David Oswald Max Bense und die Informationsästhetik

Bense teaching at the HfG, around 1956. Photo: Hans G. Conrad

Als Max Bense 1958 sein Engagement an der HfG Ulm beendete, beschrieb er seine zurückliegende Arbeit mit dem schönen Sprachbild er habe „vier Jahre lang die intellektuelle Substanz in die Schule gepumpt“.1 Bense war natürlich nicht die einzige intellektuelle „Pumpe“ an der HfG – die Liste der Dozenten, Gastdozenten und Gastredner spart nur wenige damalige Geistesgrößen aus. Jedoch ist Benses Einfluss in den frühen Jahren der HfG für das intellektuelle Klima an der Schule nicht zu unterschätzen – auch über die Abteilung Information hinaus. Im Rahmen der „kulturellen Integration“ unterrichtete Bense Studierende aus allen Abteilungen. Diese hatten, im Gegensatz zu den Studierenden der Abteilung Information, oft kein Abitur und mussten durch die Kriegsjahre fehlende Allgemeinbildung nachholen. Bense bot ein breites Feld von allgemeiner Philosophie, Logik, Philosophie der Technik und der Kunst, Ästhetik und Wissenschaftstheorie an.2 Bense hatte in der entstehenden DDR am Aufbau einer Arbeiter- und Bauernuniversität in Jena mitgewirkt, bevor er sich über Umwege nach Stuttgart absetzte. Er verfügte daher über Erfahrung im Umgang mit Studierenden ohne Abitur und den entsprechenden Bildungslücken.3 Einem Teil der HfG-Studierenden waren Benses Vorlesungen offensichtlich trotzdem zu anspruchsvoll, oder die gesteigerte Motivation zur geistigen Arbeit fehlte – in einigen bereits erschienenen Rückblicken anderer Abteilungen wird es angedeutet. Gerade das Thema, welches Bense ab Mitte der 1950er Jahre am meisten umtrieb, die mathematiklastige Informationstheorie und Informationsästhetik, dürfte es besonders schwer gehabt haben.

Auch wenn Max Bense sich in den frühen 1950er Jahren mit Kybernetik und ab den 1960er Jahren verstärkt mit Semiotik befasst hat, der Begriff, mit dem er noch heute am häufigsten assoziiert wird, ist die „Informationsästhetik“. Gleichzeitig ist „Informationsästhetik“ derjenige Begriff, der auch am häufigsten missverstanden wird. Auch wenn Buchtitel wie „Die Programmierung des Schönen“ 4 es nahelegen: Es geht in der Benseschen Informationsästhetik keineswegs um die Berechnung von Schönheit. Die Informationsästhetik ist weder eine Proportions- noch eine Formlehre. Und ganz abgesehen von der Frage, ob eine mathematische Proportions- und Formlehre überhaupt möglich ist oder wünschenswert wäre: Der Informationsästhetik wurde im Produktdesign und der Visuellen Kommunikation wenig Interesse entgegengebracht, denn sie ist für den Entwurfsprozess kaum von Nutzen. Die Informationsästhetik ist in einer Weise mathematisch-zahlenorientiert, dass klassische Fragen der Gestaltung, wie Gebrauchsprozesse oder Anmutungsqualitäten, darin schlicht keine Entsprechung finden.

Designerinnen und Designer jüngerer Generation laufen zudem Gefahr, die Informationsästhetik für eine sachliche Gestaltung von Informationen zu halten – einen „Infodesign-Stil“. Auch wenn das heutige Infodesign einige inhaltliche und formalen Wurzeln in Ulm und der Schweizerischen Typographie hat: Gegenstand der Informationsästhetik ist keinesfalls eine sachliche Darstellung, die der Informationsvermittlung dient. Sie ist damit auch kein Gegenspieler zu werblich-persuasiven Darstellungsweisen – auch wenn der Ulmer Kontext dies nahelegt.

