Christiane Wachsmann „Diese Schule ist überdies ein Stück Demokratie“ – Gert Kalow und die HfG
Ich lernte Gert Kalow Anfang Juni 1991 kennen. Damals interviewte ich ihn für meinen Aufsatz über die Informationsabteilung an der Hochschule für Gestaltung, der in unserem Katalog über die Fotografie an der HfG erscheinen sollte.1 Unser Gespräch war nicht lang, und ich hoffte sehr, es bei anderer Gelegenheit fortsetzen, mehr über sein Konzept der Informationsabteilung erfahren zu können – doch als die Ausstellung wenige Wochen später eröffnete wurde, war Gert Kalow gestorben.
1997 gab ich die Leitung des HfG-Archivs ab, widmete mich der Erziehung unserer Töchter und dem Schreiben literarischer Texte. Ich besuchte Seminare, die vom Förderkreis Deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg organisiert wurden – Gert Kalow gehörte zu dessen Gründungsmitgliedern –, und gründete an der vh Ulm selbst eine Schreibwerkstatt. Schreiben ist ein Handwerk, das man lernen kann: Das zu vermitteln war eines von Kalows zentralen Anliegen. Während meines Redaktionsvolontariats bei den Stuttgarter Nachrichten hatte ich selbst eine solch praktische Ausbildung genossen.
Als ich 2008 ins HfG-Archiv zurückkehrte, fand ich dort knapp zwei Aktenmeter aus dem Nachlass von Gert Kalow vor: Unterlagen aus seiner HfG-Zeit. Seine Witwe Kirsten Kalow hatte sie 2004, als sie die gemeinsame Wohnung im Alten Heidelberger Brückentor räumte, nach Ulm geschickt.
Dank der Förderung von Inventarisierungsmaßnahmen durch das Land Baden-Württemberg konnte ich diesen Nachlass im Rahmen meiner Arbeit im HfG-Archiv Anfang 2014 aufarbeiten und der wissenschaftlichen Forschung zugänglich machen.
Die Recherchen für diesen Artikel, das Lesen von Kalows Büchern und Texten, sind für mich so etwas wie die Fortsetzung des Gespräches, das Gert Kalow und ich vor 25 Jahren nicht mehr führen konnten. Zwei Aspekte lagen mir dabei besonders am Herzen: Sein Konzept für einen Unterricht in der Informationsabteilung, mit dem Kalow gegenüber der traditionellen geisteswissenschaftlich Hochschulbildung neue Wege ging, sowie sein Demokratieverständnis. Als Vorsitzender des Rektoratskollegiums (1960-61) und in der Krisenzeit 1962/63 versuchte er vergeblich, die Konfliktparteien an der HfG zu Kompromissen zu bewegen. Dabei rieb er sich vor allem mit Otl Aicher, mit dem ihn die antifaschistische Grundhaltung wie das Interesse an der Informationsabteilung verbanden – doch die Vorstellungen darüber, auf welche Art man seine Ziele in der neuen, demokratischen Welt der jungen Bundesrepublik erreichen könne, waren zu unterschiedlich.
Gert Kalow wurde 1921 in Cottbus geboren. Sein Vater war Studienrat, der Sohn besuchte das humanistische Gymnasium. Schon früh dürfte Gert Kalow mit dem Klavierspiel begonnen und dabei einige Begabung gezeigt haben: In den letzten beiden Jahren vor dem Abitur erhielt er Unterricht am Berliner Konservatorium. Sein Wahlfach im Abitur im März 1939 war ebenfalls die Musik; als Studienfach wählte Kalow dann allerdings evangelische Theologie.2 In seinem Lebenslauf von 1957, mit dem er sich für seine Mitarbeit an der HfG bewirbt, gibt Kalow außerdem an: „Februar 34. Hitlerjugend (durch zwangsweise Eingliederung der bündischen Gruppe, der ich zuvor angehörte). November 37. Austritt aus der Hitlerjugend. Seither keinerlei Mitgliedschaft bei irgendeiner politischen Organisation.“3
Bevor Kalow mit dem Studium anfangen konnte, musste er den „Reichsarbeitsdienst“ absolvieren. Anfang November 1939 begann er in Jena zu studieren – und wurde bereits einen Monat später zur Wehrmacht eingezogen. Die Jahre zwischen seinem 19. und 26. Lebensjahr verbrachte Kalow im Krieg und als Kriegsgefangener.
Er nahm am Frankreichfeldzug teil und wurde beim Aufbau des „Atlantikwalls“ eingesetzt. 1944 verurteilte ihn ein Kriegsgericht „wegen Nicht-Anzeige antifaschistischer Untergebener“ zu drei Wochen Gefängnis. Die letzten Kriegsmonate verbrachte Kalow als „Führer einer Kompanie an der Invasionsfront“ in Frankreich, wo er 1945 in Gefangenschaft geriet.4 Zwei Jahre später wurde er entlassen.
Er kehrte aus dem Krieg zurück mit dem aufrichtigen Bedürfnis, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen und für sein beginnendes bürgerliches Leben aus den Geschehnissen der Vergangenheit Konsequenzen zu ziehen.
