rassendiskriminierung herrschte. Man hatte diesen Umverteilungsdienst von Schülern eingeführt zwecks Integration der bis dahin ausschließlich entweder „weißen“ oder „schwarzen“ Schulen. Hier ging es um nicht gewährleistetes Menschenrecht, und ich sah mich mit kontrastierenden ideologischen Orientierungen und der eklatanten Manifestation massiver sozialer Konflikte konfrontiert.

Forschungsaufgaben solcher Art faszinierten mich ungeheuerlich – offensichtlich ganz auf der Linie von Otl Aichers und Inge Aicher-Scholls anfänglich erwähnten ursprünglichen, sozialverpflichteten Ulmer Bestrebungen. Aber um solche Themen künftig gründlich zu bearbeiten – gleich ob als forschender Wissenschaftler oder als investigativer Journalist –, musste ich mir erst noch systematisch die nötigen Grundlagen beschaffen.20

Erstens, um die zunehmend vielseitigen Möglichkeiten der Datenanalyse zu nutzen und die empirische Evidenz einer korrekten Interpretation zuzuführen (unter Berücksichtigung von rigorosen Gültigkeits- und Verlässlichkeitskriterien), musste ich zuallererst die nötigen statistischen Kenntnisse erwerben.

Zweitens, ich wusste viel im Sinn von Shannon und Weaver über die Transmission von syntaktisch konzipierter Information (Bense), über Wieners und Ashbys kybernetische Regelungs- und Kontrollvorgänge (Rittel) und über Zeichen-Dimensionen bei Peirce, Morris sowie Ogden und Richards (Maldonado). Gewiss erhob ein jeder dieser Ansätze berechtigten Anspruch auf eine gewisse Verallgemeinerungsfähigkeit von der technischen zur humanen Welt. Aber erst David Berlo hat mir mit seinen sehr anregenden Vorlesungen und dem erfolgreichen Buch The Process of Communication. An Introduction to Theory and Practice 21 interpersonelle bzw. Massenkommunikation als spezifisch zu betrachtende, höchst komplexe Phänomene ausgewiesen. Seinem Modell zufolge mussten sowohl in der „kleinen Gruppe“ wie bei medialen Nachrichtenübermittlungen unterschiedliche Kompetenzen und Einstellungen, Erwartungen und Wissensvoraussetzungen auf der Sende- wie ebenso auf der Empfängerseite studiert werden. Sozialsystemische und kulturelle Variablen müsse man dabei in die Theorien einbeziehen. Das damals in Amerika vorherrschende, positivistisch-behavioristische Stimulus-Response-Paradigma genüge keineswegs, vielmehr seien auch Bedeutungen und Zwecke von Botschaften mit sozialpsychologischen Konzepten zu erfassen.

Drittens, meine methodologischen Kenntnisse hinsichtlich des konventionellen Aufbaus (in englischer Terminologie, des designs) eines wissenschaftlichen Forschungsprojekts waren ungenügend. In diesem Zusammenhang interessierte mich besonders ein Vorlesungszyklus von Richard Rudner mit dem Thema: Philosophy of Social Science.22 Hier handelte es sich um Deduktion und Induktion, um die Definition von Konzepten und ihrer Operationalisierung, um die Formulierung von Hypothesen mit ihrer empirischen Rechtfertigung; um Beschreibung-Erklärung-Vorhersage in der wissenschaftlichen Forschung und um die besondere logische Struktur der kausalen Beweisführung. Als wichtige Autoren wurden hierbei präsentiert: Max Weber zum Problem der Objektivität in den Sozialwissenschaften, Hempel und Oppenheim zu den Besonderheiten historischer Forschung, Tarski zum semantischen Konzept der Wahrheit und Hempel zur Logik der Funktionsanalyse. Außerdem beschäftigte ich mich intensiv mit Sozialstratifikation, interkultureller Kommunikation, Kulturanthropologie wie auch mit Sprachstudien (besonders mit dem kindlichen Erlernen von Sprache – Noam Chomsky studierten wir schon damals –, mit Zweisprachigkeit und mit der Sapir-Whorf Hypothese, die mir bereits aus Ulm bekannt war).