 

Von Birkhoff über Shannon zu Benses Informationsästhetik

Bense steht mit dem Ansinnen ein ästhetisches Maß zu berechnen in der Tradition des Mathematikers Georg David Birkhoff, der zu diesem Zweck 1928 erstmals eine mathematische Formel präsentierte. Die beiden Parameter, die Birkhoff in dieser Formel nutzt, sind dem Gestalter wohlbekannt: Ordnung und Komplexität. In der klassisch modernen Gestaltungslehre sind Einfachheit und Ordnung positiv besetzt, Unordnung und meist auch Komplexität dagegen negativ. Birkhoff nimmt nun diese beiden Parameter und setzt sie zueinander ins Verhältnis. Er bildet einen Bruch. Das ästhetische Maß ist demnach Ordnung geteilt durch Komplexität: M = O/C. Ein hohes Maß an Ordnung sorgt also für ein hohes ästhetisches Maß, große Komplexität dagegen verringert das ästhetische Maß. In diese Formel wurde offensichtlich die gestalterische Prämisse des frühen Bauhaus eingeschrieben, mit seiner heute geradezu esoterisch anmutenden Verehrung von geometrischen Grundformen und „reinen“ Grundfarben.5

In der Birkhoffschen Formel steckt also eine implizite gestalterische Wertung. Frieder Nake, der Ende der 1960er Jahre in Stuttgart bei Bense unter anderem an „Computerkunst“ gearbeitet hat, hat in diesem Kontext mehrfach darauf hingewiesen, dass man streng zwischen einem Maß und einem Wert unterscheiden sollte. Ein Maß erhält man durch Messen – darum heißt es so. Ein Wert entsteht dagegen durch Bewertung.6 In der Birkhoffschen Formel wird beides vermengt. Der Aufbau der Formel legt nahe, dass ein hohes Maß auch einem hohen ästhetischen Wert entspricht. Dass Birkhoff überhaupt die Form einer mathematischen Formel wählt impliziert darüber hinaus, dass man Ordnung und Komplexität in Zahlen fassen, also messen kann. Dies tut er in Folge auch. Er entwickelt Mess- und Berechnungsmethoden für das Maß an Ordnung und die Komplexität von Polygonen, Netzen und Vasen,7 später auch von Musik und Gedichten.8 Die Art und Weise in der er dies tut ist jedoch so fraglich, dass Frieder Nake die Methode, und in Folge auch die Ergebnisse, als „hanebüchener Quatsch“ bezeichnet.9 In der Formel zur Berechnung des ästhetischen Maßes eines Polygons findet man – neben einleuchtenden (wenn auch ohne empirischen Beleg festgelegten) Messvariablen wie Symmetrie und Gleichgewicht – zum Beispiel auch eine Variable namens „Freundlichkeit“. Je komplexer die Gegenstände werden, desto hanebüchener wirken die Messversuche: Birkhoff ermittelt die Ordnung von Gedichten mit einer plumpen Rechnung, bei der Alliterationen, Gleichklänge, Reime und „musikalische Klänge“ zusammengezählt, und „überschüssige“ Alliterationen und Konsonanten davon wieder abgezogen werden. Mechanischer und oberflächlicher kann man Lyrik kaum bewerten. Die informationstheoretische Version des ästhetischen Maßes, welches Bense in Folge entwickelt, besinnt sich in Abgrenzung dazu auf die rein numerische Statistik und vermeidet so das Durcheinander von Messung und Wertung – auch wenn „Bense nicht oft und scharf genug darauf hinweist, dass ein höheres informationsästhetisches Maß nicht bedeutet, dass etwas ästhetischer sei.“10

Mitte der 1950er Jahre liest Bense den bereits 1949 erschienenen Aufsatz „Die mathematische Theorie der Kommunikation“ von Shannon und Weaver,11 die damit eine technisch-mathematische Informationstheorie und ein einfaches von der Nachrichtentechnik inspiriertes Kommunikationsmodell einführen: Sender – Kanal – Empfänger. Die Theorien und Modelle von Shannon und Weaver werden in Folge auch außerhalb der Nachrichtentechnik aufgegriffen und auf menschliche Kommunikation übertragen. Bense ist sofort fasziniert von der Methode, den Informationsgehalt einer Nachricht mathematisch-statistisch zu berechnen.12 Ordnung und Unordnung spielen in der Informationsästhetik höchstens noch eine mittelbare Rolle.

