Max BenseEin experimenteller Lehrplan

Faksimile des Lehrplans

Ein experimenteller Lehrplan für Information an der Hochschule für Gestaltung, Ulm/Klasse Prof. Max Bense 1

 

Welche Bedeutung der Begriff der Information für die Sprache gewonnen hat dafür ist ein Lehrplan bezeichnend, in den wir Einblick nehmen konnten. Der Plan optiert radikal für eine Betrachtung von Texten – vom »einfachen« Gebrauchstext bis zur Dichtung – auf das Maß von Information hin, das sie enthalten. Damit aber kündigt sich eine Transposition der Literatur-Theorie an, deren immanente Tendenz zu den Arbeitsgrundlagen gehört, nach denen unsere Zeitschrift gemacht wird.

 

Die Hochschule für Gestaltung in Ulm hat ihre besonderen Aufgaben und Lösungsversuche, gewidmet der Produktform und Architektur, ausgedehnt auf zwei weitere wesentliche Gebiete der modernen Zivilisation, der visuellen Kommunikation und der Information. In der Abteilung für Information werden spezielle und allgemeine Probleme der Texte aller Art bearbeitet, und das Neue liegt nicht nur in der engen Zusammenarbeit mit der Abteilung für Visuelle Kommunikation, sondern darin, daß Allgemeine Semantik und Informationstheorie die verbindenden Grundwissenschaften für beide Zweige abgeben. Da es sich um ein sehr junges Lehr- und Forschungsgebiet handelt, ist der gegenwärtig vorhandene Lehrplan ein durchaus experimenteller.

 

Die Abteilung für Information zerfällt in zwei Unterabteilungen 1. Informationslehre, 2. Informationspraxis.

 

Informationslehre

Die Informationslehre arbeitet in zwei Phasen: a) theoretische Information, b) experimentelle Information. Die theoretische Information umfaßt die Darstellung und Bearbeitung aller theoretischen Mittel, das heißt der Grundwissenschaften, die zum Aufbau der Lehre und Praxis der Information notwendig sind.

 

Lehrstoff der theoretischen Information:

1. Logik und Logistik, philosophische Grammatik, Semantik, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik, mathematische Analyse der Sprache.

2. Grundbegriffe und Lehrsätze der allgemeinen Informationstheorie, Übertragungstheorie, Übersetzungstheorie, Texttheorie.

3. Metrische Informationstheorie, nichtmetrische Informationstheorie, determinierte und nicht determinierte Information.

4. Allgemeine nachrichtentechnische Themen.

5. Sprachliche und nichtsprachliche Information. Wesen, Mittel, Vermittlung und Transformation der Information.

6. Kommunikationsschemata und Informationsschemata.

7. Zeichen und Signale. Zeichenreihen und Signalketten.

8. Wahrnehmungstheorie und Darstellungstheorie für Zeichen und Signale, Ideen und Objekte.

9. Gestalten, Strukturen, Elemente und ihre Funktion in der Informationstechnik, Wahrnehmungstheorie und Darstellungstheorie für Gestalten, Strukturen, Elemente.

10. Allgemeine Funktionstheorie von Sendungen und Empfang.

11. Topik und Rhetorik, Allgemeine Aesthetik.

12. Zeichenaesthetik, Informationsaesthetik, Grundlagen der visuellen Semantik und visuellen Kommunikation.

13. Literaturmetaphysik und Literaturaesthetik.

 

Lehrstoff der experimentellen Information:

Die experimentelle Information vollzieht sich vor allem in seminaristisch-diskursiver Entwicklungsarbeit, das heißt es werden Versuche gemacht, klassische Informationsformen einzuüben und neue zu bilden, nicht zuletzt auch unter dem Aspekt, Informationsmaße zu finden.

1. Versuche im Bereich der natürlichen Sprachen (Verbalsprachen und substantivische Sprachen sowie ihre Transformationen).

2. Versuche über den Zusammenhang zwischen natürlichen Sprachen und Kunstsprachen. Verwandlung von natürlichen Sprachen und Kunstsprachen in Präzisionssprachen. (Literatur: Frege, Kotarbinski und Carnap).