Auf der Basis solchen Studiums wählte ich dann bei meiner Arbeit zur Erlangung des M.A. (Master) im Jahre 1961 zwei verschiedene Zielsetzungen. Zum einen ging es, im Sinne des symbolischen Interaktionismus George Herbert Meads, um das Phänomen der Rollen-Identifikation am Beispiel von Zeitschriftenlesern und den in Werbeannoncen gezeigten Photographien von männlichen und weiblichen Modellen. Zum anderen galt es bei der Datenerhebung eine von William Stephenson entwickelte statistische Q-Methode anzuwenden, die in einer Matrix nicht auf die faktoranalytische Reduktion der Variablen abzielt, sondern auf die typologische Klassifizierung einer stratifizierten Stichprobe von Personen. Das Thema der Segmentierung der Leserschaft hatte, wie gesagt, an der HfG (hier mit Bezug auf die Verschiedenheit der Nutzer oder Konsumenten eines gestalteten, materiellen wie immateriellen Produkts) viel zu wenig Beachtung gefunden.

Im folgenden Jahre beendete ich auch meine Ulmer Diplomarbeit und reichte sie bei der Hochschule für Gestaltung unter dem Titel ein: Die Organisationsformen der Westdeutschen Rundfunkanstalten als Modelle einer allgemeinen staatstheoretischen Diagnose und ihre Betrachtung unter Anwendung einiger organisationsanalytischer Methoden. Die von mir untersuchte Frage war, in wie weit die juridische Form der „Anstalt öffentlichen Rechts“, in deren Aufsichtsgremien sich Interessen, satzungsgemäß ausgewählt, konfrontieren, in der Lage sei, ein pouvoir neutre zu sichern. In anderen Worten, ob geregelte Repräsentations- und Kommunikationsprozesse dieser Art – im Gegensatz zu den in amerikanischen kommerziellen Einrichtungen vorherrschenden – eher eine „objektive Berichterstattung“ garantieren können. Bei der Vorbereitung der Arbeit waren mir ganz besonders wichtig der in Ulm von Horst Rittel vermittelte methodologische Ansatz und die in Hanno Kestings Hegel-Seminar gewonnenen geschichtsphilosophischen Erkenntnisse sowie ein in den USA durchgeführter, supervidierter reading-course zum Thema Propaganda zur Zeit des Nationalsozialismus.

Im Laufe meines Aufenthalts in Michigan lernte ich unter den gleichzeitig anwesenden Fulbright Graduate Assistants den Italiener Paolo Ammassari, meinen späteren Ehemann, kennen, Politikwissenschaftler an der Universität Florenz. Er war in die USA gekommen um, neben der Mitarbeit an einer vergleichenden Studie über die Situation der Automobilarbeiter in Detroit und Turin, zusätzlich den Ph.D. in Soziologie und Anthropologie zu erwerben. Nach unserer Heirat setzte ich zunächst Studium, Lehrassistenz und Forschungsarbeit an derselben Universität fort. Mein Ziel war nun gleichfalls der Ph.D., und so besuchte ich weitere Vorlesungen und bestand 1964 mein für die Promotion vorgesehenes Abschlussexamen im Hauptfach Kommunikation und in den Nebenfächern Statistik und Soziologie. Nach der Rückkehr nach Europa gingen wir zunächst nach Trento, wo gerade eine neue Universität mit dem im Lande ersten soziologischen Curriculum und Abschluss eröffnet worden war. Man hatte dort den für Italien bahnbrechenden Entschluss gefasst, insbesondere Methodologie und Techniken empirischer Sozialforschung zu unterrichten. Hierfür wurde Paolo Ammassari berufen, denn auf diesem Gebiet hatte er sich in USA spezialisiert. Drei Jahre später wählten wir dann Rom als Wohnsitz. An der Università di Roma „La Sapienza“ übernahm mein Mann zuerst in der Facoltà di Scienze Statistiche, Demografiche ed Attuariali den Lehrstuhl für „Methoden und Techniken der Empirischen Sozialforschung“ und später als Ordinarius denjenigen für „Theoretische Soziologie“ an der Facoltà di Scienze Politiche.