 

Das ästhetische Maß speist sich nunmehr ausschließlich aus der Wahrscheinlichkeit, mit der die Zeichen statistisch auftreten – und diese kann sich mit mehr oder weniger Ordnung ändern, muss aber nicht. Je unwahrscheinlicher das Auftreten eines Zeichens, desto höher ist das Maß an damit verbundener Information. Im Umkehrschluss: je wahrscheinlicher ein kommunikatives Ereignis ist, desto weniger Information beinhaltet es. Wenn also eine Nachricht im Extremfall schon bevor ich sie erhalten habe vollständig vorhergesehen werden kann, brauche ich sie gar nicht mehr übermitteln – die Information wäre null. Das klingt erst einmal schlüssig. Betrachtet man die Sache jedoch näher, merkt man schnell, dass dieses mathematische Modell nützlich sein mag, um die Kanalkapazität eines technischen Kommunikationsmediums zu berechnen – dazu hatte Shannon es schließlich entwickelt –, dass es aber zur Betrachtung menschlicher Kommunikationsprozesse wenig geeignet ist, da es völlig unabhängig von Inhalten und Bedeutungen funktioniert. Ein Beispiel: Eine durch Ausschütten zufällig entstandene Anordnung von farbigen Quadraten beinhaltet keine (beziehungsweise wenig) für Menschen verwertbare Information. Werden die selben Quadrate zu einem Mosaikbild zusammengesetzt, also geordnet, sieht ein Betrachter darin wahrscheinlich einen höheren Informationsgehalt – ganz im Gegensatz zur Shannonschen Formel. Solange das Zeichenrepertoire, also hier die Anzahl der unterschiedlichen Farben, und die Häufigkeit des Auftretens gleich bleiben, bleibt auch der mathematische Informationsgehalt nach Shannon unverändert. Sofern die Bildelemente die selben bleiben, ist es dem informationsästhetische Maß also völlig einerlei, ob diese sich zu einem geometrischen Muster, dem Abbild einer Blume oder zu chaotischem Rauschen formieren. Inhalt und Bedeutung einer Nachricht sind tatsächlich völlig irrelevant, wenn es allein um deren technische Übertragung geht. Egal ob Telegraf, Telefon oder E-Mail, das Medium hat sich üblicherweise nicht für die Inhalte zu interessieren. Liebesschwüre werden genauso ungerührt übertragen wie Einkaufslisten. Am Ende kommt aus der Shannonschen Formel – wie immer wenn gerechnet wird – eine bloße Zahl heraus. Zum Beispiel 32,88 oder 191,02.13 Sei es Farbe, Form, Kontrast, Bedeutung oder Kontext: All dies verschwindet in einer einzigen Zahl.

Bense empfindet dieses Verschwinden nicht etwa als Verlust, sondern geradezu als Befreiung: Das bedeutungsschwangere und womöglich gefühlsduselige Interpretieren von Literatur und Bildender Kunst soll gerade durch die präzisen Methoden der Naturwissenschaften ausgetrieben werden. Er geht nicht nur auf die Kunstgeschichte los, er fordert auch, dass die Ästhetik das „Geschwätz“ von Soziologie und Psychologie unterlassen solle.14 Im Zeitalter der technischen Zivilisation soll selbst über die Kunst (das Wort Gestaltung findet sich in Benses Schriften recht selten) in einer objektivierten Art und Weise gesprochen werden. Objektiviert meint hier messen, rechnen – und als Ergebnis Zahlen. Möglicherweise lag auch ein gehöriges Maß an Provokation in diesen radikal formulierten Forderungen. Im damaligen Baden-Württemberg wurde zwar vor allem über Benses strikten Atheismus gestritten,15 in den Literaturwissenschaften dürfte jedoch sein Ansinnen, in Zukunft auch Gedichte nur noch „auf das Maß von Information hin, das sie enthalten“ 16 zu untersuchen, für willkommene Empörung gesorgt haben. Die Berechnungsbegeisterung und die Vermeidung von unscharfen Bedeutungsdiskussionen jedoch auf reine Provokation zu reduzieren wäre auch falsch. Dazu ist diese Haltung sowohl im Stuttgarter wie im Ulmer Kontext zu weit verbreitet. Frieder Nake sieht darin eine Reaktion auf die Nazizeit: „Auf diese Art reagiert Bense – nach meiner Interpretation – auf die Erfahrung des Faschismus: Alles was in Richtung Bedeutung geht, geht auch in Richtung Emotion. Und hat man die Leute einmal in Emotionen geworfen, kann man herrlich mit ihnen spielen. Dann können die Mächtigen mit ihnen machen was sie wollen.“ 17 Die wirksamsten Waffen gegen die emotionale Manipulation sind, nach dieser Logik, die „objektiven“ naturwissenschaftlichen Methoden, Aufklärung und – Information. Der Name der Abteilung ist auch in diesem Sinne Programm.

 

 
Aus dem Unterricht bei Max Bense 1956: „Reportage über ein Bild. Darstellung einer ästhetischen Produktion in Form von Photos, Zeichnungen, Texten.“ Student: Gui Bonsiepe. Ein von Bonsiepe gemaltes Bild (oben) wird in der Farbverteilung analysiert um den ästhetischen „Informationsgehalt“ zu berechnen: 191,02 bit.