„Ich war im August 1947 aus französischer Kriegsgefangenschaft nach Heidelberg gekommen. (…) Mit einem Rucksack und einem Pappkarton, die mein ganzes Hab und Gut enthielten, kam ich in einer vergammelten Wehrmachtsuniform in Heidelberg an. Nachdem ich in einer Dachkammer in der Sandgasse ein Notquartier gefunden hatte, wandte ich mich an Jaspers, (…) Während der Gefangenschaft hatte ich handschriftlich ein langes Manuskript über die (damals hefig diskutierte) Frage geschrieben, ob Nietzsche ein ‚geistiger Wegbereiter Hitlers’ gewesen sei. Ich schickte es mit einem kurzen Brief an Karl Jaspers. (…) Der persönliche Kontakt mit Jaspers blieb von da an erhalten.“5
Anders als der ein Jahr jüngere Otl Aicher, konzentriert sich Kalow nun auf die Frage nach der Verantwortung und den Gründen für die Katastrophe des Nationalsozialismus. Obwohl er gerade erst 18 war, als der Krieg begann, fühlt er sich mitschuldig. „Hitler erschien vielen wie ein Heiland, weil er das zu besitzen versprach, was allen fehlte, (…) Seine magische Kraftquelle war, daß er selber an sein Spiel glaubte. Wie gerne haben wir mitgespielt!“ schreibt Kalow in seinem Aufsatz „Ordnung und Lüge“, der 1949 direkt nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft entsteht.6
Aicher dagegen hatte sich, anders als Kalow oder auch die Kinder der Familie Scholl, schon als Jugendlicher gegen jede Vereinnahmung durch die Hitlerjugend gewehrt.7 Kompromisslos und konsequent entzog er sich den Übergriffen durch den Staat. Im Krieg hatte er sich als einfacher Soldat durchgeschlagen und war schließlich desertiert.8 Nach seiner Rückkehr ins von den Amerikanern besetzte Ulm richtete er den Blick nach vorne, organisierte Vorträge und engagierte sich bei der Gründung der Ulmer Volkshochschule. Befreit vom Anpassungsdruck der faschistischen Gesellschaft, machte sich Aicher daran, seine Vorstellungen und Ideen für eine demokratische Gesellschaft in die Tat umzusetzen.
„Kann Deutschland eine Demokratie werden?“ heißt es in einem programmatischen Text von 1948, zu dessen Autoren Aicher gehörte – und die sogleich folgende Antwort ist der Vorschlag zur Gründung einer „neuen schule“, in der das notwendige Bewusstsein für demokratisches Handeln wachsen könne.9
Auch Gert Kalow findet in dieser Zeit seinen Platz in der Gesellschaft. Durch Jaspers’ Fürsprache wird er an der Heidelberger Universität zugelassen. Er finanziert sich das Studium selbst, „bis zur Währungsreform durch Blutspenden, danach durch diverse Tätigkeiten: Versicherungsvertreter, Nachhilfelehrer, Anzeigenwerber u.a.m.“10 1950 beginnt er zu publizieren, zunächst in Zeitungen und Zeitschriften, dann auch im Rundfunk. Sein erster Buchbeitrag in einem Sammelband wird 1954 in der FAZ als „Meisterwerk“ eines bislang unbekannten Autors besprochen. „Ich bin von da an freier Schriftsteller; die begonnenen Dissertation (über Heideggers Sprache) wird aufgegeben. Eintritt in den Schriftstellerverband. Anfang 56 erscheint das erste eigene Buch (‚Zwischen Christentum und Ideologie’).“ 11
Kalow strebt vorwärts, engagiert sich wie Aicher für die Staatsform der Demokratie – zugleich aber schaut er zurück. Immer wieder beschäftigt er sich mit der Frage nach der eigenen Schuld, wie das Dritte Reich entstehen konnte und welche Konsequenzen daraus für das Leben des Einzelnen zu ziehen seien. In seinem einleitenden Essay zu Zwischen Christentum und Ideologie12 beklagt Kalow, dass „zehn Jahre nach Hitler (…) die heutige Welt“ nichts „aus jenem historischen Exempel“ gelernt habe.13 „Wir geben uns geistig fromm, aber um uns herum, in den Beziehungen zu Mitmensch und Mitding, strotzt Liederlichkeit (…) Wir kommen ohne Verdrängung und Unterdrückung nicht aus.“ 14
Kalow wendet sich gegen jede Art von Ideologie, jede Projektion des Lebens in eine utopische, paradiesische Gesellschaftsform. Man könne nicht davon ausgehen, dass der Mensch gut sei: Das Gute und das Böse sei in ihm. Die Ideologien versuchten, „wie alle Pseudoreligionen seit je, Gut und Böse zu entmischen. Sie gehen von der utopischen Annahme möglicher menschlicher Vollkommenheit aus, vom Glauben, dass sich das ewige Loch, das ewige Minus unserer moralischen Bilanzen zustopfen ließe.“ 15

Ideen würden zur Ware, die unreflektiert weitergegeben und nichts mit der Lebensbewältigung des Individuums, der von ihm ausgehenden Ordnung, zu tun hätten. Das Christentum erscheint in dem Sinn als Ausweg, als Kalow sich auf Christus selbst beruft: Alle weltliche Herrschaft solle man anheimgeben, sich nur auf Gott, auf die Liebe und die Wahrheit konzentrieren. Jedes Individuum solle sich immer wieder neu denken, um das Böse in sich selbst zu überwinden. Dabei muss es die Leere durch den abwesenden Gott ertragen, selbst getragen von der Liebe.
Kalow stellt sich in diesem Buch gegen die Tendenz in der jungen Bundesrepublik, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen und sich dem Tagesgeschäft zuzuwenden. Er fordert jeden Einzelnen auf, sich zu besinnen, sich mit dem Bösen in sich selbst auseinanderzusetzen und es zu überwinden. In diesem Buch zeigt sich bereits eine der wesentlichen Stärken Kalows: Er vermochte es, jeder einzelnen Stimme – Lautréaumont, Weil, Musil und Auden –
gerecht zu werden und Gehör zu verschaffen, ihre Aussagen nebeneinander bestehen zu lassen und den Leser dazu herauszufordern, sich seine eigenen Gedanken zu machen und zu eigenen Schlüssen zu kommen.