Ich selbst wurde ein paar Jahre später von der Statistischen Fakultät auf den Lehrstuhl für „Sozialstatistik“ berufen.

Unsere beiden Töchter haben, wie wir, immer Mehrsprachigkeit und Weltoffenheit gepflegt. Adriana ist Ärztin, Aids-Spezialistin, und neben ihrer klinischen Tätigkeit auf wissenschaftlichem Gebiet stark international engagiert. Savina, mit politikwissenschaftlichem Diplom in Italien und Ph.D. in Development Studies der University of Sussex, arbeitet – nach langer entwicklungsfördernder Arbeit in Afrika und Asien – derzeit im Auftrag der Vereinten Nationen als Monitoring and Evaluation Advisor in Yangon (Myanmar).

Ehemalige Ulmer Dozenten traf ich später eher zufällig bei verschiedenen Gelegenheiten in Rom. Hans Magnus Enzensberger nahm, zusammen mit Umberto Eco, teil an einem Seminar beim Goethe Institut; Gert Kalow war für ein paar Monate Gast bei der Deutschen Akademie Villa Massimo; Max Bense traf ich zusammen mit Elisabeth Walther bei einem Espresso in der Via del Corso, und mit Joachim Kaiser und dessen Frau machte ich einen Spaziergang durch Ostia Antica. Nur mit Tomás Maldonado gab es in Mailand im Laufe der Jahre mehrmals, auch im Beisein von Ilse Grubrich-Simitis und Gui Bonsiepe, ein immer besonders herzliches nostalgisches Wiedersehen.

Im späteren Leben ist bei mir die Studienzeit an der HfG weitgehend in den Hintergrund gerückt, anders als bei meiner Schwester Frauke, die sich mit ehemaligen Studienfreunden aus der Ulmer Zeit intensiv um den Nachlass der HfG gekümmert und mir mitunter davon berichtet hat. Allerdings verdanke ich der HfG meine bis heute währende Freundschaft mit Ilse Grubrich, die sich dann auf unsere Lebensgefährten Paolo Ammassari und Spiros Simitis, mit ihren eigenen intellektuellen und kulturellen Horizonten, ausgedehnt hat.

 

Portrait Koch-Weser
Tomás Maldonado mit Elke Koch-Weser Ammassari, Gui Bonsiepe und Ilse Grubrich-Simitis in Villadeati, Italien (1972) Foto: unbekannt, Sammlung Elke Koch-Weser Ammassari

5. Welche Rolle spielte das in Ulm Angeregte bei meiner späteren akademischen Tätigkeit?

Als Auftakt zu meiner beruflichen Tätigkeit in Italien entschloss ich mich, auf meine bereits in der Ulmer Frühzeit vorrangigen Interessen für Kulturgeschichte und moderne Medien zurückgreifend, meine dem Department of Communication (MSU) zu unterbreitende Ph.D.-Dissertation dem Thema des kulturellen Wandels in Süditalien zu widmen. Im Zusammenhang mit zahlreichen Entwicklungsprojekten in der „Dritten Welt“ waren damals in Amerika, insbesondere von Alex Inkeles, Modernisierungstheorien mit entsprechenden multifaktoriellen Indikatoren und Indizes entwickelt worden. Auf Grund solcher Theorien und mittels angepasster Messinstrumente wollte ich den kulturellen Wandel in einer ländlichen Zone Apuliens untersuchen. Dort erlebte die Bevölkerung seinerzeit einen Umbruch in Lebensführung und psychologischen Einstellungen, Erwartungen und Bestrebungen als Folge des aufkommenden Fernsehens wie auch der Einführung neuer Werte und Verhaltensweisen seitens der in Nordeuropa als Gastarbeiter tätigen Verwandten. Everett Rogers, weithin bekannt durch seine Forschungen in verschiedenen Entwicklungsländern zum Stichwort diffusion of innovations, stellte sich mir freundlicherweise als Supervisor zur Verfügung. Als Zielgruppe meiner Studie wählte ich Mittelschulkinder. Fragebögen dienten der Datensammlung, und die statistische Repräsentativität der Stichprobe von Befragten war durch ein mehrstufiges strukturiertes Auswahlverfahren gesichert. Die Originalität der Arbeit lag in der Anwendung einer damals sehr fortschrittlichen Methode der Datenanalyse: die den Hypothesen zu Grunde liegenden unabhängigen und abhängigen Variablen hatte ich in Kausalmodellen formalisiert, um dann unter kontrollierten Voraussetzungen die jeweiligen direkten und indirekten Effekte errechnen zu können. Der Aufbau und die Durchführung dieser Arbeit verrät recht gut sowohl den Einfluss des vielseitigen Ulmer Wissenserwerbs als auch der vorrangig analytischen, quantitativ orientierten amerikanischen Zusatzerkenntnisse.23