Im Vorwort des zweiten Bandes seiner aesthetica-Reihe schreibt Bense 1956, dass neben die ästhetische Zeichentheorie des ersten Bandes nun eine informationstheoretische Ästhetik tritt: „Zeichenprozesse verwandeln sich in Informationsprozesse.“ 18 Bense begreift die Semiotik nun als etwas, das in der Informationstheorie aufgeht. Elisabeth Walter-Bense sagte dagegen in einem Interview von 2003, dass für sie die Informationstheorie allenfalls ein Seitenzweig der Semiotik gewesen sei, dem sie nach eigenem Bekunden nicht viel Begeisterung entgegenbrachte.19 Sie sollte mit ihrer Skepsis gegenüber der Informationsästhetik Recht behalten. Auch Bense scheint nach und nach die Lust daran zu verlieren, in den 1960er Jahren taucht das Thema immer seltener in seiner Publikationsliste auf.20

Die Hoffnung, seine informationsästhetischen Theorien an der HfG in der Praxis angewandt zu sehen,21 sind von den Ulmer Praktikern weitgehend enttäuscht worden.22 Zu wenig hilfreich ist der informationstheoretische Ansatz im Entwurfsprozess. Ohne sich von seinen mathematisch-statistischen Theorien der 1950er Jahre zu distanzieren, wendet sich Bense ab Mitte der 1960er Jahren wieder mehr und mehr der Semiotik zu – einer Disziplin, in der Bedeutung beziehungsweise deren Kodierung, Vermittlung und Konstruktion wieder etwas mehr Platz hat.

 

Kybernetik

Bevor die Informationstheorie und -ästhetik Benses Theorien in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre dominierte, beschäftigte er sich mit der Kybernetik – der Wissenschaft der Steuerung und Regelung. Bereits 1949 hatte Bense das Kybernetik-Standardwerk Norbert Wieners gelesen: „Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine“.23 Mehrere Aspekte machen die Arbeit Wieners attraktiv für Bense: Der materialistisch atheistische Ansatz Maschinen, Tiere und Menschen auf das gleiche Prinzip zurückzuführen; die Überzeugung, dass Geist aus der Materie entsteht; und die Vorstellung, dass die technische Welt, die Umwelt des Menschen – im Grunde die ganze Welt – steuerbar und kontrollierbar, also gestaltbar ist. Ein Gedanke, der einerseits impliziert, dass der Mensch sein Schicksal in die Hand nehmen muss und sich nicht auf die Hand Gottes oder die „unsichtbare Hand“ 24 des Marktes verlassen sollte. Andererseits klingt Steuern und Kontrollieren auch nach Beherrschen. Bense spricht von der „grundsätzliche[n] Machbarkeit der Welt“.25 Die Vorstellung, dass der Mensch die Welt mit Hilfe der Technik beherrschen kann, hat aus heutiger Sicht einen Beigeschmack von technokratischem Machbarkeitswahn und von „männlicher Allmachtsphantasie“ (Ursula Wenzel). Der Zweite Weltkrieg hatte zwar gezeigt, dass technischer Fortschritt auch zu industrialisiertem Krieg, industriellem Mord und zur Atombombe geführt hat. Trotzdem herrschte bis in die späten 1960er Jahre ein ungebrochener Technikoptimismus. Die Concorde und der Wankelmotor wurden fernab von Treibstoffsorgen entwickelt, und die absolute Sicherheit der Atomkraftwerke war lediglich eine Frage der Redundanzen technischer Systeme. Die „Grenzen des Wachstums“ 26 waren noch kein Thema und CO2 kannte man nur im „Sauren Sprudel“.

Die Kybernetik ist in einem weiteren Aspekt interessant: Sie ist eine der Vorläuferdisziplinen der Informatik. Sie ist damit Teil einer zarten Traditionslinie, die von der HfG zur Informatik und zum Interface Design führt. Die Stuttgarter Schule ist für die (deutsche) Informatik sicher bedeutender als Ulm. Einige Bense-Schüler aus Stuttgart wurden Vorreiter insbesondere der Computer-Grafik.27 Auf Seite der Ulmer ist es vor allem Gui Bonsiepe, der die Kybernetik-Informatik-Linie in seinem beruflichen Weg mehrmals kreuzt 28 und schließlich eine Designtheorie entwickelt, die Gestaltung auf den Schlüsselbegriff „Interface“ zurückführt.29 Ein Begriff, der von Herbert Simon in das Produktdesign eingeführt wurde 30 und heute (fälschlicherweise) fast ausschließlich im Sinne von „Nutzeroberfläche von Computerprogrammen“ benutzt wird.