Im Jahr 1956 zieht Gert Kalow mit seiner damaligen Frau Marianne Kalow, geborene Bürgel, in das alte Brückentor in Heidelberg. Der Architekt Rudolf Steinberg, laut Kalow „zugleich Kunsthistoriker und ein gestandener Anti-Nazi“ 16, hatte nach dem Krieg den Auftrag bekommen, die zerstörte Brücke wieder aufzubauen und bei dieser Gelegenheit das Brückentor zu einer Wohnung ausgebaut, die er zunächst selbst bezog. Schon Ende der 1940er Jahre wurde sie „zu einem heimlichen ‚Kulturzentrum’ Heidelbergs“. Als Steinbach Anfang der Fünfziger Jahre einem Ruf an die TH Aachen folgt, überlässt er die Wohnung dem jungen Schriftsteller Gert Kalow – unter der Auflage, das Brückentor weiterhin als kulturelles Zentrum zu betreiben.17
Kalows Schwager Ulrich Bürgel und seine Frau Gunhild Bürgel studierten zu dieser Zeit ebenfalls in Heidelberg. Sie erinnern sich gut an den regen Austausch zwischen Musikern, Malern, Denkern und Dichtern: „Oft kamen sie nach Veranstaltungen in Frankfurt oder Mannheim und trafen sich im Turm.“
Es gab wunderbare Feste, immer standen Weinkisten herum. Zum Essen wurden Würstchen serviert, die in einem Einmachkessel mit Wasser bei Bedarf warm gemacht wurden. Man feierte Karneval – drei Tage lang. Die Schauspieler vom Zimmertheater trafen sich, aber auch viele Intellektuelle: Nikolaus Sombart, Hanno Kesting, Erwin Wickert (der Vater von Ulrich Wickert). Viele Heidelberger Professoren kamen: Reinhart Kossellek, Alexander Mitscherlich, Walter Bräutigam und Viktor von Weizsäcker, Jürgen Habermas, außerdem der Politikwissenschaftler Iring Fetscher und der Herausgeber der Frankfurter Hefte Eugen Kogon. Erich Fried war fast schon ein Dauergast, es kamen Leute vom PEN-Club und von der Gruppe 47.18
Kalow selbst erwähnt in seinem Rückblick Heinrich Böll, Hans-Magnus Enzensberger, Peter Rühmkorf, Helmut Heissenbüttel, Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Hans-Georg Gadamer, Hilde Domin und Karl Jaspers als Gäste.19
Bei aller Lebensfreude waren die Diskussionen stets ernsthaft und intensiv, erinnert sich Ulrich Bürgel. Man setzte sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinander und überlegte, wie man die Gesellschaft besser gestalten könne.
In diesen Jahren macht Kalow sich einen Namen als freier Publizist. Er schreibt für das Feuilleton der FAZ, für die Rhein-Neckar-Zeitung, das Heidelberger Tageblatt und die Frankfurter Rundschau, ist Mitarbeiter zahlreicher Rundfunksender, darunter SWF, WDR, HR und Radio Bremen, schreibt Beiträge u. a. für die Frankfurter Hefte, Texte und Zeichen sowie zahlreiche andere Zeitschriften.20
Wenn er arbeitete, saß Kalow ganz oben im Turm und schrieb. Ging die Klingel, so berichten die Bürgels, versuchte seine Frau zu vermeiden, dass er etwas davon mitbekam und herunterkam, denn dann ging es mit der Arbeit erstmal nicht mehr voran. Kalow war sehr gastfreundlich: Niemand wurde fortgeschickt.
Er hatte einen großen Tisch, den er hochklappen konnte, nachdem er alle Blätter darauf mit Metallbügeln gesichert hatte. Beim Schreiben ging bei Kalow immer alles „in den letzten 10 Minuten“. Bei einem großen Artikel riefen die Leute von der FAZ im Viertelstundentakt an, ob er fertig sei. Gert Kalow schrieb noch, während Marianne Kalow den Text bereits übers Telefon durchgab.
Die finanzielle Lage war stets schwierig. Nicht immer waren genug Münzen da für den Stromautomaten im Turm. Bei der „Kommissionsfrau“ in Alt Heidelberg, bei der man allen möglichen Krempel verkaufen konnte, war Kalow oft, verkaufte, was sich eben erübrigen ließ oder er geschenkt bekommen und nicht verwenden wollte. Marianne Kalow, die Fremdsprachen studiert hatte, arbeitete eine Zeitlang beim „Amt Blank“, dem Vorläufer des Bundesverteidigungsministeriums. Sie war zuständig für die Übersetzung technischer Texte – und damit Geheimnisträgerin. Deshalb wurde das Telefon abgehört: Wenn man abnahm, gab es ein charakteristische Klacken, wenn sich jemand dazuschaltete.
Das Leben im Turm sei sehr anstrengend gewesen, so die Bürgels.
Als die Kalows im Januar 1960 in eines der Dozentenateliers auf dem Ulmer Kuhberg ziehen, geben sie die Heidelberger Bleibe nicht auf. Für Gert Kalow eröffnen sich mit seinem Engagement an der HfG gleich in zweierlei Hinsicht neue Möglichkeiten: Als Dozent kann er seine Vorstellungen von einer praxisorientierten Lehre verwirklichen – und in der politischen Selbstverwaltung der Hochschule ein Stück Demokratie.
Unterricht an der HfG: Sprache als Fach
Im Oktober 1957 kommt Gert Kalow zum ersten mal nach Ulm, um dort das Fach „Textierungen“ zu unterrichten.21 Am 22. September hatte er an Tomás Maldonado einen „Arbeitsplan für das III. Semester (Okt.–Dez.) 1957 Abteilung Information“ geschickt. In dem dazugehörigen Brief kommt Kalows Begeisterung für die neue Aufgabe zum Ausdruck: „Ich schicke Ihnen daher einen Arbeitsplan-Entwurf für die ganze Informations-Abteilung. Ob er Ihnen zusagen wird? Es handelt sich da freilich nur um Stichworte. Änderungen sind, falls gewünscht, selbstverständlich möglich. Entscheidend ist, daß wir ernste, konkrete und zugleich enthusiastische Arbeit leisten, daß es uns gelingt, den Studenten Freude am Ausdruck beizubringen. Ich denke, wir werden das schaffen.“ 22
Kalow unterrichtet in diesem Jahr nicht nur durchgängig die (insgesamt vier) Studenten der Informationsabteilung, sondern gibt auch eine „Einführung in die Publizistik“ für den Grundkurs. In einem „Erfahrungsbericht an das Rektoratskollegium“ berichtet er im Dezember 1957 von einleitenden Vorträgen über Sprachtheorie, mehreren „sorgfältig durchexerzierte[n] Textstudien“ 23, und am Ende des Studienjahres erklärt er: „die informationsabteilung hat am 11.6.58 ein hörspiel beendet.“ 24
Über die Inhalte von Kalows Vorlesungen gibt unter anderem sein Buch „Poesie ist Nachricht“ Auskunft, das er ausdrücklich mit einer Widmung an seine ehemaligen Ulmer Studenten versah. Hervorzuheben ist hier vor allem der Text über „Musik und Sprache“, in dem Kalow die Sprache im Hörspiel behandelt.25
In einem „Bericht über die Abteilungsarbeit Information 1960/61“ erzählt er anschaulich von seiner Art zu unterrichten: 26 „Wie in den vergangenen Jahren, stellte ich Lektüre und kritische Besprechung ausgewählter Texte (Kraus, Pound, Kerr, Walser u.a.) an den Anfang jeder Übung. Daran schlossen sich, gemäß der jeweiligen Vorlage, ausführliche Gespräche über handwerkliche Probleme an, etwa: die consecutio temporum im Deutschen, Obertöne und Bedeutungsfelder, die einzelnen Wortgattungen und ihre Eigengesetze, die Rückblende und andere Tricks des Erzählens.