Ähnlich kumulative Einflüsse treten mitunter auch bei meinen darauffolgenden Forschungsprojekten und italienisch-, englisch- oder deutschsprachigen Veröffentlichungen zutage. Die Themen, mit denen ich mich im Laufe der Jahre beruflich befasst habe, galten unterschiedlichen, aber doch sinnvoll verketteten Fragen.

Zunächst ging es – angeregt von Hanno Kestings insbesondere an Paul Lazarsfelds Lehren anknüpfende Vorlesungen – um Datenerhebung und design von empirischen Untersuchungen. Mich beschäftigte die Entwicklung von Instrumenten und verlässlichen Messverfahren zur Erfassung, auf individueller Ebene, von subjektiven Phänomen wie zum Beispiel die wahrgenommene Vertrauenswürdigkeit eines politischen Kandidaten oder die Zufriedenheit mit den eigenen Lebenschancen. Das Problem bestand dabei in der Transformation anfangs qualitativer Daten in solche, die quantitativer statistischer Analyse zugänglich sind.24 Auf gesellschaftlicher Ebene hingegen stellte sich die Aufgabe, damals primär quantitativen, den Wohlfahrtsstaat betreffenden objektiven Indikatoren subjektive Dimensionen hinzuzufügen, die, in synthetischen Indizes zusammengefasst, es erlauben, Entwicklungstrends vergleichend zu untersuchen.25 Sodann habe ich mich, auf diese Studien aufbauend, auf Grund von einer breit angelegten Umfrage, mit dem Thema des Zusammenhangs von Lebensführung und Freizeitgestaltung in Italien intensiv befasst, in einem Land, dessen stark stratifiziertes Sozialsystem sich in den 70er Jahren in rapidem Umbruch befand, provoziert von Landflucht, Industrialisierung, Bildungszuwachs und Medieneinflüssen.26

Solche Forschungsarbeit vertiefend, kam es zum Rückgriff auf aus dem Unterricht von Helge Pross stammende, besonders auf ausschlaggebende Geschlechtsunterschiede gerichtete Perspektiven. Dies geschah bei der Mitarbeit an einem vom Nationalen Forschungsrat (CNR) finanzierten vielschichtigen Projekt, das die komparative Erforschung des sozialen Status der Frau in Nord-, Süd- und Mittelitalien zum Gegenstand hatte. Dabei ging es unter anderem um Familienkomposition, Berufslaufbahn, Chancengleichheit bzw. -ungleichheit und um die Reproduktion von stereotypen Geschlechtsprofilen, wie sie im Familienkreis, seitens der Schule, aber auch durch audio-visuelle Medien tradiert werden.27 Diese den Frauen gewidmeten Recherchen führten zur Frage der auf Zeiteinteilungsmuster gegründeten Rollen von Mann und Frau. Um die Konsequenzen geschlechtsspezifischer Belastung und diesbezügliche coping strategies zu erfassen, war es wichtig, die Zeitorganisation aller Mitglieder einer Stichprobe von Haushalten zu ermitteln. Daten dieser Art, die heute international sehr aufwendig mit Hilfe von Tagebuchaufzeichnungen (time budgets) erhoben werden, sind sozialpolitisch relevant beim Festlegen von beruflichen Arbeitszeiten, Laden-Öffnungszeiten oder bei der Definition des Palimpsests von Fernsehprogrammen.28