3. Versuche zur Herstellung metaphysischer Kontexte zu epischen Kontexten. (Literatur: u. a. Kafka, »Der plötzliche Spaziergang«, Hebel, »Der geduldige Mann«).

4. Versuche über epische Abstraktionen (abstrakte Literaturen).

5. Versuche über Rastertechniken, Raffertechniken und Montagetechniken (in den grammatisch-syntaktischen Formen wie auch in den semantischen Gehalten). Formenkonzentration und -Dispersion, Themenkonzentration und -Dispersion (Rasterung epischer Texte zu filmischen Kombinationen. Textbuch und Drehbuch. Raffung einer wissenschaftlichen Mitteilung zu einem Werbetext oder zu einer Indikation. Montagen aus epischen und metaphysischen Texten. Wissenschaftliche und literarische Darstellungsmittel in der Reportage und der Propaganda.)

6. Versuche über Sprachspiele, Reglement und Streuung. (Literatur: L. Wittgenstein, »Untersuchung«).

7. Versuche über syntaktische und semantische Kurzformen, Verdichtungen, Entstellungen, Dehnungen, Verfremdungen. (Literatur: Benn, Brecht, Arno Schmidt (Berechnungen)).

8. Versuche über akzidenielle und attributive Beschreibungen, phänomenologische Reduktionen und Bedeutungsentleerungen. (Literatur: Husserl, »Ideen«).

9. Versuche über Dingstil und Funktionsstil, Fabelstil und Reflexionsstil. (Literatur: u. a. Hebel, »Schatzkästlein«, Ponge, »Le parti pris de choses«, Quenau, »Exercises de Style«, Diderot, »Beschreibung der Pascalschen Rechenmaschine«, Ortega y Gasset, »Escorial«, Benn, »Saison«, Beckett, »Textes pour rien«.)

10. Beschreibung und Bericht. (Beispiel: »Würfel«, »Wasserhahn« und »Unglücksfall«).

11. Versuche über mathematische Sprachen, metaphysische Sprachen, literarische Sprachen, konkrete Sprachen und abstrakte Sprachen. (Literatur: u. a. Descartes, »Discours«, Hegel, »Wer denkt abstrakt?«).

12. Versuche über Wahrnehmungsstil, Reizstil, Schockstil, Provokationsstil, Imaginationsstil.

13. Versuche über mathematische, metaphysische, historische, aesthetische und technologische Mitteilungen.

14. Objektmitteilung, Existenzmitteilung, kategoriale Sprache, existenziale Sprache.

15. Versuche über Präzisionsstechnik, Publikationstechnik, Chiffretechnik in inhaltlicher und formaler Richtung.

16. Allgemeine cybernetische Probleme der Information und konstruktive Sprachgestaltung.

17. Information und Interpretation. Determinierte und nichtdeterminierte Interpretation. Determinierte und nichtdeterminierte Bedeutung.

18. Sprachliche Information in Beziehung zur Gesellschaft und zur Ökonomie: Fetischierungen, Verfremdungen, Verdinglichungen, Klassenausdruck, Eliteausdruck, Saturierung, (Literatur: u. a. Sartre »Was ist Literatur?«, Lukacs »Geschichte und Klassenbewußtsein«, Brecht »Organon«, Joyce »Jugendbildnis«, W. Benjamin »Schriften«, Ortega y Gasset »Aufgabe unserer Zeit«, »Aufstand der Massen«).

 

Informationspraxis

In der Informationspraxis, die neben der Informationslehre und halb- und ganztägig eingerichtet ist, werden die in der Schule selbst anfallenden Informationsaufgaben und Aufträge, die von außen kommen, bearbeitet. Gleichzeitig handelt es sich aber darum, auf dem Wege der Praxis, sozusagen im Textlabor, alle Arten von Texten (vom Werbetext bis zum Feature und zur Reportage, vom Lexikonbericht bis zum Feuilleton, von der Lokalnachricht bis zum Leitartikel, zur Buchkritik, Filmkritik undsoweiter) methodisch und unter dem Gesichtspunkt der in der Informationslehre für die Wort- bzw. Textgestaltung erarbeiteten Prinzipien zu konstituieren und einzuüben.