Im vorangegangen Jahr hatten wir Dylan Thomas’ Hörspiel ‚Unter dem Milchwald’ bis in die letzten Winkel auseinandergenommen (mit graphischer Aufzeichnung des ganzen Ablaufs). Diese analytische Arbeit wurde, etwas weniger exzessiv, in diesem Jahr fortgesetzt (…) Sinn dieser Aufgabe: nicht ‚Literaturbetrieb’ (der uns gar nichts angeht), sondern Schulung in der Fähigkeit, Formen zu erkennen, sprachliche Bausysteme.
Zwischenherein wurden, als Fingerübung, Referate und Glossen geübt (…). Hauptprojekt der Abteilungsarbeit im letzten Jahr war das Manuskript zu einem Rundfunk-Feature über ‚Die Party; Formen heutiger Geselligkeit’. Das Thema wurde aus vielen möglichen Themen ausgesucht (nach Absprache mit Radio Frankfurt), die Literatur gemeinsam durchgegangen, jeder Student bekam ein Teilgebiet zur Ausarbeitung. Am lehrreichsten war der Zusammenbau des am Ende immensen Materials zu einem verständlich gegliederten Text. Trotz freiwillig eingeschobener Sonntags- und Nachtarbeit wurde das Manuskript jedoch bis zum 30.6.61 nicht fertig. Der Abschluß wird im Oktober nachgeholt.“ 26
Das Feature „Die Party“ der Autoren Dolf Sass, Alf Poss und Erdmann Wingert wird schließlich 1962 vom Hessischen Rundfunk gesendet.27

Kalow orientiert sich in seinem Unterricht an dem angelsächsischen Vorbild des creative writing, das in jener Zeit als Begriff in Deutschland allerdings noch weitgehend unbekannt ist.28 So weist er schon in seinem Aufsatz über H. W. Auden in Christentum und Ideologie „auf einen allgemeinen, übrigens höchst nachahmenswerten, Trend des literarischen Lebens Amerikas“ hin: „Man wünschte, daß unsere europäischen Universitäten sich gleichfalls entschlössen, statt der Nur-Philologen auch die Sprachkünstler selber auf ihre Lehrstühle für Germanistik, Romanistik, Anglistik usw. zu berufen.“ 29
In Europa betrachtete man das literarische Schreiben eher unter dem Aspekt des Geniegedankens: Als eine Begabung, die nur wenigen zuteil wird und auf Anhieb vorhanden ist. Kalow dagegen betont den handwerklichen Aspekt: „Man kann Schreiben lernen, genauso, wie man Aktzeichnen oder Komponieren lernt“, äußerte er 1991 im Gespräch mit der Autorin.30
Diesem Ansatz folgt Kalow auch an der HfG. In freien Übungen bekommen die Studenten etwa die Aufgabe, eine beliebige Person durch die von ihr benutzte Sprache zu charakterisieren oder einen Vorgang genau zu beschreiben. „Die Übungen wurden dann im Seminar vorgelesen, und Dozent und Mitstudenten haben dann entschieden, ob das verständlich war. Ob die Nachricht angekommen ist. Wenn nicht, wurde genau überlegt, warum nicht.“ 31
Kalow war in dieser Zeit nicht der Einzige, der diese Methode anwandte. Auch in der berühmtesten Autorengruppe jener Zeit, der Gruppe 47, stand die Textkritik im Mittelpunkt der Treffen – nur gab es einen entscheidenden Unterschied: Die „so harte, nie Rücksicht nehmende Kritik in der Gruppe 47“ 32 diente dem Urteil über die Texte der Kollegen. Im geschützten Raum des Unterrichts an der Ulmer Hochschule stand dagegen die handwerkliche Arbeit im Vordergrund. Den Texten lagen konkrete Aufgaben zugrunde, sie wurden zum Zweck der Übung geschrieben und besprochen. Es ging gerade nicht darum, geniale Texte zu verfassen und sich damit einer – mitunter vernichtenden – Kritik zu stellen. Es ging um die persönliche Entwicklung der Studenten und eröffnete ihnen die Möglichkeit, anhand solcher Schreib-Erfahrungen ein eigenes Profil und einen eigenen Stil zu entwickeln.
Unter dem Titel „Sprache als ‚Fach‘?“ veröffentlicht Kalow 1962 in „output“, der Studentenzeitschrift der HfG einen Artikel, in dem er diesen Aspekt noch vertieft.33 Ausgehend von der Frage: „Brauchen wir Schriftstellerschulen?“ zieht er zunächst die Parallele zu anderen Künsten: „Aber haben wir nicht Konservatorien mit Meisterklassen für Komposition, Kunstakademien mit Unterricht in Graphik, Malerei, Plastik?“, 34 um dann nicht nur eine solidere Ausbildung für den Nachwuchs publizistischer Berufe zu fordern, sondern „eine bessere Spracherziehung (…) für alle“.35
„In den Oberklassen gibt es zwar den unentbehrlichen Deutschen Aufsatz, aber eine höhere Sprachlehre fehlt beinah ganz. Ausdrucksübungen in kleinsten und größeren Formen, Wort-für-Wort-Analysen fremder Texte, experimentelles Eindringen in die Baugeheimnisse der Syntax usw., kurz: die konkreten Anleitungen zum eigenschöpferischen Umgang mit der Sprache fehlen. (…) Freilich sind die Deutschlehrer nicht oder nur mittelbar daran schuld. Sie geben weiter, was sie empfangen haben. (…) Auf unseren Lehrstühlen für Physik sitzen die großen Physiker, auf den Lehrstühlen für Philosophie die Philosophen, auf den Lehrstühlen für Architektur die Architekten. Auf den Lehrstühlen für Deutsche Literatur sitzen ausschließlich Historiker.“ 36
Bestätigung für diese Ideen erhält Gert Kalow von Peter Ladiges, dem Leiter der NDR-Hörspielabteilung: „Ich muß häufig an Deinen kleinen Aufsatz über die Möglichkeit, schreiben zu lernen oder nicht, denken. In den letzten drei Wochen hatte ich einen Schwung von über zwanzig englischen Originalfernsehspielen zur Beurteilung.