Anfang der 1970er Jahre leitete Bonsiepe das Designteam des chilenischen Cybersyn-Projektes, dessen Ziel es war, die von Allende verstaatlichte Industrie kybernetisch zu steuern 31 (siehe Rückblick von Gui Bonsiepe in diesem Band). Ein Projekt, das oft als „Sozialistisches Internet“ bezeichnet wird und auf der Überzeugung fußte, dass Prozesse, die für Menschen zu komplex und vielschichtig sind, mit Hilfe von kybernetischer Steuerung beherrscht werden können – auch die Wirtschaft eines Landes. Im Gegensatz zum liberalen Dogma, nach dem eine funktionierende Wirtschaft nur durch die unkontrollierte „unsichtbare Hand“ des Marktes gewährleistet werden kann, basierte Cybersyn auf der Überzeugung, dass auch Wirtschaft gestaltet ist, gestaltet werden kann – und im Sinne einer gerechteren Gesellschaft aktiv gestaltet werden muss. In die Kybernetik wurde die Hoffnung gesetzt, die Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Wirtschaft eliminieren zu können, ohne dabei die Nachteile der starren und unflexiblen Planwirtschaft des Ostblock-Sozialismus in Kauf nehmen zu müssen. Cybersyn sollte die Schaltzentrale der kybernetischen Planwirtschaft werden, hätte in „Echtzeit“ informiert, kontrolliert und ständig angepasste Steuerung ermöglicht – anstatt fixe Produktionsquoten in einem Fünfjahresplan festzuschreiben. Diese Konzepte wurden in den 1970ern auch in der DDR diskutiert. Hauptprotagonist war dort Georg Klaus, Philosoph, Kybernetiker und Semiotiker an der Humboldt-Universität in (Ost-)Berlin – der 1948 bei Bense in Jena promoviert hatte. Jedoch wurde eine weitere Diskussion um eine kybernetisch dynamisierte Planwirtschaft durch die orthodoxe und moskautreue Orientierung verhindert.32 Ob Cybersyn in Chile funktioniert hätte – oder ob es sich doch als eine von Kybernetik-Euphorie getriebene Unterschätzung der Komplexität wirtschaftlicher Zusammenhängen entpuppt hätte – man wird es nie wissen. Das Experiment wurde, noch bevor es richtig starten konnte, durch den von den USA unterstützten Militärputsch von 1973 verhindert. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass heute Computerprogramme mit ähnlichen Kontroll- und Steuerungskonzepten den globalisierten Finanz- und Börsenhandel mitbestimmen.

 

 
 
 
 
 
 
Max Bense im Unterricht an der Hochschule für Gestaltung, 1955. Fotos: Hans G. Conrad

Die „Naturalisierung“ von Information und Kommunikation

Die Kybernetik-Begeisterung der 1950er und 60er Jahre und der Traum, dass alles kontrollier- und steuerbar wird, scheint uns heute überzogen. Um die Kybernetik ist es still geworden, beziehungsweise sie ist ein Objekt der Technik- und Kulturgeschichte geworden.33 Die Allerklärungsansprüche der Naturwissenschaften jedoch sind nicht mitsamt der Kybernetik verschwunden. Recht ähnliche Formen von Komplexitätsunterschätzung fanden sich im Bezug auf Künstliche Intelligenz in den 1960er Jahren. Damals wurde prophezeit, dass in wenigen Jahren perfekte Übersetzungsmaschinen entwickelt werden würden. Was Übersetzungssoftware heute kann ist zwar verblüffend, aber sehr weit entfernt von perfekt – trotz vierzigjähriger Verspätung. Auch die Genetik-Euphorie der 1990er Jahre ist abgeklungen, zwar gibt es gentechnisch „designte“ Pflanzen, jedoch noch keine einzige funktionierende Gentherapie gegen Krankheiten – auch diese wurden bereits vor zwanzig Jahren angekündigt. Heute scheinen die Neurowissenschaften die alleinige Erklärungshoheit darüber zu beanspruchen, was der Mensch ist und wie er funktioniert. Dabei sind die Erkenntnisse der Neuro-Studien oft recht banal und für die Praxis wenig hilfreich.34 Aber die naturwissenschaftliche Untersuchungsmethode bedient die Sehnsucht vieler Disziplinen nach vermeintlicher Objektivität. Reihenweise knickten die Protagonisten anderer Wissenschaften in den letzten Jahren ein und versuchen ihr Tun durch das scheinbar objektive Messen von Gehirnaktivität naturwissenschaftlich zu adeln. Dies wird mit der Vorsilbe „Neuro-“ angezeigt: Neuromanagement und Neuroleadership, Neuropsychoanalyse und Neurosoziologie, natürlich auch Neuromarketing und – das fehlte noch: „Neuro Web Design“.