Jedoch beschäftigte ich mich nicht nur mit der Erhebung empirischer Daten und der statistischen Analyse sehr großer Datensätze. Es blieb auch Raum für andere, für historische und epistemologische Perspektiven, wobei mir in Horst Rittels wissenschaftstheoretischen Seminaren gewonnene Erkenntnisse nützlich waren. Einerseits interessierte mich, in Zusammenarbeit mit Kollegen der Università di Torino, die Übertragung europäischen, speziell italienischen sozialwissenschaftlichen Wissens auf Lateinamerika im 19. Jahrhundert, zur Zeit der Begründung erster soziologischer Theorien und Zugehensweisen hinsichtlich sozialer Schlüsselprobleme. Mir fiel die Aufgabe zu, solche Entwicklungen im Falle Brasiliens, im Zeitraum von der Unabhängigkeit bis zum Zweiten Weltkrieg, zu studieren. Dies brachte mir eine willkommene Wiederbegegnung mit meinem Geburtsland und führte nicht zuletzt zu sehr spannenden Forschungserlebnissen in brasilianischen Bibliotheken, insbesondere der aus der Kaiserzeit stammenden großartigen Staatsbibliothek in Rio de Janeiro.29 Andererseits interessierten mich die Implikationen sprachstruktureller und semantischer Eigenarten und deren Einflüsse auf soziologische Konzeptualisierungen und Definitionen – sozusagen in Rückbesinnung auf die während der Ulmer Studienzeit geweckte linguistische Neugier. Anlass hierfür war die mir anvertraute Überwachung der Übersetzungen für die der Università di Trento anvertraute zweisprachige Publikation der Annali di Sociologia – Soziologisches Jahrbuch. Interdisziplinäre Übersetzerseminare, die in diesem Rahmen stattfanden, zeitigten faszinierende, die Hürden wie auch Missverständnisse der Wissenschaftskommunikation betreffende Ergebnisse.30

Parallel zur wissenschaftlichen Forschung widmete ich mich, wie schon gesagt, den Vorlesungen als Professorin für „Sozialstatistik“ an der Universität und hielt Kurse über „Techniken der Kommunikationsforschung“ an der Scuola di Giornalismo e Comunicazione der LUISS, einer angesehenen privaten Universität in Rom. Zudem war ich Mitglied von Kommissionen wie z.B. der Expertenkommission, welche ISTAT (unser statistisches Zentralbureau) beim Design der ersten großen, dem Verhalten der Familien gewidmeten, periodischen Datenerhebung behilflich war, oder derjenigen, welche an meiner Universität mit der Durchsetzung der Hochschulreform beauftragt war, und sich in Zusammenarbeit mit dem Kultusministerium darum bemühte, baldigst die Regeln des Bologna-Prozesses 31 einzuführen.

Wenn ich jetzt rückblickend zusammenzufassen versuche, welche Leitlinien und Anregungen das Studium in der Abteilung Information der Ulmer Hochschule für Gestaltung mir auf meinem weiteren Weg mitgegeben hat, so möchte ich zunächst – sozusagen als den markantesten Schlüssel – den Terminus „Methode“ hervorheben.

Unabhängig davon, mit welcher Zielvorstellung man nach Ulm gekommen war, also ob man in der Abteilung Produktgestaltung oder Architektur, Visuelle Kommunikation oder Information studieren wollte – eines lernte jeder mit Sicherheit: sich dem jeweiligen Gegenstand mit hochentwickeltem Methodenbewusstsein zu nähern (im Sinne des modernen Begriffs von problem solving) und mit zuweilen akribischer Systematik die Aufgaben zu lösen. Dabei ging es um das korrekte und genaue Formulieren von Fragestellungen, um das analytische Strukturieren komplexer Denkprozesse und um die rigorose, praktische Umsetzung von Ideen und Konzepten. Alle Vorgehensweisen sollten programmiert, kontrolliert wie auch in wohlorganisierter Teamarbeit vollzogen werden. Es war das erklärte pädagogische Ziel, bei jedem Studierenden einen übertragbaren methodischen Wissens- und Erfahrungsfundus aufbauen zu helfen. Beim Lesen in den verschiedenen Bänden mit Rückblicken kann man tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass die Absolventen der verschiedenen Abteilungen in Bezug auf diesen Punkt – Schulung im methodischen Denken und Handeln – der HfG die größte Anerkennung gezollt haben.