Da kann man sehen, in wieweit die reine Schreibtechnik erlernbar ist. Diese Leute kommen fast alle aus der BBC-Schule und können es einfach. Und das brauchen wir heute. Gute Handwerker, denen Du ein Thema oder ein paar runde Figuren in die Hand drücken kannst, und dann machen sie halt ein Fernsehspiel daraus. Das hat natürlich mit Kunst nichts zu tun. Aber mit dem Kunstbegriff hat man in Deutschland nicht nur die Literatur ruiniert, sondern viel mehr. (…) Was nützen die besten Absichten, wenn sie nicht zum Ausdruck kommen oder dem technischen Mittel nicht adäquat sind?“ 37
Um der Informationsabteilung mehr Gewicht und eine professionelle Ausstattung zu geben, kümmert sich Kalow um die Einrichtung eines Tonstudios an der HfG – eine „Wortwerkstatt“ in Ergänzung zu den anderen HfG-Werkstätten.38 Hier sollen die Studenten lernen, ihre eigenen Hörspiele und Rundfunkbeiträge zu produzieren.
Bereits in den frühen Programmen für eine „Geschwister-Scholl-Hochschule“ hatten die Bereiche Rundfunk, Fernsehen und Film ja gleichberechtigt neben anderen Ausbildungsthemen gestanden. Während sich der Film Anfang der Sechziger Jahre mit einer eigenen Abteilung an der HfG etabliert, bleibt der Hörfunk ein Stiefkind – zu aufwendig erschien anfangs die Einrichtung eines kompletten Studios für Lernzwecke auf dem Kuhberg. Kalow mit seinen guten Verbindungen zu den westdeutschen Rundfunkanstalten gelingt es nun, die notwendigen Gerätespenden zu bekommen und ihre fachgerechte Installation zu gewährleisten.39
Kalow zeigt sich mit seinen Ideen für den Schreibunterricht seiner Zeit voraus. Er weist einen Weg, auf dem die Informationsabteilung der HfG durchaus ein eigenes Profil hätte entwickeln und schärfen können. Von der Einweihung des Tonstudios erhofft er sich noch im September 1963 einen „Neustart für die Informationsabteilung“ 40 – doch dazu kommt es nicht mehr. Zu stark sind die persönlichen Differenzen zwischen Kalow und der Schulleitung unter dem neuen Rektor Otl Aicher.
Kalows Engagement in der HfG-Leitung
Im Januar 1960 erhält Gert Kalow eine feste Anstellung als Dozent für die Abteilung Information und wird deren Leiter. Schon bald beginnt er, sich in der Selbstverwaltung der Hochschule zu engagieren. Für ihn ist das Erbe der Geschwister Scholl gleichbedeutend mit dem Auftrag, ein demokratisches Gemeinwesen zu organisieren: „Geschwister Scholl … Diese Schule ist überdies ein Stück Demokratie oder sie will es werden“, diese Notiz findet sich in seinem Nachlass.41 Im Juni 1960 wird Kalow zum Vorsitzenden eines Rektoratskollegiums gewählt, dessen weitere Mitglieder Horst Rittel und Friedrich Vordemberge-Gildewart sind.
„Ziel meiner Rektoratstätigkeit war es von Anbeginn, die größtenteils sinnlosen Spannungen innerhalb der HfG, die zu einem nutzlosen Kräfteverschleiß führen, abzubauen“, schreibt Kalow im Juli 1961 an Walter Zeischegg, in dem er kurzzeitig einen Verbündeten gefunden zu haben glaubt.42
Die erste große Krise der Ulmer Hochschule war der Konflikt mit Max Bill gewesen. Als er 1956 die Hochschule verließ, hatte ein Rektoratskollegium die Leitung übernommen, und in den nun kommenden Jahren schien sich die Schule zu stabilisieren – wenn es auch immer wieder Umbrüche und Neuorientierungen gab, so etwa im März 1958, als Max Bense die HfG verließ und damit sowohl der Unterricht der Informationsabteilung als auch der gesamte Bereich „Allgemeinbildung“ an der HfG neu organisiert werden musste.
Eine Reihe neuer Dozenten kam nun nach Ulm, darunter der Soziologe Hanno Kesting, der Mathematiker Horst Rittel und der Fotograf Christian Staub. In der Informationsabteilung unterrichteten in diesem Jahr vor allem Gert Kalow und Bernd Rübenach vom Südwestfunk. Sie übernahmen den praktischen Teil von Benses Unterricht unter der Bezeichnung „Textierungen“. Die Fächer Methodologie und Informationstheorie fielen in den Aufgabenbereich von Horst Rittel. Im Juni 1959 stellte Rittel im Kleinen Konvent der HfG ein Konzept für eine neue Abteilung „Planung und Organisation“ vor.43 Schon während dieser Sitzung regte sich erster Unmut: „Leowald/Maldonado zeigen sich von diesen Erweiterungsplänen nur eingeschränkt begeistert“, notiert Kalow.44
Was nun folgte, war ein dreijähriger Machtkampf um die Führung der HfG.45 Dabei ging es um die Frage, ob die theoretischen Fächer gleichberechtigt mit den Design-Fächern an der HfG bestehen oder die Design-Fächer nicht doch vorrangig behandelt werden müssten, während Wissenschaft und Technik nur Hilfmittel des Designers sein sollten.