Fragen des menschlichen Verhaltens werden hier zu Fragen der Naturwissenschaften gemacht, die nur und ausschließlich mit den Mitteln der Naturwissenschaften beantwortet werden können.

Der Technikphilosoph Peter Janich kritisiert diese „Naturalisierung“ und die damit einhergehende Abwertung anderer Disziplinen wie Philosophie, Soziologie oder Kulturwissenschaften.35 Für ihn sind die von Shannon/Weaver eingeführten Übertragungen der Begriffe „Information“ und „Kommunikation“ auf die technischen Prozesse der Nachrichtentechnik bloße Metaphern. Nach Janich kann eine Maschine nicht „kommunizieren“, und ein Gen beinhaltet keine „Informationen“. Information und Kommunikation sind für ihn an menschliches Bewusstsein gebundene Begriffe. Janich stört sich an der Gleichsetzung von menschlichen Handlungen und Automatentätigkeit nicht etwa aus religiösen Gründen. Denn Vergleiche zwischen Lebewesen und Automaten mögen zwar religiöse Kränkungen mitbringen, sie funktionieren jedoch in ihrer Modellhaftigkeit sehr gut und können überaus hilfreich sein – sowohl für die Technik- wie für die Lebenswissenschaften. Problematisch wird erst die dogmatische Reduktion auf die physikalisch-kausale Sicht und die damit einhergehende Abwertung von gesellschafts- und kulturorientierten Ansätzen.36 Auch die Präzision der Wissenschaftssprache leidet unter den Metaphern. Jeder kybernetische Regelmechanismus ließe sich „allein in physikalischen Parametern beschreiben, ohne ein einziges kognitives […] Wort zu verwenden“.37 Am beliebten Beispiel eines Heizungstermostaten: Der sogenannte „Thermofühler“ fühlt natürlich nichts, er kennt weder Ziele noch Zwecke und er gibt auch keine „Information“ an das Heizungsventil weiter. Der „Thermofühler“ verformt sich lediglich abhängig von der Temperatur und öffnet und schließt dadurch ein Ventil. Technische Theorien scheinen jedoch gewichtiger zu wirken, wenn sie mit sprachlichen, kommunikativen oder kognitiven Begriffen aufgeladen werden.38

 

Zurück zu Bense und der Abteilung Information. In den Genuss der „vollen Dosis“ Bense gelangten nur die fünf Studierenden der ersten beiden Jahrgänge 1954/55 und 1955/56. Bense verließ die HfG, bevor eine zweite, noch kleinere Gruppe ihre Studien der Information aufnahmen. In der ersten Generation gab es nur einen einzigen männlichen Studierenden, in dessen beruflicher Praxis auch nur punktuell die Themen Informationstheorie und Kybernetik auftauchen. Die Frauen der Abteilung Information waren für die „Naturalisierung“ noch weniger empfänglich. Ihr späteres berufliches Leben verbrachten sie vorwiegend in geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen – Disziplinen, die der völligen Vernaturwissenschaftlichung bis heute trotzen. Die präzise analytische Haltung Benses und auch der systemische Aspekt der Kybernetik dürften trotzdem prägend gewesen sein. Aber spätestens hier sollte ich – anstatt weiter über die Prägung anderer zu spekulieren – auf die in diesem Band gesammelten persönlichen Rückblicke von Ilse Grubrich-Simitis, Elke Koch-Weser Ammassari, Margit Staber-Weinberg und Gui Bonsiepe verweisen.

 

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Zitation
David Oswald "Max Bense und die Informationsästhetik" in: David Oswald, Christiane Wachsmann, Petra Kellner (eds) Rückblicke. Die Abteilung Information an der hfg ulm. Ulm, 2015, pp. 116–123, online unter http://www.hfg-ulm.info/de/abteilungsleiter_max-bense.html

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