 

Hinsichtlich meiner persönlichen Dankbarkeit möchte ich vor allem folgende drei Aspekte unterstreichen:

 

a) Die internationale Ausrichtung.

Sicherlich gab es in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts kaum eine andere Hochschule, die von einem so hohen Prozentsatz von ausländischen Studenten besucht worden wäre und die rund um die Welt, von Südamerika bis nach Japan, ein solches Neugier weckendes Prestige genossen hätte. Ungeachtet ihrer völlig isolierten Lage auf dem Kuhberg war die HfG eine weltoffene, jedoch stark autoreferentielle Gemeinschaft von Dozenten und Studenten. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft sprachen viele Sprachen und brachten verschiedene Kulturen mit sich. Trotz der in der Presse viel diskutierten, immer wieder aufflammenden Konflikte wollten sie sich auf ein gemeinsames Experiment einlassen. Ich selbst hatte mein Aufwachsen zwischen zwei Welten, der deutschen und der brasilianischen, schon immer als Positivum empfunden und erlebte nun die zusätzliche Weltoffenheit als echte Bereicherung. Sicherlich haben die Ulmer Erfahrungen dazu beigetragen, dass ich als wissenschaftliche Beauftragte des Rektors meiner Universität über fast 20 Jahre sehr vielen Erasmus Studenten geholfen habe, sich international unter Beweis zu stellen, andere Lebensweisen zu erkunden und neue Perspektiven, auch das eigene Land betreffend, zu entwickeln. Zudem haben Paolo Ammassari und ich über Jahrzehnte hin uns mit allen Kräften für eine zunehmend globale wissenschaftliche Zusammenarbeit eingesetzt. Mein Mann war zeitweise Vizepräsident der International Sociological Association (ISA) und auch Präsident des sehr viel älteren, schon 1893 in Paris gegründeten Institut International de Sociologie (IIS). An dem in Rom 1989 von ihm organisierten Weltkongress nahm erstmals eine chinesische Delegation von Soziologen teil (leider in sehr unglücklicher Koinzidenz mit dem Massaker auf dem Tienanmen-Platz). Nach seinem Tod bestand ich als IIS Vizepräsidentin – zusammen mit Erwin Scheuch (Institut für Sozialforschung, Universität Köln) und Shmuel Eisenstadt (Hebrew University of Jerusalem) – darauf, einen der nächsten Kongresse in Tel Aviv zu veranstalten, um die faschistischen Schatten über dem Institut aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges überwinden zu helfen.

 

b) Die disziplinäre Transversalität.

In einem Dokument, das ich zwischen meinen Ulmer Papieren gefunden habe, wird der Abteilung Information folgendes Ziel gesetzt: „Ausbildung des Nachwuchses für die sprachlichen Aufgaben der Gebiete Funk, Fernsehen, Presse, Film, Verlag und Werbung.“ Auffällig ist zunächst, dass das rasch an Bedeutung gewinnende Fernsehen zu meiner Zeit an der HfG völlig ignoriert wurde und im Alltag auch gar nicht in Erscheinung trat. Mit anfänglicher Ausklammerung auch des Films war in Ulm die audiovisuelle Ära damals offenbar noch nicht angebrochen. Wohl aber hatte man erkannt, dass sehr verschiedene Disziplinen Schlüssel liefern können, um die Probleme anzugehen, mit denen die an dieser Abteilung Studierenden sich eines Tages hätten befassen sollen. Ich persönlich habe zwar keinen der für den Nachwuchs vorgesehenen Berufe ergriffen, aber die Auffassung, dass wir interdisziplinäre Ansätze benötigten, um unsere immer komplexeren Sozialprobleme zu lösen, hat mir immer eingeleuchtet. So habe ich zusammen mit Kollegen von Universitäten in fünf europäischen Ländern vor zwölf Jahren ein internationales, interdisziplinäres Promotionsprogramm unter dem Titel European Ph.D. in Socio-Economic and Statistical Studies (SESS.EuroPhD) ins Leben gerufen. Seit meinem Ruhestand wird dieses Programm – unter meiner Präsidentschaft, doch koordiniert an der Berliner Humboldt-Universität – weitergeführt, und es zieht weiterhin mit dem Angebot eines joint degree nicht nur aus Europa stammende Doktoranden an.