Allerdings verliefen dabei die Fronten nicht zwischen Wissenschaftlern und Designern, sondern zwischen alt eingesessenen und neu berufenen Dozenten – und da auch nicht auf fachlicher Ebene. Gert Kalow etwa als Leiter und einziger Festdozent der Informationsabteilung war ja gerade kein ausgewiesener Theoretiker. Sein Unterricht und sein Engagement für das Tonstudio zeugen von seinem Bestreben, seinen Studenten eine praktische Ausbildung für ihren zukünftigen Beruf zu geben. Gleiches trifft auf den Fotografen Christian Staub zu, der die HfG 1963 verließ, sowie auf den 1962 verstorbenen Friedrich Vordemberge-Gildewart.
In einem Erfahrungsbericht vom Juni 1962 spricht Kalow dies deutlich an. „Unverblümt gesagt, handelt es sich bei all diesen, die Arbeit der Schule sehr störenden Streitigkeiten (…) um den Kampf der ‚Altdozenten’ um ihr Privileg gegenüber allen später hinzugekommenen (...) Kollegen. Es fehlt der HfG noch immer an einer festen inneren Struktur, an einem Kanon von Spielregeln, der von allen Beteiligten, Dozenten wie Studenten, als unantastbar anerkannt ist.“ Die HfG sei noch immer „überwiegend bloße Idee oder ‚geniale Improvisation’“.46
Kalow weist darauf hin, dass man nicht einerseits höchstqualifizierte Dozenten berufen, ihnen dann aber ein volles Mitspracherecht in der Hochschulleitung verweigern könne. Das habe dazu geführt, dass viele Neuberufene „nach kurzer Frist mit Erbitterung“ wieder ausgeschieden seien.
„Da ist ferner die noch sträflichere, in ihrem Idealismus wahrhaft terroristische Vorstellung, daß alles und jedes, was in Ulm von Dozenten vorgetragen wird, ‚design-bezogen’ sein muß. Wenn man sich z. B. darüber klar ist, daß die Ulmer Studenten u.a. auch Soziologie hören müssen, (…) dann ist der beste verfügbare Soziologiedozent der richtige Mann. Wenn man den ‚design-bezogensten‘ Soziologen sucht, wird man einen Narren finden. Die Beziehung zwischen theoretischem Stoff und praktischer Arbeit muß der Student in seinem Kopf selber herstellen.“
Die HfG, stellt Kalow fest, leide „an einer idealistischen Selbstüberforderung“. Ihr liege die Vorstellung zugrunde, „daß die Ulmer Schule, ohne den Zwang irgendwelcher Regeln, eigentlich auf einem engen Freundschaftsbund funktionieren müsse.“ 47
Die Hochschule war ja zunächst im überschaubaren Kreis der Ulmer Freunde um Inge Scholl und Otl Aicher entstanden und aufgebaut worden. Hier hatten sich Menschen zusammengefunden, die sich als Andersdenkende den Bedrohungen durch Nationalsozialismus und Krieg ausgeliefert gesehen hatten. Im ersten Aufbaubüro in der Hirschstraße arbeiteten sie als eingeschworene Gemeinschaft zusammen, mit dem Ziel, eine neuen Hochschule, eine neue Gesellschaft zu erfinden. Allerdings handelten sie dabei nicht ohne, sondern nach ihren eigenen – unausgesprochenen – Regeln. Max Bill war in diesem Gefüge bereits ein Fremdkörper, mit ihm verließen nicht nur viele Studenten, sondern auch eine Reihe von Dozenten die Schule.
Mit den Neuberufungen des Jahres 1958 kamen gleich eine Reihe von „Fremden“ an die HfG. Sie alle begeisterten sich für die Ideen der Hochschule, aber jeder brachte seine eigenen Interpretationen und Vorstellungen mit. Je weiter die Schule wuchs, desto gravierender machte sich das Fehlen einer für alle verbindlichen Schulverfassung bemerkbar (bis zum Dezember 1962 hatte es nur eine vorläufige gegeben).48
Gert Kalow selbst fühlte sich der Gemeinschaft der Antifaschisten und Demokraten unbedingt zugehörig, die sich in Ulm zunächst im Rahmen der Volkshochschule zusammengefunden hatte. Die in den frühen Programmen der Geschwister-Scholl-Hochschule formulierten Ideen sprachen nicht nur ihn und viele Lehrende an, die an die Ulmer Hochschule kamen, sondern vor allem auch die Studenten. Dass sich dieses Ideal einer demokratisch verfassten, weltoffenen Hochschule in Ulm nicht verwirklichen ließ, hat Kalow lange nicht zur Kenntnis nehmen wollen – nur so sind seine unermüdlichen Versuche zu verstehen, die Streitigkeiten auf das erträgliche Maß zu reduzieren und in einem demokratischen Prozess das weitere Schicksal der Hochschule mitzugestalten.
Im Krisenjahr 1962 kommt für ihn als weitere Schwierigkeit die räumliche Entfernung hinzu: Durch die Vermittlung von Hannah Ahrendt hatte Gert Kalow im Oktober 1961 ein Stipendium für ein Jahr von der Rockefeller-Stiftung erhalten. Er tritt daraufhin als Rektoratsvorsitzender zurück, lässt sich als Informationsdozent beurlauben und zieht sich zum Schreiben nach Heidelberg zurück, wo eine Reihe von Essays zum Thema der Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit entstehen.49 Fieberhaft sucht Kalow nach einer Vertretung in dieser Zeit für den Unterricht in der Abteilung Information – und stößt dabei auf Widerstände unterschiedlicher Art: Zum einen das Widerstreben Otl Aichers, weiter mit Kalow oder einem von dessen Vertrauten wie etwa dem Soziologen Harry Pross zusammenarbeiten,50 zum anderen gibt es Vorschläge aus dem Dozentenkreis der HfG, die Abteilung ganz aufzulösen.
„Bei der Festdozenten-Sitzung am 30.4.62 sprach Kollege Zeischegg von Streichung der Abt. Inf.“, notiert Kalow. „Erst hinterher von Risler dasselbe gehört. Dass man einen solchen Plan auch nur erwägt, ohne mir ein einziges Wort zu sagen, entspricht einem Stil, einer Art mit Menschen, Kollegen umzugehen, (…) die gemein und würdelos ist und die ich mir – mögen noch so viele andere Dozenten vor mir sie geschluckt haben – auf gar keinen Fall bieten lassen werde." 51
Naheliegender Grund für ein solches Ansinnen ist natürlich die verschwindend geringe Zahl an Informations-Studenten. Kalow hatte sich immer dagegen gesträubt, allzu viel Werbung für die Abteilung zu machen, so lange das Tonstudio noch nicht funktionierte: „Wir konnten ja nicht gut für eine Abteilung werben, für die in der HfG noch gar keine konkreten Arbeitsmöglichkeiten bestehen“, schreibt er im Juni 1962.52
Zu diesem Zeitpunkt ist er noch immer guten Mutes, seine Pläne verwirklichen zu können. Für den März 1963, dann für den Oktober plant er die Einweihung des Tonstudios.
Doch inzwischen hat die Krise der HfG einen neuen Höhepunkt erreicht: Ein höchst polemischer Artikel über die Ulmer Hochschule, den das Wochenmagazin Der Spiegel im März 1963 veröffentlicht, bringt die schwelenden Konflikte an die Öffentlichkeit. Gert Kalow wird in dem Text mehrfach zitiert, unter anderem mit den Worten: „Der ‚Ulmer Stil’, der das Klima innerhalb der Hochschule charakterisiert, besteht aus Unfreundlichkeit, Mißgunst, Kälte, gegenseitigem Haß, Unfähigkeit miteinander zu reden.“ 53
Kalow erscheint hier in der Rolle des Anklägers, der sich in seiner Ohnmacht an die Öffentlichkeit wendet. Obwohl dieses Vorgehen in den letzten Jahren des Bestehens der HfG geradezu üblich wurde, verwundert es doch, dass eine integre Persönlichkeit, ein loyaler HfG-Dozent und erfahrener Journalist wie Kalow zu solchen Mitteln gegriffen haben soll. Tatsächlich stammen diese Zitate aus einem Schreiben vom Dezember 1962, das Kalow an den GSS-Stiftungsvorsitzenden Thorwald Risler, die Mitglieder des GSS-Vorstandes sowie den Vorsitzenden des GSS-Verwaltungsrates geschickt hatte. Die druckreif formulierten Äußerungen, mit denen Kalow im Spiegel zitiert wird, waren durch eine offensichtliche Indiskretion eines der Beteiligten dem zuständigen Redakteur zugänglich gemacht worden.54
Gert Kalow trifft nicht nur das Vorgehen des Spiegelreporters, sondern vor allem die Reaktion der Ulmer Kollegen hart: Otl Aicher fordert ihn auf, die HfG zu verlassen,55 Herbert Lindinger und Claude Schnaidt werfen ihm und anderen – Dozenten wie Studenten – in einem am Schwarzen Brett ausgehängten Brief eine „Pressekampagne“ gegen die Hochschule vor.56 Der stets auf Ausgleich bedachte Kalow ist selbst zwischen die Fronten geraten. Und wehrt sich nach Kräften. In einem ausführlichen Brief an Aicher schreibt er: „Gerade jetzt, nach der Ulmer Spiegel-Affaire, kann die Konsequenz, die ich zu ziehen habe, auf gar keinen Fall darin bestehen, daß ich mich lautlos zurückziehe, sondern einzig darin, daß ich mit aller Kraft daran mitwirke, die Fehler, die ich sehe, zu beseitigen (…) Sind Sie sicher, daß ich nicht ebenso viele Gründe hätte, Sie zum Verlassen der HfG aufzufordern, als Sie mir gegenüber zu haben glaubten (…)?“ 57
Kalow beruft sich hier – wie auch in anderen Schreiben – auf das ursprüngliche, in der Verfassung der Geschwister-Scholl-Stiftung festgehaltene Programm der HfG, für das Aicher und Scholl „die Zustimmung bedeutender Persönlichkeiten und öffentliche Gelder erhielten“, und fordert dessen Erfüllung. Dabei sieht er sich selbst als Anwalt eines demokratischen, von Loyalität und gegenseitiger Achtung getragenen Gemeinwesens und beruft sich auf das Vorbild der Geschwister Scholl. Kalows Analysen der Vorgänge an der Hochschule sind oft treffend, seine Mahnungen nach Fairness gerechtfertigt, allein – das gibt ihm nicht die Macht, seine Vorstellungen auch durchzusetzen: Mit Hilfe des Beirates der Geschwister-Scholl-Stiftung, dem eine Reihe enger Vertrauter von Aicher aus der Gründungszeit der HfG angehörten, gelingt es Aicher, eine im wesentlichen von seinen Vorstellungen bestimmte Verfassung durchzusetzen.58
Noch im April 1964, wenige Monate vor seinem eigenen endgültigen Ausscheiden aus der Ulmer Hochschule, beklagt Kalow sich bei Aicher: „Wenn die öffentliche Tonstudio-Einweihung seit Januar 63 nicht immer wieder verhindert oder verschoben worden wäre, dann hätten wir längst reichlich Studentenbewerbungen für diese Abteilung.“ 59
Im Folgenden schlägt Kalow einen weiteren Termin für die Tonstudio-Einweihung vor, außerdem macht er Vorschläge für einen potentiellen Nachfolger als Leiter der Informationsabteilung. Der Brief ist in einem freundlichen, sachlichen Ton gehalten und spiegelt Kalows rückhaltloses Interesse an der HfG und vor allem ihrem Informationszweig wider: „Über den Inhalt, das Programm dieser Abteilung waren wir uns immer einig, Herr Aicher. Es ist ja Ihre Idee. Nach wie vor ist eine solche Abteilung, in der Informationstheorie und Sprachpraxis in gegenseitiger Ergänzung und Durchdringung betreiben werden, höchst wichtig. (…) Hier i s t Pionierarbeit zu leisten, und die HfG wäre der gegebene Ort.“ 60