 

c) Die innovativen Denkansätze.

Die Hochschule für Gestaltung war ein sehr mutiges Unternehmen und man muss den Gründern noch heute dankbar sein. Aber sicherlich fehlte dem Programm der Abteilung Information zu meiner Zeit die Kohärenz. Ein Grund war, dass viele Dozenten von auswärts kamen, um ihre Vorlesungen zu halten, und dass sie oftmals nur für relativ kurze Zeit ihre Lehraufträge übernahmen. So war der Wechsel stets groß, und es gab wenig Gelegenheit zum Austausch und zum gemeinsamen Programmieren. Im Rückblick meine ich, es hätte jedenfalls geholfen, wenn man einen detaillierten Rahmen gefunden hätte, in den die verschiedenen Perspektiven sich hätten systematisch einordnen lassen. Humanisten und Neo-Positivisten, zum Beispiel, unterscheiden sich in ihren ontologischen, nicht verifizierbaren Prämissen und infolgedessen zwangsläufig in ihren epistemologischen Konzeptfindungen, Hypothesen und Validierungsstrategien. Und geht man dann von der Theorie zur Empirie über, dann werden die qualitativen versus quantitativen Beobachtungsmethoden und auch die explikativen (regression analysis) versus explorativen (analyse des données) Techniken der Datenverarbeitung unterschiedlich aussehen müssen. Vergleichende Untersuchungen der Ergebnisse (von mit immer wieder neuen Denkansätzen oder Paradigmen durchgeführten Analysen) sind natürlich zulässig und sogar bereichernd. Aber es dürfen geeignete Begriffe und Instrumente nicht fehlen, um die Unterschiedlichkeiten verlässlich zu bestimmen und eine konstruktive Ordnung zu garantieren.

 

Abschließend möchte ich nochmal darauf hinweisen, dass die Abteilung Information wie auch die Hochschule für Gestaltung insgesamt oft einem – allerdings kurzlebigen – Experiment gleichgesetzt worden sind. So gesehen wären wir in der Abteilung Information Studierende der Kohorte 1955 bis 1959 dann wohl die (heute mehr oder weniger zufriedenen oder kritischen) Versuchskaninchen gewesen. Inge Scholl und Otl Aicher, pädagogisch ausgerichtet und bürgerrechtlich engagiert, dürften sich die Entwicklung anfangs gewiss anders vorgestellt haben. Ich persönlich bedauere es jetzt, dass sie sich gar so weit von ihren ursprünglichen Idealvorstellungen abgewendet haben. Weltanschauliche Konflikte erschwerten schließlich das Lehren und das Lernen an der HfG, denn in der erkenntnistheoretisch fundamentalen Subjekt-Objekt-Relation riskierte der Mensch als solcher oft den Kürzeren zu ziehen. Und dies besonders in seiner selbstreflexiven, sinnsuchenden und eigenwillig kreativen Kapazität. Jedoch man vergaß dabei auch leicht das, was aus der Kriegszeit die Hochschulgründer nur zu gut kannten, seine mitunter gefährlich unverantwortliche, irrationale Komplexität.

Die von mir damals sorgfältig aufgezeichneten, diesen kritischen Punkt betreffenden beherzten Warnungen von Erich Franzen habe ich in Erinnerung gerufen. Käte Hamburger dachte gewiss ebenso. Ich selbst habe später nicht mehr Kontakt mit Ulm gesucht, weil für mich das Experiment in jeder Beziehung abgeschlossen war.

 

 

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Zitation
Elke Koch-Weser Ammassari "Was habe ich der Ulmer Hochschule für Gestaltung zu verdanken?" in: David Oswald, Christiane Wachsmann, Petra Kellner (eds) Rückblicke. Die Abteilung Information an der hfg ulm. Ulm, 2015, pp. 94-115, online unter http://www.hfg-ulm.info/de/rueckblick_elke-koch-weser.html

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