Nach der HfG
Im Juli 1963 erhält Gert Kalow eine feste Anstellung beim Hessischen Rundfunk als Leiter der Abteilung Literatur. Bis September 1964 lehrt er noch als Gastdozent an der HfG, schon in dieser Zeit nehmen die verbleibenden Studenten der Informationsabteilung in erster Linie und wahlweise an Unterrichtsveranstaltungen der Visuellen Kommunikation und der Filmabteilung teil. Ein Nachfolger für Kalow als Leiter der Informationsabteilung lässt sich – trotz nun wieder gemeinsamer Bemühungen von Aicher und Kalow – nicht finden. Hans Magnus Enzensberger hatte Kalow schon um 1962 geraten, sich endlich „von diesem verfahrenen Laden“ zu lösen,61 und lehnt selbst höflich ab, als Aicher ihn 1963 noch einmal zu einem längeren Ulm-Aufenthalt einlädt.62 Im Gespräch sind außerdem Uwe Johnson, Peter Rühmkorf, Walter Jens, Wolfgang Hildesheimer und Jean Améry – Otl Aicher greift bei diesen Überlegungen auch auf seine eigenen Verbindungen zu diesen Schriftstellern und zur Gruppe 47 zurück.63 Sein Interesse an einem Wiederaufbau der Abteilung bleibt ungebrochen, seiner Meinung nach wäre er „eng gekoppelt mit einem revidierten programm“. Das bisherige Konzept, schreibt Aicher im Mai 1964 an Gert Kalow, sei „ohne eine wissenschaftliche dimension zu kunstgewerblich“, er schlägt eine „unterbauung durch die heutigen informationswissenschaften vor.“ 64
Damit diskreditiert Aicher nicht nur Kalows Arbeit als Leiter und Dozent der Informationsabteilung der vergangenen Jahre als „kunstgewerblich“ (ein Begriff, der an der HfG eine geradezu beleidigende Konnotation hatte), sondern ruft erneut nach den Geistern, die er vertrieben hat – insbesondere Horst Rittel, der die HfG 1963 im Zorn verließ und dessen Thema gerade die nun geforderten Informationswissenschaften waren – und bestätigt Kalows Einschätzung der HfG, die als Institution „überwiegend bloße Idee oder ‚geniale Improvisation’“ sei.65
Im Mai 1965 wird Kalow Leiter der Abteilung „Abendstudio/Feature“ beim Hessischen Rundfunk, 1967 erscheint sein Buch „Hitler – Das gesamtdeutsche Trauma“, das er in der Zeit seines Rockefeller-Stipendiums erarbeitet hat. Er publiziert weitere Bücher, eine Reihe davon in Zusammenarbeit mit Alexander Mitscherlich,66 außerdem zwei Gedichtbände 67 und den Band Sind wir noch das Volk der Dichter und Denker?
Kalows Arbeit für die Abteilung Information, sein konstantes Werben für eine Ausbildung im Schreiben 68 trägt späte Früchte: 1974 erhält er einen Lehrauftrag an der HfG Offenbach, seit 1977 ist er dort Honorarprofessor. Die Offenbacher Hochschule, die nach ihrer Umwandlung von einer Werkkunst- in eine Kunsthochschule 1970 den Namen „Hochschule für Gestaltung“ übernahm, knüpfte mit dieser Berufung unmittelbar an die Ulmer Ideen an. Der Bereich „Sprache und Ästhetik“ wurde dort in den Fachbereich Visuelle Kommunikation integriert und besteht bis heute – seit 2012 unter dem Titel „Philosophie und Ästhetik“. 69
„Einige Ulmer Studenten haben mir den Spitznamen ‚der kleine Luther’ beigelegt. Ergo: hic sto“, schreibt Kalow im Dezember 1962 an Thorwald Risler.70 In seinem Bemühen zwischen den streitenden Parteien an der HfG zu vermitteln musste er erfahren, dass man nicht gleichzeitig Mediator und Akteur sein kann. Mit erstaunlicher Beharrlichkeit und der Bereitschaft, um der guten Sache willen persönlich zurückzustecken, lebte Kalow dennoch seine Ideale. Dabei geriet er unversehens in Konkurrenz zu Otl Aicher – beide hatten sie gute Verbindungen zur literarisch-intellektuellen Szene der jungen Bundesrepublik, beide waren sie erfüllt von dem Wunsch, eine neue Gesellschaft aufzubauen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Während Aicher mit derselben Kompromisslosigkeit, die ihn den Eintritt in die Hitlerjugend hatte verweigern lassen, seine Vorstellungen von Gemeinschaft durchzusetzen suchte und dabei eben nicht zurückschaute – anders als Kalow hatte er wohl auch nicht das Gefühl, schuldig geworden zu sein – fand Kalow seinen Weg gerade in der Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Aichers Antworten auf das Geschehene standen Gert Kalows Fragen gegenüber.
Sind wir noch ein Volk der Dichter und Denker? – 14 Essays führender Intellektueller jener Jahre, darunter Ernst Bloch, Walter Dirks, Hildegard Hamm-Brücher, Hermann Kesten, Hans Mayer und Arno Schmidt sind in dem Buch mit diesem Titel versammelt, das auf eine 1963/64 von Kalow betreute Vortragsreihe im Hessischen Rundfunk zurückgeht. „Beabsichtigt war kein Urteilsspruch, sondern ein Symposion, eine Übung im Gespräch, im besseren Umgang mit uns selbst. Selbstachtung und Selbstkritik schließen einander nicht aus, sondern: jede von beiden ist wertlos ohne die andere“, schreibt Kalow in seinem Nachwort.71
Hier erweist sich seine größte Begabung: Er vermochte es, Menschen zusammenzubringen, sie zu selbständigem Denken und geistigem Austausch anzuregen. An der HfG konnte er dieses
Talent nur bedingt zur Entfaltung bringen – in erster Linie in seinem Unterricht in der Abteilung Information. Er zeigte sich offen gegenüber seinen Studenten, interessiert an den unterschiedlichen Persönlichkeiten und bereit, jeden einzelnen in seiner Entwicklung zu fördern.
- - - - - -
- - - - - -